Im Gegenteil: Die Fronten haben sich verfestigt, weil jede Seite ihren Einsatz von Menschen und Material nur noch mit einem Sieg rechtfertigen kann. Was von den Russen als „militärische Sonderoperation“ gestartet wurde, die auf eine blitzkriegartige Einnahme von Kiew und der Ostukraine abzielte, ist zu einem zähen Kampf um wenige Meter urbanen Geländes geworden.
Auch wenn die Russen derzeit rund 18 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets kontrollieren, bleibt unklar, ob sie ihre Kriegsziele erreichen werden. Eine neutralisierte Ukraine ist in weite Ferne gerückt, und selbst die Annektierung und Befriedung der besetzten Gebiete ist angesichts des anhaltenden Widerstands der Ukraine unter den derzeitigen Bedingungen kaum möglich.
Für die Ukraine stellt sich die Lage kaum anders dar. Die Rückeroberung der besetzten Gebiete ist selbst durch die massive Militärhilfe der Nato nicht wahrscheinlicher geworden.
Zudem kommt die Ukraine langsam an den Punkt, an der nicht nur der Nachschub mit Waffen und Munition ein Problem darstellt, sondern sich auch das Fehlen von hinreichend ausgebildeten Soldaten bemerkbar macht. Offensiven kommen nicht voran, der Kampf um geringe Landgewinne kostet unersetzbare Menschenleben.
Deutlich wird also, daß in der Ukraine eine Pattsituation entstanden ist, die beide Seiten nicht zufriedenstellen kann. In solch einer Situation gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man verstärkt seine militärischen Anstrengungen, was offensichtlich beiden Seiten nicht ohne weiteres möglich ist, oder man sucht nach einer diplomatischen Lösung, was derzeit von beiden Seiten nicht gewollt wird.
Die rhetorische Aufrüstung hat auf beiden Seiten ein Maß angenommen, das Friedensverhandlungen zunehmend erschwert. Von Putin dürfte der Westen nichts anderes erwartet haben, da er als Inkarnation der falschen Werte gilt. Was den Westen selbst betrifft, könnte es anders aussehen, nähme er die vorgeblichen Werte ernst, für die er schon so manchen Waffengang angetreten hat. Aber auch hier wird fröhlich eskaliert, bis hin zu Träumen vom „totalen Sieg“ über Rußland.
Dieses Fehlen jeglicher diplomatischer Anstrengung auf westlicher Seite ist ebenso erstaunlich wie das offensichtliche Fehlen einer Strategie Rußlands, wie man aus diesem Krieg wieder heraus kommen könnte. Denn: einen totalen Sieg wird es für keine Seite geben, so daß man sich irgendwann Gedanken über eine Nachkriegsordnung machen muß, in der Russen und Ukrainer gleichermaßen sicher und souverän existieren können.
Daß dieses Problem nicht erst mit dem Verlust der militärischen Dynamik in der Ukraine offensichtlich geworden ist, belegt ein Ende letzten Jahres erschienenes Buch, das den Titel Perspektiven nach dem Ukrainekrieg trägt und dessen Beiträge das Resultat einer Tagung der eher unbekannten Parmenides Stiftung im Juni letzten Jahres sind. Es betrachtet den Ukrainekrieg und die Möglichkeiten einer Nachkriegsordnung aus philosophischer, juristischer, politikwissenschaftlicher und militärischer Perspektive.
Der hier schon mehrfach erwähnte General a.D. Erich Vad, der es als einer der wenigen pensionierten Spitzenmilitärs wagt, einen eigenen Blick auf die Vorgänge in der Ukraine zu werfen, plädiert in seinem Beitrag für die Rückgewinnung des Primats der Politik. Das klingt zunächst wenig spektakulär, ist aber in einer Zeit, in der ganze Scharen von Wehrdienstverweigerern den Bellizismus entdeckt haben, eine sympathisch konservative Position
Im Hintergrund steht die Frage, bis zu welchem Preis man bereit ist weiterzukämpfen und die weitgehende Verwüstung der Ukraine in Kauf zu nehmen. Für Vad hat die bekannte Aussage von Kissinger, den Russen die Kontrolle über die Gebiete mit einem hohen Anteil russischer Bevölkerung zu überlassen, um den Konflikt zu entspannen, nach wie vor Gültigkeit.
Aus dem Getreideabkommen, das Ende Juli 2022 mit Rußland abgeschlossen wurde, schließt Vad auf eine grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft bei Putin. Allerdings:
Ohne Gebietsabtrennungen der Ukraine wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr gehen. Diese Chance, die in den ersten Wochen des Krieges noch bestand, wurde vornehmlich durch die politisch blinde militärische Eskalation und Kriegsrhetorik verpaßt. Wir müssen mit Wladimir Putin früher oder später an den Verhandlungstisch, so schwer uns das fallen mag.
Hinter dieser Aussage steckt die Einsicht, daß Kriege im Atomzeitalter nicht militärisch, sondern nur politisch beendet werden können. Hinzu kommt das, was Carl Schmitt als die „Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“ bezeichnet hat, die dann erfüllt ist, wenn man seinen militärischen Gegner als Kriminellen betrachtet, zu dessen Vernichtung jedes Mittel recht ist.
Vad erinnert hier an das Versailler Diktat, das in diesem Sinne erlassen wurde und den nächsten Krieg schon enthielt. Deswegen hält Vad es für geboten, die Ukraine dabei zu unterstützen, einen Diktatfrieden Putins zu verhindern. Dafür braucht es parallellaufende diplomatische Initiativen.
In der jetzigen Kriegsrhetorik in Deutschland sieht Vad eher das Potential einer Selbstzerstörung Europas, die zudem in einem merkwürdigen Verhältnis zur nichtvorhandenen Wehrbereitschaft der Deutschen steht:
Hier zeigt sich wieder jene deutsche Hypermoral, die man oft im politischen Diskurs beobachten kann, wenn es um Krieg und Frieden geht […]. Das Umschlagen von jahrzehntelanger pazifistischer Taubenmentalität zu kampf- und kriegsbereiten Falkenauftreten ohne jede Kenntnis von Krieg – so etwas stimmt sehr bedenklich.
Denn, weder können noch wollen die Deutschen für die Ukraine in den Krieg ziehen. Daher:
Es ist auch ein Stück weit verlogen, die Opferrolle der jungen ukrainischen Kämpfer dankend anzunehmen, ihnen aber lediglich mit vollmundiger Kriegsrhetorik und Waffenlieferungen beizustehen.
Protagonisten dieser Entwicklung zum Bellizismus sind die Grünen, die einst als pazifistische Partei angetreten sind, spätestens im Kosovokrieg ihre diesbezügliche Unschuld verloren und mittlerweile die erste Reihe der Scharfmacher bilden.
Antje Vollmer, die lange für die Grünen im Bundestag saß, leidet unter diesem Zustand und versucht, in ihrem Beitrag auf die Gründe zu kommen, die vor allem die junge Generation der Grünen zu solch hervorragenden Transatlantikern gemacht haben. Ihre These:
Die Ursache dieser kontroversen Sichtweisen [auf den Ukrainekrieg] liegt in der unterschiedlichen Beurteilung der Frage, welche politische Haltung entscheidend zur großen echten Zeitenwende der Jahre 1989/1990 und zum Zusammenbruch des Sowjetsystems geführt hat.
War es die Überlegenheit der westlichen Werte und die Hochrüstung aufgrund wirtschaftlicher Kraft, oder war es die Entspannungspolitik mit ihren Verhandlungen und der Aussicht irgendwann ein gemeinsames Haus Europa gründen zu können?
Die Grünen haben sich für die erste Antwort entschieden und tragen damit eine Mitschuld am Ausbruch des Ukrainekriegs, der nur durch diplomatische Kompromisse hätte verhindert werden können. Auch wenn Vollmer sich in ihrem Beitrag stellenweise realpolitisch gibt, bleibt sie doch dem grünen Idealismus verhaftet, wenn sie den Menschenrechts-Bellizismus der Grünen zuletzt deswegen verurteilt, weil er die Grünen ihre Hauptaufgaben vergessen lassen habe: „die Welt zu retten“.
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin sieht in der Bewertung des Ukrainekriegs die traditionellen Fronten von Realismus und Idealismus vertauscht, weil die Realisten für Mäßigung eintreten und die Idealisten der Eskalation das Wort reden. Er liefert auch gleich die Auflösung dieses Widerspruchs:
Sowohl Realismus wie Idealismus in der Politik generell und in den internationalen Beziehungen speziell können eine eher pazifistische oder eine eher bellizistische Fasson annehmen.
Als Beispiel des bellizistischen Idealismus liegt der humanitäre Interventionismus nahe, den die USA nach Ende des Kalten Krieges etablierten und den sie auch im Ukrainekrieg zur Begründung anführen. Allerdings setzte ein militanter Idealismus voraus, so Nida-Rümelin, daß es keine Geopolitik mehr gebe, sondern nur noch um die Durchsetzung der Menschenrechte gehe. Aber:
In der Ukraine werden nicht westliche oder europäische Werte verteidigt, sondern die nationale Souveränität dieses Landes und die beabsichtigte stärkere Anbindung an den Westen gegen einen Aggressor, der diese unterbinden will.
Es geht also doch um Geopolitik, die einzig von rechtlich privilegierten Großmächten betrieben werden kann, weil diese sich weder der internationalen Rechtsordnung, noch einer anderen Macht unterwerfen müssen. Das sind die drei gegenwärtigen Weltmächte USA, Rußland und China.
Angesichts dieser Beharrlichkeit geopolitischer Interessenlage ist es interessant, abschließend einen Blick auf die fünf Szenarien für eine Nachkriegsordnung zu werfen, die Nida-Rümelin in seiner Einleitung zu dem Buch skizziert hat.
Der Ukrainekrieg könnte zu einer rigiden bipolaren Blockbildung führen, bei der auf der einen Seite die Amerikaner und ihre Verbündeten und auf der anderen Seite Rußland mit China und Indien stehen könnte, wobei unklar bleibt, wie sich Afrika positionieren würde. Die Folgen wären Deglobalisierung und ein neuer Kalter Krieg (im besten Fall).
Die bipolare Blockbildung könnte sich auch weniger rigide gestalten, so daß die ökonomische Verflechtung erst langsam aufgelöst wird, da beide Seiten davon profitieren.
Die Annäherung von Rußland und China zu einem Block ist aber keineswegs sicher, die Rivalität könnte bestehen bleiben, was die Möglichkeit einer multipolaren Welt eröffnen würde. Voraussetzung wäre die Integration Rußlands in eine Sicherheitsarchitektur Europas, das allerdings selbst so schlagkräftig sein müßte, daß es auf Augenhöhe mit Rußland und den USA verhandeln kann.
Als Szenario vier und fünf nennt Nida-Rümelin die „Globale Zivilgesellschaft“ und eine an Kants Entwurf Zum ewigen Frieden angelehnte Friedensordnung, die beide ein Ende der Geopolitik voraussetzen, was gegenwärtig wohl weder Realisten noch Idealisten für wahrscheinlich halten.
Mit solchen Fernzielen ist zudem für die gegenwärtige Lage in der Ukraine nichts gewonnen. Hier braucht es jemanden, der den gordischen Knoten aus westlicher Doppelmoral und östlicher Verhärtung durchschlägt. Rhetorische Abrüstung ist das einzige, was Zeitungsleser und Blogforisten dazu beitragen können.
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Perspektiven nach dem Ukrainekrieg. Freiburg: Herder 2022, 144 Seiten, 16 Euro – hier bestellen.
MARCEL
Prägnante Rezension!
Vielleicht ist eine Art Zypernlösung drin.
Was bedenklich bleibt, die Eskalation findet in einer Epoche des (inneren) westlichen Niedergangs statt, die Hysterie (grell sichtbar geworden an der Sabotage gegen Deutschland) erklärt sich auch von dorther.
Bringt man im Niedergang die Souveränität auf zu einem Frieden bzw. stabilen Waffenstillstand?