Als die Alternative für Deutschland vor etwas weniger als drei Jahren bei den meisten Umfrageinstituten mit lediglich einstelligen Werten ausgewiesen wurde und ein Jahr später eine eher ernüchternde Bundestagswahl folgte, gab es das große Kopfzerbrechen über die kommende strategische Positionierung und Ausrichtung.
Wie sollte sich die Partei damals in Zeiten neuer Krisen (Corona) aufstellen? Welche Ideen hatte man, wenn das Kernprofilthema der Migration in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr die außerordentliche Bedeutung einnahm wie noch zuvor? Wie könnte es die Partei also schaffen, aus dem Stagnationsraum des festen 10–12% Wählerpotentials auszubrechen und neue Zielgruppen zu erschließen?
Mit der aktuellen demoskopischen Lage steht fest, daß die AfD nicht nur ein temporäres Protestphänomen war, die lediglich ein einmaliges Unzufriedenheitspotential aus den Wählerströmen abgesaugt und verfestigt hat. In den meisten Umfragen siedelt sich die Partei gerade zwischen 15–17% an.
Die Grünen wurden schon vor wenigen Wochen überholt und laut dem Institut YouGov ist die AfD inzwischen gar zweitstärkste Kraft hinter der Union. Im Osten des Landes ist man bereits stärkste Kraft und setzt auch für die kommenden Landtagswahlen 2024 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg auf den Wahlsieg als stärkste Parlamentspartei.
Erstaunlich an der derzeitigen Entwicklung sind jedoch nicht nur die reinen Zustimmungswerte und die direkte elektorale Unterstützungsbereitschaft, sondern auch der offensichtliche Abbau von Hemmschwellen und Emotionsbarrieren gegenüber der Partei.
Als die AfD 2018 mit 18% ihren letzten Umfragerekord hatte, waren es immerhin noch 66%, die angaben sich unter keinen Umständen vorstellen zu können, die Partei zu wählen. Über die letzten Jahre waren es dann sogar stets mehr als 70%, die eine Wahl der AfD kategorisch ausgeschlossen haben.
Das erweiterte Wählerpotential, also jene, die die AfD als alternative Wahlpräferenz angaben, lag selbst 2018 bei lediglich 5%.
Nun scheint sich diese grundsätzliche Ablehnung jedoch langsam zu lockern. Nur noch 55% schließen eine Wahl der AfD kategorisch aus. Der Gesamtpotentialraum hat sich mit inzwischen 10% sogar verdoppelt. Die strategische Zielmarke einer 20% + X Partei ist also unter Addition des erweiterten Wählerpotentials theoretisch erreichbar.
Und das trotz Verfassungsschutzbeobachtung und anhaltender medialer Ausgrenzung. Weitere Normalisierungseffekte zeigen sich, wenn inzwischen 27% sagen, daß sie die AfD für eine “normale demokratische Partei” halten. Ein Plus um fast 10% im Vergleich zu 2016. Und auch dies trotz einer medial ständig herbeigeschriebenen “Radikalisierungsspirale”.
Der große unbekannte Faktor bleibt jedoch die natürliche Ungewissheit darüber, ob diese Entwicklung bereits die Vorzeichen eines längerfristigen und sich verfestigenden Trends abbildet, oder ob wir es hier mit einer reinen Momentaufnahme zu tun haben, die sich unter neuen politischen Rahmenbedingungen schnell wieder verflüchtigen kann.
Nahezu alle kritischen und wohlwollenden Beobachter sind sich einig, daß der aktuelle Umfrageanstieg gewiss nicht das Ergebnis von der inneren strukturellen Stärke, Kampagnenfähigkeit und Strategie der Partei ist. Selbstverständlich wird dieser Trend maßgeblich von den aktuellen multiplen Krisen und Umbrüchen getragen.
Ich sehe für diese aktuelle Entwicklung drei Faktoren, die sich gegenseitig bedingen als auch verstärken und von denen teilweise auch schon frühere Rechtsparteien Wahlerfolge und Umfragehochs einfahren konnten. Hierzu sei unter anderem auch auf meine kürzlich erschienene IfS-Studie „Wer wählt Rechts“ verwiesen.
Im wesentlichen geht es um die Verschränkung von allgemeiner politischer Unzufriedenheit, Migrationsablehnung und ein dazugehöriger ideologischer und lebensweltlicher Tiefenkonflikt.
1 – Die grundsätzliche Regierungsunzufriedenheit. (Notwendige Bedingung)
Über zwei Drittel sind mit der aktuellen Ampel-Regierung wenig bis gar nicht zufrieden. Dies ist einer der höchsten Unzufriedenheitswerte der letzten 10 Jahre. In dieser Stimmungslage orientieren sich die Wähler ganz natürlich in die Richtung von oppositionellen Alternativen, die als politisches Protestventil zur Verfügung stehen.
Die Folgen nach zweieinhalb Jahren Coronakrise, sowie die Energiekrise und Inflation haben bereits die ökonomische und soziale Vertrauensbasis der Gesellschaft strapaziert. Die Ampel-Regierung versucht zudem, für weitere finanzielle Belastungsproben (Heizpaket, Deindustrialisierung, Mobilitätswende) der Bürger zu werben. Hier sind die weiteren wirtschaftlichen Einschnitte vorprogrammiert und werden die grundsätzliche Unzufriedenheitsstimmung womöglich noch verstärken.
Ökonomische Abstiegsbedrohungen und Sorgen allein können jedoch nur selten allein den Erfolg rechter Parteien erklären. Die allgemeine Frustration ist zumeist auch an eine ganz konkrete Unzufriedenheit in Fragen der Migrationspolitik gekoppelt.
2 – Unzufriedenheit in der Migrationspolitik (Hinreichende Bedingung)
Mit der thematischen Prioritätsabnahme der Migrationspolitik stagnierten auch die Umfragewerte und auch Wahlergebnisse der AfD ab spätestens 2020 oder sanken gar. Ein ähnliches Muster ließ sich auch schon Anfang der 90er Jahre bei den Republikanern beobachten.
Spätestens seit Beginn des Jahres ist die Migrationsfrage jedoch wieder voll im öffentlichen Bewußtsein präsent. Erinnerungen an das Krisenjahr 2015 sind keine polemischen Vergleiche mehr, sondern werden durch die Zahlen auch bestätigt. Die Zahl der Asylanträge explodiert, Kommunen sind überfordert, und selbst bisweilen verschonte kleine ländliche Ortschaften bekommen ganze Containerdörfer mit Migranten vor die Haustür gesetzt. Seit Oktober 2022 sind laut IPSOS Institut die Sorgen im Zusammenhang mit der Migration um 11% angestiegen. „Große Sorgen“ machen sich laut Allensbach inzwischen 39%.
Der höchste Wert seit der großen Migrationskrise zwischen 2015–2016. 57% fürchten eine Wiederholung der Situation aus diesen Jahren. Bei dem Institut YouGov verdrängt das Thema Einwanderung seit knapp drei Monaten sogar die bisherigen Topthemen Klima, Krieg und Inflation.
Mehr als die Hälfte der Deutschen sieht in der Zuwanderung mehr Nachteile als Vorteile. Zuletzt wurde diese Frage im ARD-Deutschlandtrend im Januar 2017 behandelt, also in einer Zeit, als die Jahre 2015 und 2016 noch sehr präsent waren in den Köpfen. Dort waren es noch 4% weniger als heute.
Wir wissen zwar, daß die Bevölkerung in Migrationsfragen schon lange eine mehrheitlich restriktivere Linie befürwortet, die sich aber nicht deckungsgleich mit der Zustimmung für eine migrationskritische Partei widerspiegelt. Durch das Hinzutreten weiterer Unzufriedenheitsparameter und das populistische Momentum können sich rechte Wählerpotentiale im Elektorat konkretisieren.
In der Migrationsfrage zeigt sich auch einmal mehr der einzig wahrgenommene Kompetenzmarkenkern der AfD. 21% trauen der Partei zu, daß sie den Zuzug weiterer Migranten sinnvoll begrenzen würde. Nur die Union kommt auf einen höheren Wert von 25%. Bei der Gesamtkonzeption einer sinnvollen Migrationspolitik liegt sie mit 14% sogar vor allen anderen Parteien.
3 – Tiefe gesellschaftliche Transformationskonflikte.
Wenn wir genauer auf die INSA-Potentiale schauen, so läßt sich bei der AfD seit einigen Monaten eine stetige Absenkung einer wichtigen Barriere feststellen: Immer weniger Wähler können sich unter keinen Umständen feststellen, der Partei ihre Stimme zu geben.
Bei den Grünen verläuft dieser Trend in die entgegengesetzte Richtung. Vor dem Eintritt in die Ampel-Koalition konnten sich nur zwischen 25–30% keinesfalls vorstellen, die Grünen zu wählen. Inzwischen sind es über 40% der Wähler, die die Grünen auf ihrer kategorischen Ausschlussliste haben. Das erweiterte Wählerpotential der Grünen ist von ihren Hochzeiten (2019–2020) von 24% auf nun 16% zusammengeschrumpft.
Auch bei den Politikerrankings sind die beiden prominenten Zugpferde der Grünen, Habeck und Baerbock, inzwischen deutlich zurückgefallen. Während sich das AfD-Wählerpotential aktuell dynamischer ausdehnt und neue Sphären erschließt, verdichtet sich der grüne Wählerraum auf seinen akademisch-urbanen Kern.
Die gegenseitige ideologische und auch lebensweltliche Abgrenzung zwischen Grünen und AfD dürfte einer der stärksten Mobilisierungsfaktoren sein. In kaum einem parteipolitischen Konkurrenzverhältnis spiegeln sich so viele elementare Polarisierungen und Gesellschaftskonflikte wie zwischen den AfD- und Grünen-Anhängern:
Auf der einen Seite das grün-akademische Wohlstandsmilieu in der Großstadt mit hohem Einkommen in der Wissensökonomie und im Verwaltungssektor. Und auf der anderen Seite der ländlich bis kleinstädtische Arbeiter mit einfachem Bildungsabschluss, mittlerem Einkommen und zumeist tätig im verarbeitenden und produzierenden Gewerbe.
Die unterschiedlichen Lebensbilder der prototypischen Grünen und AfD-Anhängerschaft sind ein über die letzten Jahre eingebrannter gesellschaftlicher Tiefenkonflikt, der der Kraftstoff für die AfD ist. Umso stärker und kompromißloser die Ampel-Koalition eine Gesellschaftspolitik gegen die Bevölkerungsmehrheit betreibt, umso größer wird auch das Abgrenzungsbedürfnis.
Zwar versucht sich die Union in diesem „Kampf um die Normalität“ an die Spitze zu setzen, aber sie kann kaum glaubwürdige Gegenangebote machen. Der Nimbus von Friedrich Merz als neue „konservative Hoffnungsfigur“ scheint sich langsam aufzulösen. Die CDU ist passiv und wenig angriffslustig. Sie wird weiterhin als Establishment-Partei wahrgenommen und muß auch jederzeit ihre in den letzten Jahren hinzugewonnenen Wähler der linken Mitte halten können.
Die AfD kann sich somit als der glaubwürdigste und auch schärfste Antagonismus zu den Grünen und dem mit ihnen verbundenen Zeitgeist positionieren. Solange diese polarisierte Front aufrechterhalten bleibt und sie sich auf die unmittelbaren Lebensbereiche und klassisch konservativen Schutzgüter (Auto, Haus, Familie, Kinder) auswirkt, bin ich davon überzeugt, daß die AfD in den kommenden Jahren ihre feste Stammwählerschaft auf 15% ausbauen wird und in einem günstigen politischen Diskursumfeld auf 18–20% ausgreifen kann.
Die Generalprobe dafür werden die im nächsten Jahr stattfindenden Landtagswahlen im Osten und die Europawahl sein. In allen drei Ost-Bundesländern, wo 2024 gewählt wird, setzt die AfD auf Sieg. In Thüringen und Sachsen sehen wir bei den Altparteien bereits eine Verminderung der strategischen Optionen für eine weitere Ausgrenzung der AfD. Mit 30% + X wird es schwierig werden, langfristige und stabile parlamentarische Mehrheiten gegen die AfD zu organisieren.
Wir sehen also: Gestaltungsspielraum schafft sich die AfD nur über die eigene Stärke!
quer
M.E. verharrt die AfD im Tiefschlaf und läßt ihr Potential ratlos zurück. Bislang jedenfalls, hat sie die einmalige Chance verpasst die Befindlichkeiten fast aller Bevölkerungsgruppen aufzunehmen und zu verbinden. Erklärung: Noch nie in der Geschichte des Landes und Europas wurde der Versuch unternommen, den Leuten vorzuschreiben, wie und wann sie ihre Wohnungen zu heizen/wärmen haben. Noch nie zuvor wurde der Versuch unternommen, 90% aller Gebäude quasi zu unbewohnbaren Ruinen zu erklären. Hier geht es wirklich ans Eingemachte. Eine Hyperinflation ist dagegen ein Kindergartenspielchen. Einfach mal 100 Jahre zurückblicken: Die Substanz blieb.
Migration hin, Migration her: Heizen und Dämmen ist das Thema, welches jeden Menschen betrifft und anspricht: Jeder wird sich den Arsch abfrieren, kein Warmwasser haben und obendrein im Blackout sitzen. Das Generalthema für die AfD und als einzige Partei da glaubwürdig. Aufwachen also und sich an die Spitze des Protests setzen!