»Schlaflos in Ephesos« heißt dieses Kapitel. Sloterdijk führt darin aus, wie grundlegend im vorsokratischen Griechenland, namentlich bei dem in Ephesos wachenden und denkenden Heraklit, das Denken und das Wachen miteinander verknüpft gewesen seien.
»Schlaflos im Widerstand« also – das sind keine Gedanken auf Heraklits Höhe und kein Einstieg in das Gipfelgespräch der Vorsokratiker (so bezeichnete Nietzsche ihre nichtdialogischen, granitenen Sätze). »Schlaflos im Widerstand« bedeutet vielmehr, daß wir nach weit über dreißig Jahren des Aufbauens von Projekten und der Beteiligung an Initiativen und politischen Aufbrüchen die Frage zu stellen haben, ob wir es nicht noch einmal anders angehen müssen.
Der Versuch, auf diese grundsätzliche und für ein gestandenes Projekt wohl ungewöhnliche Frage zu antworten, ist keine einfache Sache: Das Nachdenken über den Zustand, in dem wir uns als Volk, als Nation, als Staat, aber auch als je eigentümliche und auf uns selbst gestellte Persönlichkeit befinden, das Nachdenken darüber also, wie es um uns stehe und wie es weitergehen könnte, ja welche Lehren gezogen werden sollten, ist zerfasernd und hält auf.
Denn die Lage ist zugleich unübersichtlich und klar, katastrophal und verspielt, und sie erinnert an ein Vexierbild: Manchmal ist man sich sicher, die Gestalt der Zeit erfaßt zu haben, aber dann treten Wendungen ein, und das Bild kippt.
I. Die Strömungsrichtung ist übermächtig.
Wir rudern gegen sie an, aber wir werden mitgerissen, flußabwärts geschwemmt, und unser Gegenhalten mutet oft wie eine erfolglose Kopie dessen an, was diejenigen tun, die auf den Wellen reiten. Die Frage lautet: Kann man sich der Fließrichtung überhaupt entziehen, oder muß man sich von vornherein damit zufriedengeben, dem reißenden Fluß etwas abzuzweigen, das in einem Seitenarm, einem abgetrennten Mäanderbogen, zur Ruhe kommen könnte?
Darüber hinaus: Ist Ruhe das, was wir anstreben sollten, ist Ruhe ein anderes Wort für jenes politische Minimum, um das wir seit Jahrzehnten ringen und das mit Erhabenheit und Größe und Stolz nichts mehr zu tun hat, dafür viel mit »Erkenne die Lage« und Bestandssicherung und dem defensiven Versuch, das, was wir vor seiner Zerstörung retten wollen, aus dem Spiel zu nehmen und nicht mehr in den Einsatz zu bringen?
Solche und andere Überlegungen, solche Phasen der Begeisterung und des Aufbruchs, Phasen der Resignation und der Stagnation, Phasen des Zulaufs und Phasen der Ausdünnung wechseln einander ab, seit wir politisch denken können. Aber mit der Zeit ist alles Euphorische aus dem Mittun gewichen. Man kann ja sogar euphorisch untergehen, und früher haben wir mit dieser Freude am Kampf aufgetrumpft. Aber jetzt schauen wir anders auf das, was uns widerfährt.
»Schlaflos im Widerstand« zu sein ist also der Versuch, die Frage, ob und wie wir es anders angehen sollten, durch Bestandsaufnahme, Schlußfolgerungen und Perspektivwechsel zu beantworten und mit groben Hieben eine neue Schneise durch zu schlagen – dabei, innehaltend, natürlich erleichtert wahrnehmend, daß auch andere so wie wir an der Arbeit sind.
II. Die Aufbauarbeit der vergangenen Jahrzehnte hat Früchte getragen.
Es ist wichtig, daß wir uns dies immer wieder vor Augen führen. Wir sollten unsere Erfolge ebenso zum Ausgangspunkt unserer weiteren Überlegungen machen wie unsere Mißerfolge. Wer wie wir den möglichen nationalen Aufbruch der Wendejahre von 1989 und 1990 und die Lähmung ab 1995 in Erinnerung hat; wer – um den Blick auf unsere Szene zu verengen – die Ausdünnung des politischen und kulturellen Raumes vor allem um die Jahrtausendwende herum miterlebt und den Ausbau der wenigen Durchhalteprojekte wahrgenommen und vielleicht sogar unterstützt hat; wer also die bleierne Zeit kennt, der blickt doch heute auf eine Vielfalt und eine Dynamik, die für uns alle noch vor zehn, zwölf Jahren unvorstellbar waren.
Zwischen 2000 und 2012 beschränkte sich die neurechte Publizistik auf die Wochenzeitung Junge Freiheit und unser Institut samt Zeitschrift und Verlag. Wir protokollierten scheiternde Parteiprojekte und kannten jede regionale Initiative, jeden Diskussionszirkel und das oft behäbige Verbindungsnetzwerk aus Altherrenschaften, Häusern und Geld. Heute hingegen wird kaum jemand alles verarbeiten können, was Verlage und Zeitschriften, Internetmagazine, Youtuber und Influencer, Vortragsformate, Podcasts und Stiftungen zu bieten haben.
Die großen Pegida-Demonstrationen und die spektakulären, stets gewaltfreien Aktionen der Identitären Bewegung – das waren wuchtige Vorstöße, gegen die sich der Staat nur durch Kriminalisierung und den Mißbrauch seiner Macht wehren konnte. Bis heute ist die Potenz beeindruckend, mit der die Proteste immer wieder und an vielen Orten gegen die Zumutungen gesellschaftlicher Experimente aufflackern. Legendär: die panischen Reaktionen des Kulturbetriebs auf die Präsenz unserer Verlage auf Buchmessen und in Bestsellerlisten.
Vor dieses Mosaik hat sich eine Partei geschoben, die vielleicht als Mehrheitsbeschaffer für eine strukturell schwächelnde CDU angelegt war, durch Palastrevolten aber zu dem wurde, was sie aus unserer Sicht sein sollte: eine Kraft, die grundsätzliche Fragen stellen, Wählermassen mobilisieren, Mehrheiten erringen und mit dem ihr zur Verfügung stehenden Apparat alternative Konzepte erarbeiten kann.
Darüber hinaus, vielleicht sogar vor allem, ist die AfD ein potenter und großzügiger Arbeitgeber, ein Auffangnetz und ein Rückhaltebecken. (Daß dies eine zweischneidige Sache ist, muß man wissen, und es auszusprechen sollte niemanden empören: Es ist ja so gar nichts Neues, und jede Partei hat damit zu kämpfen.)
Alles in allem also: eine Erfolgsbilanz. Wer anders denken, in Frage stellen, alternativ lesen und wählen, wer Gleichgesinnte treffen und Räume der freien Rede aufsuchen und für das eigene Volk und die eigene Nation arbeiten möchte, hat es heute zehnmal leichter als noch vor zehn Jahren.
III. Die relativen Erfolge unserer Richtung haben die Entfernung zur Macht verdeutlicht.
Wir haben – »wir« meint: viele Mitstreiter und Leser – wider besseres Wissen auf größeren Erfolg gehofft, auf Durchbrüche und Machtanteile. Wir wissen – lektüregesättigt – zwar alles über die internen und externen Mechanismen des Machtkampfs, der Machterzwingung und der Machtbeteiligung, sind uns über die Soziologie des Parteienstaats und die Kristallisation, die Aushärtung sozialer Gebilde und ihrer Machtstrukturen im klaren, haben über Propaganda und Öffentlichkeitserzwingung, über das Problem des Elitenwechsels und die Oligarchisierung des demokratischen Apparats Vorträge gehört, Beiträge verfaßt, Seminare besucht und selbst veranstaltet. Aber wir haben die Kenntnisse über diese Mechanismen ausgeblendet und darauf gehofft, daß es dieses Mal anders vonstatten gehen würde. Beispiele:
Wir haben Fairneß zu erzwingen versucht, wo keine zu erwarten war. Die Berichterstattung über unsere Arbeit, über den fulminanten Auftritt der Identitären und über die demokratische Zuverlässigkeit der AfD war und ist absurd in ihrer gewollten Fehlwahrnehmung und Falschdarstellung. Und welches Signal geht von einer auf Neutralität verpflichteten Behörde aus, die unser jahrelang gemeinnütziges Institut ausspäht? (Etwas Transparenteres als ein gemeinnütziges Institut, das Veranstaltungen organisiert, eine Zeitschrift herausgibt und Studien erarbeitet und seine Strukturen und Finanzmittel offenzulegen hat, gibt es nicht.)
Wir haben das Paradoxon ausgeblendet, daß in einer Partei immer diejenigen, die einander inhaltlich und habituell sehr nahestehen, fast zwangsläufig zu Konkurenten werden – daß es also zu 90 Prozent um Personalkämpfe und zu zehn Prozent um Inhalte geht.
Wir haben die Formierungskraft und die einhellige Linie der Altparteien und der sogenannten Zivilgesellschaft im Kampf gegen rechts unterschätzt. Wir haben nicht damit gerechnet, daß unsere Präsenz die Gegner so rasch und dauerhaft zur Einheitsfront gegen uns verklammern würde.
Kurzum: Von Machtbeteiligung kann keine Rede sein, an allen Fronten tobt der Kampf um Brückenköpfe und erobertes Gelände auf politischem und vorpolitischem Feld.
IV. Korrumpierende Möglichkeiten des Mitmachens haben sich aufgetan.
Es gehört zur Machterhaltungsstrategie der sogenannten Offenen Gesellschaft und des Parteienstaats, Neuankömmlingen ein Stück vom Kuchen abzugeben – unter dem Geschrei derer, die es herausrücken müssen.
Prozente zu holen und Mandate zu erringen bedeutet, etwas von der überbordenden und korrumpierenden Parteienfinanzierung, die sich dieser Staat leistet, in die eigenen Kanäle gespült zu bekommen. Um es deutlich zu sagen: In der AfD ist so viel Geld vorhanden, daß sich Hunderte Politiker und Mitarbeiter einrichten konnten. Beim Wörtchen »einrichten« klingt nicht grundlos ein an Zufriedenheit, Sättigungsgefühl und Karrieresprung gemahnender Unterton an. Und in der Tat: Man kann sich vieles zurechtreden, wenn man von Privilegien umstellt ist.
Das Argument, daß Politik so und nicht anders funktioniere, ist gefährlich schlagend, denn es stimmt einerseits, verletzt aber andererseits den einzigen Anspruch, der es rechtfertigt, die Hoffnung der Wähler zu wecken und ihr Vertrauen zu gewinnen: die Hoffnung, daß es endlich eine Partei gebe, die sich an der großen Demokratiesimulation nicht beteiligt und das Spielchen zwischen Regierung und Opposition als das bezeichnet, was es ist – als einen Auffächerungstrick von Einheitsmeinungen in unterschiedliche Parteien.
V. Alternativ zu sein bedeutet: sich selbst Nachahmungsverbote auferlegen.
Der Begriff des Nachahmungsverbots stammt aus dem glänzenden Buch Das Licht, das erlosch, das die Politologen Ivan Krastev und Stephen Holmes vorlegten. Sie prägten diesen Begriff, um Wege jenseits des vermeintlichen Endes der Geschichte zu kennzeichnen – Wege, die nach der Phase einer Art Nachahmungspflicht im Kielwasser der USA, des großen Wendesiegers, in eine Phase selbstauferlegter Nachahmungsverbote umschlugen, veranschaulicht an der alternativen Politik so unterschiedlicher Staaten und Modelle wie China, Rußland und Ungarn.
Wir übertrugen nach der Lektüre dieses außenpolitisch und geostrategisch argumentierenden Buches den Begriff »Nachahmungsverbot« auf innenpolitische Zusammenhänge und unsere eigene Arbeit: Eine Alternative zur Formierungskraft des Mainstreams und zur Fließrichtung des Gesellschaftsumbaus zu bieten bedeute zunächst, sich selbst und das mitstreitende Umfeld selbstauferlegten Nachahmungsverboten zu unterwerfen.
Klar war und ist: In diesem Sinne fundamental alternativ zu denken und zu handeln, bedarf einer Idee, eines Bildes, das in anderen Farben andere Szenen zeigt, bedarf eines Entwurfs von einem anderen politischen Weg. Dies alles – Idee, Bild, Weg – muß so kraftvoll, mobilisierend, magnetisch sein, daß es disziplinierende Kraft ausübt.
VI. Es gibt kaum rechte Kader. Und es gibt keine Idee, die mehr verpflichtendes Gewicht hätte als der je individuelle Lebensentwurf.
Politische, vorpolitische, metapolitische Alternativen zu durchdenken, durchzusetzen, umzusetzen bedeutet, sich nicht mit dem vermeintlich vorgegebenen und zwangsläufigen, also alternativlosen Weg abzufinden, sondern auszuscheren und einen anderen Weg einzuschlagen. Diese Entscheidung zieht Anstrengungen nach sich, die nicht auf sich nehmen muß, wer im Mainstream bleibt und in der Rolle einer für den Verblendungszusammenhang notwendigen Opposition aufgeht.
Wer hingegen einem alternativen Konzept zu folgen beginnt, wer mit vollem Einsatz daran mitwirkt, entscheidet sich für die Wiederbelastung des Lebens.
Ich habe über den Begriff »Wiederbelastung« vor zwei Jahren einen ausführlichen Text geschrieben, angelehnt an Gedankenführungen wiederum von Peter Sloterdijk, der seinerseits auf Heideggers Mißverständnis rekurrierte, der nationale Sozialismus sei in der Lage, das Ende der Geschichte zu vertagen und die schrecklichen Kinder der Neuzeit einer Erziehung zur Askese zu unterwerfen.
Die Lektüre des Aufsatzes von Sloterdijk und meiner Ableitungen öffnet neue Zugänge zur Beantwortung der Frage, worüber wir eigentlich sprechen, wenn wir über Revolte, Nachahmungsverbot und grundsätzlichen, radikalen Neubeginn nachdenken.
Von Belang für meine Bestandsaufnahme ist folgendes: Ich sehe derzeit keinen Impuls, der zu einer Wiederbelastung der rechten Szene führen könnte, also kein so wirkmächtiges, mitreißendes Bild, keine so mobilisierende Idee, daß es für den Aufbau einer einsatzbereiten, vom je eigenen Lebensweg absehenden Kaderorganisation ausreichen könnte. Man nimmt derlei ja eher dort wahr, wo junge Menschen für den Erhalt eines faden Waldstücks auf Bäumen siedeln oder tatsächlich in See stechen, um, zwar gehypt von den Medien, aber dennoch unter schwierigen Verhältnissen, auf dem Mittelmeer ein aus ihrer Sicht gutes Werk zu tun.
Im Gegensatz dazu war unsere Szene nicht in der Lage, ein wertvolles Haus direkt am Campus in Halle mit »Kadern« so zu bestücken, daß man es in revoltierender Stimmung hätte halten können, und zwar auch und gerade gegen den gewaltsamen Widerstand von links, der sich tatsächlich vehement entlud. Lehrreich war, daß die meisten, die den Kampf hätten mittragen sollen, letztlich eine Störung des je eigenen Lebensentwurfs höher gewichteten als die Notwendigkeit, ein paar Monate oder Jahre in ein Leuchtturmprojekt zu investieren.
Kader verhalten sich anders, Kader denken in den Kategorien Befehl und Gehorsam, in Dienstkategorien, gewissermaßen kaserniert. Kader lassen sich einsetzen und setzen sich ein – aber wir haben sie nicht.
VII. Mangel an Verbindlichkeit ist kein rechtes Problem, sondern ein Zustand auf der Höhe der Zeit.
Um zu erläutern, was damit gemeint ist, muß ich ausholen: Europa hat eine Kultur hervorgebracht, die weltweit einmalig ist. Sie war wissenschaftlich und technisch, vor allem aber mental in der Lage, die ganze Welt zu unterwerfen und zu prägen.
Die Selbstermächtigung und die Erhebung zum Weltgestalter führten zu einer geistigen und machtpolitischen Überdehnung und im 19. und 20. Jahrhundert zu zwei Katastrophen: zum einen zur Konzeption und Durchsetzung rücksichtsloser Neugestaltungen von Massengesellschaften entlang dreier Gesellschaftstheorien (Marxismus, Liberalismus, Nationalismus) und zum Zusammenstoß der aus diesen Theorien entwickelten, einander ausschließenden politischen Konzepte in zwei Welt- und vielen Stellvertreterkriegen.
Auf Überdehnung und Erschöpfung dieser weltformenden und weltbeherrschenden Kraft folgte die bis heute andauernde Selbstinfragestellung und Selbstkorrektur, eine durch Europa selbst betriebene Entwertung des Eigenen, eine Auflösung aller Dinge, eine Dekonstruktion des eigenen So-Seins, der eigenen Geschichte, der eigenen Daseinsberechtigung und des eigenen künftigen Weges. Wie konnte es so weit kommen? Es gibt drei Erklärungsansätze:
Der erste ist Thema eines Buches aus meinem Verlag. Es trägt den Titel Die Verachtung des Eigenen, der Kulturphilosoph Frank Lisson denkt darin »Über den kulturellen Selbsthaß in Europa« nach. Die These lautet: Aufbau, Gestaltwerdung und Selbstzerstörung der europäischen Kultur resultierten aus derselben Eigenart – einer ausdifferenzierten Fähigkeit zur Abstrahierung und Objektivierung, und beides wandte sich in selbstmörderischer Klarheit gegen die Entdecker dieses Analysebestecks selbst.
Wenn diese Annahme stimmt, bedeutet dies: Das, was geschah und geschieht, ist zwangsläufig und nicht zu ändern, es steckt in uns, und es war der europäische Mensch, der zuletzt so sehr ausgriff, daß er sich überdehnte und nach der Eroberung und Ausleuchtung des letzten Weltwinkels den Lichtstrahl nach innen richtet, um sich bis zur Selbstzerfleischung kennen, in Frage stellen und hassen zu lernen.
Der zweite Erklärungsansatz ist anthropologisch. Er sieht die skizzierte rasante Entwicklung im Menschen an sich angelegt. Er sei nämlich im Moment seiner Entlastung von der täglichen Daseinsnot in der Lage versetzt worden, den entgrenzenden Teil seiner Eigenschaften auf die Spitze zu treiben und zu übertreiben.
Diese Eigenschaften sind in Kürze nicht leicht zu erklären. Man muß dafür die besondere Stellung des Menschen zur Welt, zur Umwelt bedenken und ihn sich nackt vorstellen, ständig auf der Suche nach Bedeckung, ständig sich selbst eine Lebenssicherungsaufgabe, tastend, unsicher, hartnäckig, unbefriedigt. Die Werke des Soziologen Arnold Gehlen und des Verhaltensforschers Konrad Lorenz sind für das Verständnis dieses Erklärungsansatzes einer zutiefst menschlichen Hybris unverzichtbare Lektüre.
Der dritte Erklärungsansatz hängt mit dem zweiten eng zusammen: Die Entfesselung der nicht jährlich nachwachsenden, sondern während ganzer Erdzeitalter angewachsenen Energie (Kohle und Öl und zuletzt, ganz anorganisch, das Uran) hat jene Entlastung von der täglichen Daseinsnot bewirkt. Man kann sich die energetische Revolution gar nicht umwälzend genug vorstellen: Was früher Mensch und Pferd, Hebezeug und Wasserkraft leisteten, erledigen heute die unterirdischen Wälder, deren Rodung und Vernutzung der Kultursoziologe Rolf Peter Sieferle in einem bahnbrechenden Buch beschrieben hat.
Was früher als äußerster Komfort sehr, sehr weniger Menschen galt, ist heute der ohne jede Eigenleistung eingeforderte Lebensstandard jeder prekären Gruppe: Versorgungssicherheit auf einem noch vor hundert Jahren nicht vorstellbaren Niveau.
Konrad Lorenz hat die Schattenseiten dieses anstrengungslosen Zustands in seinem Buch über die Todsünden der zivilisierten Menschheit als »Wärmetod« bezeichnet und eine »Verhausschweinung« des Menschen wahrgenommen. Dagegen ist mit Erziehungsprogrammen angearbeitet worden: mit Askesekonzepten, künstlicher Verknappung, Aufrufen zu Disziplin, Konsumverzicht, mythischer Wiederbelastung und »naturnaher« Selbstoptimierung.
Der Haken daran: All diese Gegenmittel sind freiwillig, sind nicht lebensnotwendig, sind eine Art Fitneßprogramm, sind Einübungen in Nichtbeteiligung, körperlich und mental. Vom Sog und der Strömungsrichtung unserer Zeit hat nichts begriffen, wer meint, wir kämen gesellschaftlich mit selbstauferlegten Anstrengungen gegen das an, was im quantitativen Sinn massenhaft und verlockend anstrengungslos Tag für Tag gegen Wiederbelastung und Selbstbeschränkung geschieht.
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(Die Grundlage dieses aus zehn Absätzen bestehenden Textes ist der Vortrag »Schlaflos in Schnellroda«, den Götz Kubitschek zum Abschluß des Sommerfestes 2022 vor einigen hundert Zuhörern hielt. Die Absätze VIII, IX und X bilden den 2. online-Teil. Der Gesamttext liegt mit zusätzlichen Anmerkungen in der 113. Sezession in gedruckter Form vor.)