Oberschlesien war, ist und bleibt ein historisch umkämpfter Raum, in dem sich deutsch-schlesische, polnisch-schlesische und »schlonsakische« (gewissermaßen: schlesisch-schlesische) Elemente mal berühren, mal miteinander verschmelzen, häufig aber auch abstoßen.
Im Gegensatz zu dem von deutschen Einwohnern nach dem Zweiten Weltkrieg fast gänzlich brutal bereinigten Niederschlesien leben zwischen Oppeln und Beuthen, Ratibor und Kreuzburg noch heute über 100 000 Deutschsprachige. Ihr Kampf um nationalkulturelle Selbstbehauptung, der nicht chauvinistisch ist und keinerlei Bruch mit Warschau fordert, findet in der Bundesrepublik Deutschland kaum Gehör.
Gewiß: Ab und an lassen sich Politiker von CDU und CSU auf Treffen der deutschen Minderheit in Polen blicken und betonen deren wichtige inter-nationale Brückenbauerfunktion; ab und an versendet ein AfD-Mann Pressemitteilungen zur kulturpolitischen Lage der verbliebenen Deutschen in Oberschlesien; ab und an werden Dokumentationen ausgestrahlt, die an oberschlesische Besonderheiten erinnern.
Aber kein prominenter Politiker wagte sich 2022 fundiert dazu zu äußern, als die polnische Rechtsregierung den garantierten Deutschunterricht quasi halbierte, und in der bundesdeutschen Kulturszene, zumal in der Literatur, findet eine »mutige« Auseinandersetzung mit dem streitbaren oberschlesischen Sujet, das ein so tagesaktuelles wie dramatisch-reizvolles bleibt, ohnehin nicht statt.
Obwohl Oberschlesien der BRD nicht nur geographisch so nahe ist, scheut man folglich diese historisch eher »verminte« Thematik. Ferne nationale Minderheiten in China, Syrien oder Myanmar erhalten mehr Aufmerksamkeit. Da kommt es der oberschlesischen »Sache« zupasse, daß mit dem polnischen Autor Szczepan Twardoch »der bekannteste zeitgenössische Schriftsteller seines Landes« (1) die fortwährende literarische Verarbeitung oberschlesischer Geschichte zu einer seiner wichtigsten Werkaufgaben gemacht hat.
Twardoch, der als 1979 Geborener zu den jüngeren Granden der polnischen Literatur zählt, eckt damit an. Vor allem tut er dies in seinem Heimatland, wo immer noch antideutsche Ressentiments (je nach aktueller Stimmungs- und Politiklage) den »Schlesiendiskurs« erschweren. Twardoch ficht das nicht an. In einem ausführlichen Interview mit der Berliner Zeitung bezieht er dazu Stellung: »Die polnischen Vorurteile sind mir scheißegal. Polnische Vorurteile sind ein Problem der Polen, nicht meines. […] Ich bin Schriftsteller und interessiere mich für mein literarisches Werk. Und nicht, ob einige Polen oder die Schlesier mich noch mehr oder weniger ablehnen. Was kümmert mich das?« (2)
Obschon Twardoch als feinsinniger und wortgewaltiger Literat reüssiert und entsprechend Preis um Preis verliehen bekommt, neigt er zu entsprechend provokativen Gesten; hinzu kommen die bisweilen drastisch-derben Dialoge in seinen Romanen. Der Bekenntnis- und Abstammungs-Schlesier (geboren in Knurow, wohnhaft in Pilchowitz bei Gleiwitz) errichtet seiner Hajmat aber vor allem Denkmal um Denkmal; einer Heimat, die, so Twardoch in seinen persönlichen Betrachtungen Wale und Nachtfalter, »auf ganz unterschiedliche Art« schön sei, so »im roten Ziegelbau des deutschen Expressionismus von Hindenburg, im rohen Putz des polnischen Modernismus von Kattowitz«. (3)
Twardoch erfaßt die historische Zerrissenheit ebenso wie die oberschlesische Sondersituation als ehemalige Industrieherzkammer Ostmitteleuropas: »Erhaben ist die Landschaft der demobilisierten totalen Mobilmachung, die Landschaft abgestorbener Fabriken, Hütten und Bergwerke wirken wie Skelette uralter Leviathane, die Stahldrähte in den Betonschollen wie die ewigen Rippen des Blauwals, die den nördlichen Göttern der Strände von Spitzbergen drohen.« (4)
Das Aufgreifen der Wendung von der »totalen Mobilmachung« ist im übrigen kein terminologischer Zufall: Twardoch bekennt in erwähntem Werktagebuch, bereits aus O. S. nach Wilflingen gepilgert zu sein, weil er jenen Genius loci aufsuchen wollte, an dem Ernst Jünger ein halbes Jahrhundert lang wirkte, denn dieser sei immerhin »ein Autor, dessen Bücher für mich wichtig sind«. (5)
Mit einem weiteren Autor, den man bei einem »Pop-Literaten« und zeitgenössischen Erfolgsautor nicht zwingend als unmittelbare Referenz erwarten würde, dem US-amerikanischen Wahlitaliener Ezra Pound, leitet Twardoch seinen Debütroman ein. (6) Morphin, wie er in der wörtlichen Übersetzung des polnischen Morfina (2012) heißt, erschien 2014 in Deutschland bei Rowohlt, (7) wo seither alle deutschsprachigen Publikationen Twardochs beheimatet sind, die wiederum alle vom talentierten Übersetzer Olaf Kühl übertragen wurden.
Im preisgekrönten Werk geht es hart zur Sache – und wie immer bei Twardoch spielt eine besondere deutsch-polnische Verquickung die Schlüsselrolle. Im Falle Morphins nimmt diese Leutnant Konstanty Willemann ein. Der Sohn eines Deutschen und einer Polin ist, ganz unheroisch, ein Lebemann und genießt Warschau in vollen Zügen: Frauen, Drogen, Rausch. Die deutsche Besatzung ab Ende 1939 durchkreuzt dieses unstete Leben eines Dandys; er wird eher durch so ironische wie private Zufälle in den Widerstand gegen die Besatzungsmacht katapultiert.
Twardoch zeichnet aber kein Porträt einer heldenhaften nationalpolnischen Insurrektion, sondern läßt – wie in späteren Werken – alles miteinander verschmelzen: die polnische Halbwelt der Spelunken und der Drogenszene mit den Aktivisten der Nationaldemokratie, radikale Nationalisten mit dem untergehenden Adel, diverse sozialistische Gruppen mit dem Gangstermilieu – oft heißt es eher »Schlagring, Messer, Browning« (8) als Familie, Volk und Vaterland.
Der Protagonist gerät gleichwohl in den bizarren Strudel aus Verschwörung und Agententätigkeit; als deutscher Muttersprachler wird er von polnischen Revolutionären instrumentalisiert und für Kurierdienste eingespannt. Twardoch, und das wäre der einzige Einwand gegen seinen persönlichen Stil, trägt dick auf, manchmal zu dick. Natürlich muß Willemanns polnische Mutter ihren grotesken Auftritt als neudeutsche Kollaborateurin der Besatzungsmacht erhalten, sein deutscher Vater als innerlich labiler Soldat in Warschau.
Die »Tatsache der Existenz von Nationalitäten und seine Zerrissenheit zwischen diesen Nationalitäten« (9) werden für Konstanty Willemann zum bestimmenden Thema. Dabei ist es nicht so, daß die Drogen und der exaltierte Genuß aus der Vorkriegszeit unter den Tisch fallen würden; Konstanty bleibt einer Form des Resthedonismus verhaftet. Doch die Flucht in den Morphin- und Alkohol-Rausch (und in diverse Affären) ist keine Flucht vor der Brutalität der Geschichte; diese treibt ihn schier in den Wahnsinn.
Twardoch verzichtet bei der Verarbeitung der deutsch-polnischen(-jüdischen) Geschichte des ausgehenden Jahres 1939 vollständig auf Parteilichkeit. Eigentlich kommt keine Seite gut weg. Ob deutscher, polnischer oder auch englischer Chauvinismus im Nationalcharakter – Twardoch seziert die völkerpsychologischen Ticks der Kriegsakteure so klug wie schonungslos. Am Ende des identitätspolitischen Fiaskos, in dem der Protagonist im Laufe der Handlung zunehmend versinkt, steht die bittere Erkenntnis, daß dieser sich weder als »ganzer« Pole oder Deutscher verstehen kann, sondern vor allem als »Verschwender, Hurenbock und Morphinist«. (10) Anklänge an Ausbrüche von Louis-Ferdinand Céline sind dabei ebenso zu diagnostizieren wie Anflüge von expressionistischem Wahnsinn – der Plot Twardochs mündet in ein einzigartiges Finale aus Kitsch und Krieg.
Zumindest auf den Kitsch verzichtet Twardoch in seinem 2014 in Polen und 2016 in Deutschland publizierten Roman Drach. (11) Auf den Krieg hingegen kann der Autor nicht verzichten, beschreibt er doch die konfliktreiche oberschlesische Identitätsgeschichte anhand von vier Generationen einer deutsch-polnisch-schlesischen Familie. Der Leser wird mehr gefordert als beim Thriller- und Action-ähnlichen Morphin; denn Drach ist ein monumentaler Geschichtsroman mit chronologischen Sprüngen und einer vielschichtigen Handlung.
Hinzu kommt der Versuch Twardochs, dem Leser das »Wasserpolnische« oder »Schlonsakische« näherzubringen; entsprechende Dialoge rufen dieses eigenständige Idiom wortreich in Erinnerung. Das, was Twardoch in seinem Tagebuch notierte – nämlich daß für viele Oberschlesier während der mal deutschen, mal polnischen Regierungsphase »eine kulturelle Fremdheit an die Stelle der anderen« (12) trat –, ist das Leitmotiv des Romans. Polnischsprachige Deutsche, die für Kaiser und Reich ins Feld ziehen; deutschsprachige Schlesier, die 1921 für die »aufständische« (also: polnische) Option votieren; schlonsakische Bergarbeiter, die sich nicht entscheiden wollen zwischen deutschen Herren und polnischen Pans, weil ihr Leben so oder so den Zwängen des Schichtsystems unter Tage unterworfen ist; nationalkulturell gespaltene Familien, in denen Deutsch, Polnisch und Schlonsakisch ebenso variieren wie das identitäre Bekenntnis oder Nichtbekenntnis der Familienangehörigen; schließlich das blutige Finale im Januar 1945, als der Furor der Sowjetarmee über Gleiwitz und O. S. hereinbricht und viele bisherigen Widersprüche im Vernichtungskampf ihren Sinn verlieren: Twardochs Werk ist epochal, ist der wohl wichtigste und beste Oberschlesienroman seit 1945.
2016 folgte dann in Polen Twardochs Unterweltbuch Król, das zwei Jahre später auch auf deutsch als Der Boxer erschien. (13) Es erinnert stärker an Morphin als an Drach, denn erneut ist der Schauplatz Warschau, diesmal allerdings im Jahre 1937. Hauptfigur ist der jüdische Starboxer Jakub Shapiro, der eine rasante Karriere in der kriminellen Szenerie hinlegt, so daß er zum König – daher der Originaltitel Król – dieser Parallelgesellschaft wird. Auch in diesem herausfordernden Roman, in dem die hemmungslose Gewalt nur vom nicht minder hemmungslosen Drogenkonsum überfrachtet wird, verzichtet Twardoch nicht auf historisch-politische Bezüge: Die polnischen Nationalradikalen der »Falanga« treffen auf jüdische und polnische Sozialisten aller Couleur, Demonstrationen und Bordellbesuche sorgen für Aufregung und oftmals Krawall.
Die geistige Tiefe, die bei Drach hervorzuheben ist, fehlt dem Boxer hingegen trotz diverser Bemühungen. Zuviel Derbheit und Terror schaden phasenweise der Handlung von Król, die ihre Fortsetzung gleichwohl im 2018 veröffentlichten Królestwo (Königreich) findet, das in der deutschen Fassung als Das schwarze Königreich firmiert. (14) Protagonist ist weiterhin Jakub Shapiro. Doch sein Glanz als Mafiapate ist verblichen, als die Deutschen Warschau einnehmen und die Besatzungszeit beginnt, die schließlich im Ghetto ihre eliminatorische Form finden wird. Shapiros Geschichte wird hier von seiner Dauergeliebten und einem seiner Söhne im Wechsel fortgeschrieben.
Bei aller Übertreibung und – wiederum – Brutalität: Das Buch ist ein Meisterwerk der Misanthropie. Ob polnischer Antisemitismus (weswegen das Buch für polnische Leser eine größere Provokation sein dürfte) oder Kollaboration im Warschauer Ghetto, deutsche Verbrechen und jüdische Schmuggler – Twardoch bringt alles zusammen und verdichtet es zu einem gewaltigen und gewaltsamen Panorama aus Blut und Denunziation. Harte Kost, bei der der Autor Einzelschicksale anhand kollektiver Traumata in die Vorstellungswelt seiner – aufgrund des rasanten wie erbarmungslosen Plots: stark geforderten – Leser hievt.
Zurück von Warschau nach Oberschlesien geht es erst im jüngst veröffentlichten Roman Demut, der im polnischen Original 2020 als Pokora erschien (nach dem Nachnamen der Hauptfigur). (15) Die historische Kulisse wird diesmal durch den Ersten Weltkrieg und seine Nachwehen bestimmt. Alois Pokora, ein Bergmannssohn aus dem Gleiwitzer Hinterland, erwacht als verwundeter Soldat im revolutionären Berlin des Herbstes 1918 in einem Krankenhaus. Er erinnert sich an früher, an seine Kindheit in einer ärmlichen Großfamilie, an seinen Vater (als von den Herren der Gruben geprügelten Bergmann: ein »unbewußter Sozialist« und »finsterer Konservativer« zugleich (16), an seine oberschlesische Heimat, an die erste große Liebe, an den Krieg. Der ist beendet und auch nicht.
In Berlin herrschen nach dem unrühmlichen Abgang Kaiser Wilhelms II. an vielen Orten materielle Not und ideeller Bürgerkrieg. Letzterer schlägt bald in tatsächliche Kampfhandlungen um. Pokora gerät in den Strudel aus Linksradikalismus, Freikorps und ideologisierter Gewalt; rasender Zorn aller beteiligten Akteure erscheint als zentraler Gegenstand der Handlung.
Hinzu kommt aber ein tragikomisches Element, das bei vorhergehenden Twardoch-Romanen fehlt: Alois Pokora ist kein Brutalo wie Jakub Shapira (aus Der Boxer und Das schwarze Königreich), kein Dandy wie Konstanty Willemann (aus Morphin): Pokora ist ein unglücklicher Pechvogel, den es über zum Teil absurde Wege zurück ins Oberschlesische führt, wo ihn – erwartbar – die Vergangenheit einholt und alte Konflikte neue Formen annehmen. Modische »Happy-Ends« sind indes Twardochs Sache nicht, und so findet Pokora heimgekehrt weder Frieden noch Liebe, sondern wiederum Bürgerkrieg, diesmal zwischen polnisch- und deutschsprachigen Oberschlesiern unter Aufsicht der Franzosen und unter Beteiligung von Freikorps auf der einen und polnischen Hardlinern auf der anderen Seite, wobei Twardoch die Konfliktlinie einmal mehr mitten durch die deutsch-polnisch-schlonsakische Familie des Protagonisten verlaufen läßt.
In dieser entscheidet sich jeder für seine eigene Wahrheit (oder für gar keine), und einmal mehr stellt Twardoch die oberschlesische Identitätsproblematik in den Mittelpunkt seines Schreibens: O. S. war, ist und bleibt Objekt der Geschichte, kein Subjekt (auch wenn das die gespaltene Autonomiebewegung im heutigen Oberschlesien weiterhin ändern möchte). Das Ende des Werks ist dabei so verrückt wie vorhersehbar – und läßt Twardoch ausreichend Spielraum für eine Fortsetzung.
Wenn Szczepan Twardoch über sich selbst schreibt, er sei als Autor und Persönlichkeit »kein Bewohner der Wirklichkeit«, (17) dann darf man dies bezweifeln. Im Gegenteil: Twardoch ist ein hochtalentierter Chronist der damaligen wie heutigen Wirklichkeit, die in seiner historisch umkämpften Heimatregion oftmals dermaßen wunderlich daherkommt, daß sie schon wieder wahr erscheint.
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(1) – In: taz vom 17. / 18. Februar 2018.
(2) – Witold Mrozek: »Interview mit Szczepan Twardoch«, in: Berliner Zeitung vom 10. April 2022.
(3) – Szczepan Twardoch: Wale und Nachtfalter: Tagebuch vom Leben und Reisen, Berlin 2019, S. 57.
(4) – Ebd.
(5) – Ebd., S. 127.
(6) – Beziehungsweise miteinem Poundschen Reim: »And the days are not full enough / And the nights are not full enough / And life slips by like a field mouse / Not shaking the grass.«
(7) – Szczepan Twardoch: Morphin. Roman, Berlin 2019.
(8) – Ebd., S. 140.
(9) – Twardoch: Morphin, S. 271.
(10) – Ebd., S. 437.
(11) – Szczepan Twardoch: Drach. Roman, Berlin 2020.
(12) – Twardoch: Wale und Nachtfalter, S. 157.
(13) – Szczepan Twardoch: Der Boxer. Roman, Berlin 2020.
(14) – Szczepan Twardoch: Das schwarze Königreich. Roman, Berlin 2022.
(15) – Szczepan Twardoch: Demut. Roman, Berlin 2022.
(16) – Ebd., S. 63.
(17) – Twardoch: Wale und Nachtfalter, S. 246.