Was viele Beobachter schon länger vermuteten, wurde nun durch ein Interview von Sarah Wagenknecht in der Rheinpfalz-Zeitung bestätigt: Die Bundestagsabgeordnete und Buchautorin wird bei der kommenden Bundestagswahl 2025 nicht mehr für die Linkspartei antreten. Ihr fehle es an Fantasie, wie der tiefe Graben zwischen ihrer Person und der Parteiführung überwunden werden solle.
Pläne für eine mögliche Parteigründung ließ sie jedoch abermals offen. In der Politik gilt allerdings die ungeschriebene Regel, daß die Floskel „weder Bestätigung noch Dementi“ am Ende meist doch auf ersteres hinausläuft. Aus dem Wagenknecht-Umfeld wurden bereits Informationen bekannt, daß sie zur Europawahl 2024 bereits mit einer eigenen Liste antreten werde. Man kann also davon ausgehen, daß im Team Wagenknecht bereits umfangreich analysiert und sondiert wird.
Das patriotisch-rechte Milieu reagiert gespalten auf die Pläne einer möglichen „Liste-Wagenknecht“. Für die einen verbindet sich die Hoffnung einer möglichen Querfront-Allianz, die das kritische Protest- und Widerstandslager sowohl von den linken und rechten ideologischen Polen abdecken könnte und somit dem Anti-Establishment Lager mehr Flexibilität und Druckstärke verleiht.
Die anderen sehen eine hypothetische Wagenknecht-Partei eher als Gefahr für die Alternative für Deutschland, die vor allem das exklusive AfD-Protestwählerpotential im Osten aufspalten und kannibalisieren könnte.
Über die politisch-thematische Einordnung der Person Sarah Wagenknecht hat Kollege Benedikt Kaiser an anderer Stelle schon einige Einblicke gegeben. Zurecht kritisiert er in den sozialen Netzwerken auch, daß die Verweise auf Wagenknechts kommunistisch-sozialistische Überzeugungen intellektuell doch etwas mager sind und nicht ausreichen werden, wenn man sich hier einem möglicherweise kommenden politischen Konkurrenten stellen will.
Die Attraktivität von Wagenknecht dürfte sich weniger aus ihren kommunistischen Grundüberzeugungen ableiten, als vielmehr aus ihrem geschickten populistischen Instinkt, der Wählerpotentiale von rechts als auch links ansprechen kann.
Wagenknecht ist unter den Beliebtheitsrankings der Politiker seit vielen Jahren unter den Top 5. Ihre Bücher sind allesamt Bestseller und die Veranstaltungssäle bei ihren Vorträgen und Lesungen sind stets gut gefüllt. Sie ist die Linken-Politikern mit den meisten Talkshowauftritten und weiß auch innerhalb ihrer eigenen Partei immer noch ein solides Netzwerk hinter sich. Laut einer INSA-Befragung ist sie selbst unter AfD-Anhängern hinter Alice Weidel und vor Tino Chrupalla sehr beliebt.
Wagenknecht ist die entscheidende Chiffre des innerparteilichen Konflikts der Linken, rund um die kommende Ausrichtung der Partei, die zwar aufgrund ihrer strukturellen West-Schwäche nie große Sprünge auf Bundesebene machen konnte, aber immerhin in Ostdeutschland auf ein gefestigtes Protestwählermilieu zurückgreifen kann.
Dieses Protestwählermilieu ist nun jedoch fast vollständig in der AfD aufgegangen. Und so ziehen die beiden Parteilager der Linken teilweise völlig unterschiedliche Schlüsse aus dem Exodus der Linkspartei-Wählerschaft. Während der Parteivorstand der Linken sich tendenziell in Richtung der urbanen und postmateriellen Großstadtmilieus orientiert, will Wagenknecht wieder an die linken Traditionsmilieus innerhalb der klassischen Arbeiterschichten anknüpfen.
In den letzten Monaten erschienen gleich mehrere Umfragen von verschiedenen Instituten, die sich mit dem Wählerpotential einer möglichen Wagenknecht-Liste auseinandersetzten. Wagenknecht trifft einen Nerv in der deutschen Wählerschaft. 19% der deutschen Wähler können sich laut Umfrage von Wahlkreisprognose vorstellen, eine Liste-Wagenknecht zu wählen.
Aufgeschlüsselt nach Wählergruppen ist der Anteil unter den AfD-Anhängern mit 60% dabei sogar am größten, gefolgt von Linkspartei (50%) und FDP (26%).
In einer Forsa-Umfrage aus dem November 2022 konnten sich sogar zwei Drittel der AfD-Anhänger vorstellen, auch einer Wagenknecht-Partei ihre Stimme zu geben. Derartige Zahlen werden natürlich genußvoll von den Schlagzeilenproduzenten aufgegriffen. Sie erwecken den Eindruck von neuen und spannenden politischen Bewegungsdynamiken und Verschiebungen.
Dennoch ist insbesondere bei Potentialanalysen Vorsicht geboten, denn meist reichen sie zwar, um politische Lagerstimmungen zu messen, aber echte Wahlabsichten lassen sich nur in einem sehr geringen Maße ableiten.
In einer gewissen Regelmäßigkeit wurden in der Vergangenheit immer wieder auch Wählerpotentiale für eine konservative Partei gemessen, die sich in einem imaginierten Freiraum zwischen Unionsparteien und AfD positionieren würde. Auch dort werden stets Zahlen zwischen 15–20% ausgewiesen.
Wo derartige Parteien aktuell stehen, die sich in dieser Lücke bewußt positionieren wollen, können wir anhand von Projekten ehemaliger AfD-Chefs wie Lucke (LKR), Petry (Die Blauen) oder Meuthen (Zentrumspartei) beobachten: Zwischen den Potentialräumen und einer festen Wahlabsicht liegen immer noch einige weitere strukturelle Vermittlungsebenen wie langfristige Bindungen, Milieuzugehörigkeiten, Parteiidentifikation oder auch taktische Motivlagen.
Das erweiterte Wählerpotential von CDU, Grünen und SPD liegt aktuell jeweils zwischen 35–50%. Alle 3 Parteien können jedoch nur etwa die Hälfte davon tatsächlich abrufen.
Wagenknechts politische Kalkulation ist seit langem bekannt. Unter der Prämisse, daß die AfD soziostrukturell genau das Klientel mobilisiert, was viele Jahre als Kernzielgruppe linker Parteien angesehen wurde, muß die politische Linke in Deutschland zu ihren Wurzeln als Vertretung der Arbeiter und Sozialschwachen zurückkehren und wieder als abgegrenzte Kraft gegenüber den Parteien der linken Mitte wahrgenommen werden.
Auch im Hinblick auf psychologische und ideologische Einstellungsmuster liebäugelt Wagenknecht in ihrem Buch Die Selbstgerechten mit einem eher ungewöhnlichen Terminus wie dem „Linkskonservatismus“.
Die Verifizierung von Wagenknechts Hypothesen müsste also zumindest voraussetzen, daß die AfD mitursächlich sei für den Kollaps innerhalb der Wählergruppen der Linkspartei. Es gibt inzwischen reichlich Daten- und Studienmaterial für die Vergleiche von Linkspartei- und AfD-Wählerschaften. Ähnlichkeiten dieser beiden Gruppen wurden in der Studienliteratur vor allem bei den sozioökonomischen Statuslagen und wirtschaftlichen Selbsteinschätzungen identifiziert.
Sowohl Linke als auch AfD mobilisieren am stärksten innerhalb der statusbedrohten unteren Mittelschicht in den östlichen Bundesländern, die sich um die eigene als auch allgemeine wirtschaftliche Lage stärker sorgt als andere Wählergruppen. Beide Parteien greifen vor allem im Osten auf ein unbestimmtes, ideologisch ungebundenes und zuweilen diffuses Protestwählermilieu zurück.
In einer Studie von Kai Arzheimer konnte gezeigt werden, daß die wachsende Intensität einer politischen Unzufriedenheit mit dem politischen System durchaus mit einer erhöhten Wahlwahrscheinlichkeit für die Linkspartei als auch für die AfD einhergeht.
In zumindest abstrakten Protestwahlmotiven lässt sich nachweisen, daß die AfD und die Linkspartei sowohl soziostrukturell als auch einstellungsbezogen auf ähnliche Milieus zugreifen.
Schaut man sich jedoch die konkreten inhaltlichen Policy-Dimensionen an, so werden die Differenzen zwischen Linkspartei und AfD-Wählern schon deutlicher. Vor allem in Einstellungsfragen zur Migrationspolitik wird die Exklusivität der AfD-Wählerschaft am sichtbarsten. Während sich mit einer zunehmenden Ablehnung der Zuwanderung auch die AfD-Wahlwahrscheinlichkeit signifikant erhöht, kann in Arzheimers Studie mit den Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) auf Seiten der Linkspartei-Wähler ein spiegelverkehrter Effekt nachgewiesen werden.
Bei den Einstellungen zum Sozialstaat und Steuerabgaben zeigt sich wiederum ein außerordentlich starker Effekt bei den Linkspartei-Wählern. Umso stärker die Wähler für höhere Sozialleistungen und mehr Steuerabgaben eintreten, umso höher steigt die Wahlwahrscheinlichkeit für die Linkspartei. Im Vergleich zur AfD zeigen sich hier keine größeren Besonderheiten und die sozialstaatlichen Einstellungen verteilen sich recht ausgeglichen.
Das heißt abschließend, daß AfD und Linkspartei zwar soziodemographisch ähnliche Wählermilieus ansprechen, aber die Art wie der Markenkern gelesen wird, scheint bei beiden Parteien doch stark voneinander abzuweichen. Die Protestwählerbindung in beiden politischen Lagern scheint sich eher abstrakt und assoziativ abzubilden und differenziert sich erst ab der inhaltlich-thematischen Prioritätensetzung.
Schaut man auf die Wählerwanderungen der Landtags- als auch Bundestagswahlen seit 2013, bei denen der Niedergang der Linken immer plastischer wurde, so wird deutlich, daß der Wähleraustausch zwischen AfD und Linkspartei recht überschaubar ist. Die Sargnägel der Linken scheinen vielmehr die Verluste ans Nichtwählerlager als auch an die Mitte-Links Parteien zu sein.
Bei der Bundestagswahl 2021 wollte sich die linke Kampagne stets die Option einer Rot-Rot-Grünen Regierungsbeteiligung offenhalten und legte ihren Wahlkampf dementsprechend zurückhaltend und passiv an. Die Folge war über eine Million verlorene Wähler, die schließlich ihr Kreuz bei der SPD und den Grünen machten.
Es ist also mitnichten so, daß die Linkspartei in ihrem Wählerschaftskern von der AfD bedroht wird. Es hat sich mit der AfD jedoch auf der politischen Angebotsseite ein neuer Akteur gebildet, der impulsive Protesterregungen und zuvor ungebundene Wechsel- und Nichtwähler besser und authentischer anspricht als die Linkspartei selbst.
Auch bei den vergangenen ostdeutschen Landtagswahlen sind die Verluste der Linken an die AfD recht moderat. Und auch in der umgekehrten Perspektive mobilisieren sich die Zuwächse für die AfD in diesen Bundesländern wesentlich stärker aus anderen Parteienspektren und dem Nichtwählerlager.
Ob eine Wagenknecht-Partei am Ende ein Potential ausschöpfen können wird, das sie in die Parlamente trägt, kann vorerst nur mit einem Fragezeichen versehen werden. Ich bleibe da skeptisch.
Wagenknecht als Person mag als profilierte Politikerin gewisse Stimmungstrends zu ihren Gunsten lenken. Doch um sich langfristig als dauerhaft erfolgreiche Partei zu etablieren, braucht Wagenknecht nicht nur logistische und organisatorische Ressourcen, sondern auch strukturelle und günstige Vorbedingungen innerhalb der politischen Diskurslandschaft.
Die AfD konnte damals mit dem Euro- und Migrationsthema eine repräsentative Alleinvertreterposition einnehmen. Keine andere Partei konnte die Positionen der AfD besetzen und die entsprechenden Diskurslücken schließen. Hier sehe ich die schwerste Aufgabe, die einer Wagenknecht-Partei bevorstünde. Ihre Trumpfkarte mag die Popularität ihrer Frontfrau und die noch nicht so umfangreiche Stigmatisierung wie bei der AfD sein.
Es wird schwierig für Wagenknecht, 1–2 Themenstränge zu besetzen, auf die sie einen inhaltlichen und positionellen Exklusivanspruch erheben könnte. Proteststimmungen brauchen mittelfristig auch einen thematischen Träger, der genügend Polarisierungs- und Mobilisierungskraft aufbringt, um sich maßgeblich in die Parteiidentität einzuschreiben.
Die Piratenpartei ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich zwar Protesttrends kurzfristig auch in elektorale Erfolge ummünzen lassen, aber die Themen der Piraten, Basisdemokratie und Digitalisierungspolitik hatten am Ende nicht genügend Dynamik und Durchschlagskraft, um sich ein langfristiges Mobilisierungsreservoir aufzubauen. Was also hätte Wagenknecht? Alte Sozialdemokratie und Friedenspolitik? Sozialpolitik mit konservativ-identitären Anstrich?
Wagenknecht hat keine konkrete Lücke, keinen politischen Freiraum oder Standort, von dem aus sie ein einzigartiges politisches Angebot liefern könnte, dass nicht bereits über die bestehende Parteienkonfiguration abgebildet wird. Sie müsste bereits stabilisierte Wählerfestungen erobern und sich dabei allein auf ihren Charme und ihre Beliebtheit verlassen. Das sind jedoch auf lange Sicht recht unsichere Faktoren, die vielen Schwankungen unterworfen sein können.
Die AfD sollte eine Wagenknecht-Partei jedoch als mögliche Konkurrenz keineswegs unterschätzen. Ihr bietet sich durchaus eine Profilierungschance, aus der sie Schwung mitnehmen kann und die Bewegungsdynamik des noch recht losen Wagenknechts-Milieus in die eigene strategische Positionierung integrieren kann. Einen ersten klugen Ansatz liefert die Partei dazu im Hinblick auf die Aufstellung als „Friedenspartei“, womit womöglich einige programmatische AfD-Punkte zu den Themenkomplexen Bundeswehr und Sicherheitspolitik strapaziert werden, aber immer noch moderationsfähig bleiben.
Die AfD muss sich vor einer Wagenknecht-Partei jedenfalls nicht fürchten, wenn sie ihre zentralen Themenfelder konsistent zusammenhält und insbesondere bei der Schnittstelle von sozialer Gerechtigkeit und Migration keine Angriffsflächen oder Lücken für eine potentielle Wagenknecht-Partei hinterlässt.
Uwe Lay
Eine neu gegründete Partei unter Frau Wagenknechts Führung könnte zu einer Gefährdung der AfD werden, wenn dieser Partei es nicht gelingt, sozialpolitisch sich von ihrem Marktwirtschaftsliberalismus zu lösen. Zudem ist davon auszugehen, daß diese Partei als die Alternative zur AfD auch von den Medien unterstützt wird getreu der Maxime:Spalte und herrsche! Frau Wagenknecht verfügt zu dem über eine große Ausstrahlungskraft, sie kann so Menschen für sich gewinnen- eine solche Führungskraft fehlt der AfD.
Aber es ist auch zu fragen, ob es nicht eine Cooperation zwischen dieser Partei, wenn sie denn kommt,und der AfD geben könnte. Diese 2 Parteien hätten ja untereinander mehr Gemeinsamkeiten als mit allen anderen Parteien. Gelänge es, die Abgrenzeritis zu überwinden, könnten diese 2 viel erreichen.
Uwe Lay