Vom Vorbehalt, oder: schlaflos im Widerstand (1)

Der Titel »Schlaflos im Widerstand« spielt auf ein sehr inspirierendes Kapitel aus Peter Sloterdijks Werk Du mußt dein Leben ändern an.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

»Schlaf­los in Ephe­sos« heißt die­ses Kapi­tel. Slo­ter­di­jk führt dar­in aus, wie grund­le­gend im vor­so­kra­ti­schen Grie­chen­land, nament­lich bei dem in Ephe­sos wachen­den und den­ken­den Hera­klit, das Den­ken und das Wachen mit­ein­an­der ver­knüpft gewe­sen seien.

»Schlaf­los im Wider­stand« also – das sind kei­ne Gedan­ken auf ­Hera­klits Höhe und kein Ein­stieg in das Gip­fel­ge­spräch der Vor­so­kra­ti­ker (so bezeich­ne­te Nietz­sche ihre nicht­dia­lo­gi­schen, gra­ni­te­nen Sät­ze). »Schlaf­los im Wider­stand« bedeu­tet viel­mehr, daß wir nach weit über drei­ßig Jah­ren des Auf­bau­ens von Pro­jek­ten und der Betei­li­gung an Initia­ti­ven und poli­ti­schen Auf­brü­chen die Fra­ge zu stel­len haben, ob wir es nicht noch ein­mal anders ange­hen müssen.

Der Ver­such, auf die­se grund­sätz­li­che und für ein gestan­de­nes Pro­jekt wohl unge­wöhn­li­che Fra­ge zu ant­wor­ten, ist kei­ne ein­fa­che Sache: Das Nach­den­ken über den Zustand, in dem wir uns als Volk, als Nati­on, als Staat, aber auch als je eigen­tüm­li­che und auf uns selbst gestell­te Per­sön­lich­keit befin­den, das Nach­den­ken dar­über also, wie es um uns ste­he und wie es wei­ter­ge­hen könn­te, ja wel­che Leh­ren gezo­gen wer­den soll­ten, ist zer­fa­sernd und hält auf.

Denn die Lage ist zugleich unüber­sicht­lich und klar, kata­stro­phal und ver­spielt, und sie erin­nert an ein Vexier­bild: Manch­mal ist man sich sicher, die Gestalt der Zeit erfaßt zu haben, aber dann tre­ten Wen­dun­gen ein, und das Bild kippt.

I. Die Strö­mungs­rich­tung ist übermächtig.

Wir rudern gegen sie an, aber wir wer­den mit­ge­ris­sen, fluß­ab­wärts geschwemmt, und unser Gegen­hal­ten mutet oft wie eine erfolg­lo­se Kopie des­sen an, was die­je­ni­gen tun, die auf den Wel­len rei­ten. Die Fra­ge lau­tet: Kann man sich der Fließ­rich­tung über­haupt ent­zie­hen, oder muß man sich von vorn­her­ein damit zufrie­den­ge­ben, dem rei­ßen­den Fluß etwas abzu­zwei­gen, das in einem Sei­ten­arm, einem abge­trenn­ten Mäan­der­bo­gen, zur Ruhe kom­men könnte?

Dar­über hin­aus: Ist Ruhe das, was wir anstre­ben soll­ten, ist Ruhe ein ande­res Wort für jenes poli­ti­sche Mini­mum, um das wir seit Jahr­zehn­ten rin­gen und das mit Erha­ben­heit und Grö­ße und Stolz nichts mehr zu tun hat, dafür viel mit »Erken­ne die Lage« und Bestands­si­che­rung und dem defen­si­ven Ver­such, das, was wir vor sei­ner Zer­stö­rung ret­ten wol­len, aus dem Spiel zu neh­men und nicht mehr in den Ein­satz zu bringen?

Sol­che und ande­re Über­le­gun­gen, sol­che Pha­sen der Begeis­te­rung und des Auf­bruchs, Pha­sen der Resi­gna­ti­on und der Sta­gna­ti­on, Pha­sen des Zulaufs und Pha­sen der Aus­dün­nung wech­seln ein­an­der ab, seit wir poli­tisch den­ken kön­nen. Aber mit der Zeit ist alles Eupho­ri­sche aus dem Mit­tun gewi­chen. Man kann ja sogar eupho­risch unter­ge­hen, und frü­her haben wir mit die­ser Freu­de am Kampf auf­ge­trumpft. Aber jetzt schau­en wir anders auf das, was uns widerfährt.

»Schlaf­los im Wider­stand« zu sein ist also der Ver­such, die Fra­ge, ob und wie wir es anders ange­hen soll­ten, durch Bestands­auf­nah­me, Schluß­fol­ge­run­gen und Per­spek­tiv­wech­sel zu beant­wor­ten und mit gro­ben Hie­ben eine neue Schnei­se durch zu schla­gen – dabei, inne­hal­tend, natür­lich erleich­tert wahr­neh­mend, daß auch ande­re so wie wir an der Arbeit sind.

II. Die Auf­bau­ar­beit der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te hat Früch­te getragen.

Es ist wich­tig, daß wir uns dies immer wie­der vor Augen füh­ren. Wir soll­ten unse­re Erfol­ge eben­so zum Aus­gangs­punkt unse­rer wei­te­ren Über­le­gun­gen machen wie unse­re Mißer­fol­ge. Wer wie wir den mög­li­chen natio­na­len Auf­bruch der Wen­de­jah­re von 1989 und 1990 und die Läh­mung ab 1995 in Erin­ne­rung hat; wer – um den Blick auf unse­re Sze­ne zu ver­en­gen – die Aus­dün­nung des poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Rau­mes vor allem um die Jahr­tau­send­wen­de her­um mit­er­lebt und den Aus­bau der weni­gen Durch­hal­te­pro­jek­te wahr­ge­nom­men und viel­leicht sogar unter­stützt hat; wer also die blei­er­ne Zeit kennt, der blickt doch heu­te auf eine Viel­falt und eine Dyna­mik, die für uns alle noch vor zehn, zwölf Jah­ren unvor­stell­bar waren.

Zwi­schen 2000 und 2012 beschränk­te sich die neu­rech­te Publi­zis­tik auf die Wochen­zei­tung Jun­ge Frei­heit und unser Insti­tut samt Zeit­schrift und Ver­lag. Wir pro­to­kol­lier­ten schei­tern­de Par­tei­pro­jek­te und kann­ten jede regio­na­le Initia­ti­ve, jeden Dis­kus­si­ons­zir­kel und das oft behä­bi­ge Ver­bin­dungs­netz­werk aus Alt­her­ren­schaf­ten, Häu­sern und Geld. Heu­te hin­ge­gen wird kaum jemand alles ver­ar­bei­ten kön­nen, was Ver­la­ge und Zeit­schrif­ten, Inter­net­ma­ga­zi­ne, You­tuber und Influen­cer, Vor­trags­for­ma­te, Pod­casts und Stif­tun­gen zu bie­ten haben.

Die gro­ßen Pegi­da-Demons­tra­tio­nen und die spek­ta­ku­lä­ren, stets gewalt­frei­en Aktio­nen der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung – das waren wuch­ti­ge Vor­stö­ße, gegen die sich der Staat nur durch Kri­mi­na­li­sie­rung und den Miß­brauch sei­ner Macht weh­ren konn­te. Bis heu­te ist die Potenz beein­dru­ckend, mit der die Pro­tes­te immer wie­der und an vie­len Orten gegen die Zumu­tun­gen gesell­schaft­li­cher Expe­ri­men­te auf­fla­ckern. Legen­där: die pani­schen Reak­tio­nen des Kul­tur­be­triebs auf die Prä­senz unse­rer Ver­la­ge auf Buch­mes­sen und in Bestsellerlisten.

Vor die­ses Mosa­ik hat sich eine Par­tei gescho­ben, die viel­leicht als Mehr­heits­be­schaf­fer für eine struk­tu­rell schwä­cheln­de CDU ange­legt war, durch Palast­re­vol­ten aber zu dem wur­de, was sie aus unse­rer Sicht sein soll­te: eine Kraft, die grund­sätz­li­che Fra­gen stel­len, Wäh­ler­mas­sen mobi­li­sie­ren, Mehr­hei­ten errin­gen und mit dem ihr zur Ver­fü­gung ste­hen­den Appa­rat alter­na­ti­ve Kon­zep­te erar­bei­ten kann.

Dar­über hin­aus, viel­leicht sogar vor allem, ist die AfD ein poten­ter und groß­zü­gi­ger Arbeit­ge­ber, ein Auf­fang­netz und ein Rück­hal­te­be­cken. (Daß dies eine zwei­schnei­di­ge Sache ist, muß man wis­sen, und es aus­zu­spre­chen soll­te nie­man­den empö­ren: Es ist ja so gar nichts Neu­es, und jede Par­tei hat damit zu kämpfen.)

Alles in allem also: eine Erfolgs­bi­lanz. Wer anders den­ken, in Fra­ge stel­len, alter­na­tiv lesen und wäh­len, wer Gleich­ge­sinn­te tref­fen und Räu­me der frei­en Rede auf­su­chen und für das eige­ne Volk und die eige­ne Nati­on arbei­ten möch­te, hat es heu­te zehn­mal leich­ter als noch vor zehn Jahren.

III. Die rela­ti­ven Erfol­ge unse­rer Rich­tung haben die Ent­fer­nung zur Macht verdeutlicht.

Wir haben – »wir« meint: vie­le Mit­strei­ter und Leser – wider bes­se­res Wis­sen auf grö­ße­ren Erfolg gehofft, auf Durch­brü­che und Macht­an­tei­le. Wir wis­sen – lek­tü­re­ge­sät­tigt – zwar alles über die inter­nen und exter­nen Mecha­nis­men des Macht­kampfs, der Mach­ter­zwin­gung und der Macht­be­tei­li­gung, sind uns über die Sozio­lo­gie des Par­tei­en­staats und die Kris­tal­li­sa­ti­on, die Aus­här­tung sozia­ler Gebil­de und ihrer Macht­struk­tu­ren im kla­ren, haben über Pro­pa­gan­da und Öffent­lich­keits­er­zwin­gung, über das Pro­blem des Eli­ten­wech­sels und die Olig­ar­chi­sie­rung des demo­kra­ti­schen Appa­rats Vor­trä­ge gehört, Bei­trä­ge ver­faßt, Semi­na­re besucht und selbst ver­an­stal­tet. Aber wir haben die Kennt­nis­se über die­se Mecha­nis­men aus­ge­blen­det und dar­auf gehofft, daß es die­ses Mal anders von­stat­ten gehen wür­de. Beispiele:

Wir haben Fair­neß zu erzwin­gen ver­sucht, wo kei­ne zu erwar­ten war. Die Bericht­erstat­tung über unse­re Arbeit, über den ful­mi­nan­ten Auf­tritt der Iden­ti­tä­ren und über die demo­kra­ti­sche Zuver­läs­sig­keit der AfD war und ist absurd in ihrer gewoll­ten Fehl­wahr­neh­mung und Falsch­dar­stel­lung. Und wel­ches Signal geht von einer auf Neu­tra­li­tät ver­pflich­te­ten Behör­de aus, die unser jah­re­lang gemein­nüt­zi­ges Insti­tut aus­späht? (Etwas Trans­pa­ren­te­res als ein gemein­nüt­zi­ges Insti­tut, das Ver­an­stal­tun­gen orga­ni­siert, eine Zeit­schrift her­aus­gibt und Stu­di­en erar­bei­tet und sei­ne Struk­tu­ren und Finanz­mit­tel offen­zu­le­gen hat, gibt es nicht.)

Wir haben das Para­do­xon aus­ge­blen­det, daß in einer Par­tei immer die­je­ni­gen, die ein­an­der inhalt­lich und habi­tu­ell sehr nahe­ste­hen, fast zwangs­läu­fig zu Kon­ku­ren­ten wer­den – daß es also zu 90 Pro­zent um Per­so­nal­kämp­fe und zu zehn Pro­zent um Inhal­te geht.

Wir haben die For­mie­rungs­kraft und die ein­hel­li­ge Linie der Alt­par­tei­en und der soge­nann­ten Zivil­ge­sell­schaft im Kampf gegen rechts unter­schätzt. Wir haben nicht damit gerech­net, daß unse­re Prä­senz die Geg­ner so rasch und dau­er­haft zur Ein­heits­front gegen uns ver­klam­mern würde.

Kurz­um: Von Macht­be­tei­li­gung kann kei­ne Rede sein, an allen Fron­ten tobt der Kampf um Brü­cken­köp­fe und erober­tes Gelän­de auf poli­ti­schem und vor­po­li­ti­schem Feld.

IV. Kor­rum­pie­ren­de Mög­lich­kei­ten des Mit­ma­chens haben sich aufgetan.

Es gehört zur Macht­er­hal­tungs­stra­te­gie der soge­nann­ten Offe­nen Gesell­schaft und des Par­tei­en­staats, Neu­an­kömm­lin­gen ein Stück vom Kuchen abzu­ge­ben – unter dem Geschrei derer, die es her­aus­rü­cken müssen.

Pro­zen­te zu holen und Man­da­te zu errin­gen bedeu­tet, etwas von der über­bor­den­den und kor­rum­pie­ren­den Par­tei­en­fi­nan­zie­rung, die sich die­ser Staat leis­tet, in die eige­nen Kanä­le gespült zu bekom­men. Um es deut­lich zu sagen: In der AfD ist so viel Geld vor­han­den, daß sich Hun­der­te Poli­ti­ker und Mit­ar­bei­ter ein­rich­ten konn­ten. Beim Wört­chen »ein­rich­ten« klingt nicht grund­los ein an Zufrie­den­heit, Sät­ti­gungs­ge­fühl und Karriere­sprung gemah­nen­der Unter­ton an. Und in der Tat: Man kann sich vie­les zurecht­re­den, wenn man von Pri­vi­le­gi­en umstellt ist.

Das Argu­ment, daß Poli­tik so und nicht anders funk­tio­nie­re, ist gefähr­lich schla­gend, denn es stimmt einer­seits, ver­letzt aber ande­rer­seits den ein­zi­gen Anspruch, der es recht­fer­tigt, die Hoff­nung der Wäh­ler zu wecken und ihr Ver­trau­en zu gewin­nen: die Hoff­nung, daß es end­lich eine Par­tei gebe, die sich an der gro­ßen Demo­kra­tie­si­mu­la­ti­on nicht betei­ligt und das Spiel­chen zwi­schen Regie­rung und Oppo­si­ti­on als das bezeich­net, was es ist – als einen Auf­fä­che­rungs­trick von Ein­heits­mei­nun­gen in unter­schied­li­che Parteien.

V. Alter­na­tiv zu sein bedeu­tet: sich selbst Nach­ah­mungs­ver­bo­te auferlegen.

Der Begriff des Nach­ah­mungs­ver­bots stammt aus dem glän­zen­den Buch Das Licht, das erlosch, das die Poli­to­lo­gen Ivan Kras­tev und Ste­phen Hol­mes vor­leg­ten. Sie präg­ten die­sen Begriff, um Wege jen­seits des ver­meint­li­chen Endes der Geschich­te zu kenn­zeich­nen – Wege, die nach der Pha­se einer Art Nach­ah­mungs­pflicht im Kiel­was­ser der USA, des gro­ßen Wen­de­sie­gers, in eine Pha­se selbst­auf­er­leg­ter Nach­ah­mungs­ver­bo­te umschlu­gen, ver­an­schau­licht an der alter­na­ti­ven Poli­tik so unter­schied­li­cher Staa­ten und Model­le wie Chi­na, Ruß­land und Ungarn.

Wir über­tru­gen nach der Lek­tü­re die­ses außen­po­li­tisch und geo­stra­te­gisch argu­men­tie­ren­den Buches den Begriff »Nach­ah­mungs­ver­bot« auf innen­po­li­ti­sche Zusam­men­hän­ge und unse­re eige­ne Arbeit: Eine Alter­na­ti­ve zur For­mie­rungs­kraft des Main­streams und zur Fließ­rich­tung des Gesell­schafts­um­baus zu bie­ten bedeu­te zunächst, sich selbst und das mit­strei­ten­de Umfeld selbst­auf­er­leg­ten Nach­ah­mungs­ver­bo­ten zu unterwerfen.

Klar war und ist: In die­sem Sin­ne fun­da­men­tal alter­na­tiv zu den­ken und zu han­deln, bedarf einer Idee, eines Bil­des, das in ande­ren Far­ben ande­re Sze­nen zeigt, bedarf eines Ent­wurfs von einem ande­ren poli­ti­schen Weg. Dies alles – Idee, Bild, Weg – muß so kraft­voll, mobi­li­sie­rend, magne­tisch sein, daß es dis­zi­pli­nie­ren­de Kraft ausübt.

VI. Es gibt kaum rech­te Kader. Und es gibt kei­ne Idee, die mehr ver­pflich­ten­des Gewicht hät­te als der je indi­vi­du­el­le Lebensentwurf.

Poli­ti­sche, vor­po­li­ti­sche, meta­po­li­ti­sche Alter­na­ti­ven zu durch­den­ken, durch­zu­set­zen, umzu­set­zen bedeu­tet, sich nicht mit dem ver­meint­lich vor­ge­ge­be­nen und zwangs­läu­fi­gen, also alter­na­tiv­lo­sen Weg abzu­fin­den, son­dern aus­zu­sche­ren und einen ande­ren Weg ein­zu­schla­gen. Die­se Ent­schei­dung zieht Anstren­gun­gen nach sich, die nicht auf sich neh­men muß, wer im Main­stream bleibt und in der Rol­le einer für den Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hang not­wen­di­gen Oppo­si­ti­on aufgeht.

Wer hin­ge­gen einem alter­na­ti­ven Kon­zept zu fol­gen beginnt, wer mit vol­lem Ein­satz dar­an mit­wirkt, ent­schei­det sich für die Wie­der­be­las­tung des Lebens.

Ich habe über den Begriff »Wie­der­be­las­tung« vor zwei Jah­ren einen aus­führ­li­chen Text geschrie­ben, ange­lehnt an Gedan­ken­füh­run­gen wie­der­um von Peter Slo­ter­di­jk, der sei­ner­seits auf Heid­eg­gers Miß­ver­ständ­nis rekur­rier­te, der natio­na­le Sozia­lis­mus sei in der Lage, das Ende der Geschich­te zu ver­ta­gen und die schreck­li­chen Kin­der der Neu­zeit einer Erzie­hung zur Aske­se zu unterwerfen.

Die Lek­tü­re des Auf­sat­zes von ­Slo­ter­di­jk und mei­ner Ablei­tun­gen öff­net neue Zugän­ge zur Beant­wor­tung der Fra­ge, wor­über wir eigent­lich spre­chen, wenn wir über Revol­te, Nach­ah­mungs­ver­bot und grund­sätz­li­chen, radi­ka­len Neu­be­ginn nachdenken.

Von Belang für mei­ne Bestands­auf­nah­me ist fol­gen­des: Ich sehe der­zeit kei­nen Impuls, der zu einer Wie­der­be­las­tung der rech­ten Sze­ne füh­ren könn­te, also kein so wirk­mäch­ti­ges, mit­rei­ßen­des Bild, kei­ne so mobi­li­sie­ren­de Idee, daß es für den Auf­bau einer ein­satz­be­rei­ten, vom je eige­nen Lebens­weg abse­hen­den Kader­or­ga­ni­sa­ti­on aus­rei­chen könn­te. Man nimmt der­lei ja eher dort wahr, wo jun­ge Men­schen für den Erhalt eines faden Wald­stücks auf Bäu­men sie­deln oder tat­säch­lich in See ste­chen, um, zwar gehypt von den Medi­en, aber den­noch unter schwie­ri­gen Ver­hält­nis­sen, auf dem Mit­tel­meer ein aus ihrer Sicht gutes Werk zu tun.

Im Gegen­satz dazu war unse­re Sze­ne nicht in der Lage, ein wert­vol­les Haus direkt am Cam­pus in Hal­le mit »Kadern« so zu bestü­cken, daß man es in revol­tie­ren­der Stim­mung hät­te hal­ten kön­nen, und zwar auch und gera­de gegen den gewalt­sa­men Wider­stand von links, der sich tat­säch­lich vehe­ment ent­lud. Lehr­reich war, daß die meis­ten, die den Kampf hät­ten mit­tra­gen sol­len, letzt­lich eine Stö­rung des je eige­nen Lebens­ent­wurfs höher gewich­te­ten als die Not­wen­dig­keit, ein paar Mona­te oder Jah­re in ein Leucht­turm­pro­jekt zu investieren.

Kader ver­hal­ten sich anders, Kader den­ken in den Kate­go­rien Befehl und Gehor­sam, in Dienst­ka­te­go­rien, gewis­ser­ma­ßen kaser­niert. Kader las­sen sich ein­set­zen und set­zen sich ein – aber wir haben sie nicht.

VII. Man­gel an Ver­bind­lich­keit ist kein rech­tes Pro­blem, son­dern ein Zustand auf der Höhe der Zeit.

Um zu erläu­tern, was damit gemeint ist, muß ich aus­ho­len: Eu­ropa hat eine Kul­tur her­vor­ge­bracht, die welt­weit ein­ma­lig ist. Sie war wis­sen­schaft­lich und tech­nisch, vor allem aber men­tal in der Lage, die gan­ze Welt zu unter­wer­fen und zu prägen.

Die Selbst­er­mäch­ti­gung und die Erhe­bung zum Welt­ge­stal­ter führ­ten zu einer geis­ti­gen und macht­po­li­ti­schen Über­deh­nung und im 19. und 20. Jahr­hun­dert zu zwei Kata­stro­phen: zum einen zur Kon­zep­ti­on und Durch­set­zung rück­sichts­lo­ser Neu­ge­stal­tun­gen von Mas­sen­ge­sell­schaf­ten ent­lang drei­er Gesell­schafts­theo­rien (Mar­xis­mus, Libe­ra­lis­mus, Natio­na­lis­mus) und zum Zusam­men­stoß der aus die­sen Theo­rien ent­wi­ckel­ten, ein­an­der aus­schlie­ßen­den poli­ti­schen Kon­zep­te in zwei Welt- und vie­len Stellvertreterkriegen.

Auf Über­deh­nung und Erschöp­fung die­ser welt­for­men­den und welt­be­herr­schen­den Kraft folg­te die bis heu­te andau­ern­de Selbst­in­fra­ge­stel­lung und Selbst­kor­rek­tur, eine durch Euro­pa selbst betrie­be­ne Ent­wer­tung des Eige­nen, eine Auf­lö­sung aller Din­ge, eine Dekon­struk­ti­on des eige­nen So-Seins, der eige­nen Geschich­te, der eige­nen Daseins­be­rech­ti­gung und des eige­nen künf­ti­gen Weges. Wie konn­te es so weit kom­men? Es gibt drei Erklärungsansätze:

Der ers­te ist The­ma eines Buches aus mei­nem Ver­lag. Es trägt den Titel Die Ver­ach­tung des Eige­nen, der Kul­tur­phi­lo­soph Frank Lis­son denkt dar­in »Über den kul­tu­rel­len Selbst­haß in Euro­pa« nach. Die The­se lau­tet: Auf­bau, Gestalt­wer­dung und Selbst­zer­stö­rung der euro­päi­schen Kul­tur resul­tier­ten aus der­sel­ben Eigen­art – einer aus­dif­fe­ren­zier­ten Fähig­keit zur Abs­tra­hie­rung und Objek­ti­vie­rung, und bei­des wand­te sich in selbst­mör­de­ri­scher Klar­heit gegen die Ent­de­cker die­ses Ana­ly­se­be­stecks selbst.

Wenn die­se Annah­me stimmt, bedeu­tet dies: Das, was geschah und geschieht, ist zwangs­läu­fig und nicht zu ändern, es steckt in uns, und es war der euro­päi­sche Mensch, der zuletzt so sehr aus­griff, daß er sich über­dehn­te und nach der Erobe­rung und Aus­leuch­tung des letz­ten Welt­win­kels den Licht­strahl nach innen rich­tet, um sich bis zur Selbst­zer­flei­schung ken­nen, in Fra­ge stel­len und has­sen zu lernen.

Der zwei­te Erklä­rungs­an­satz ist anthro­po­lo­gisch. Er sieht die skiz­zier­te rasan­te Ent­wick­lung im Men­schen an sich ange­legt. Er sei näm­lich im Moment sei­ner Ent­las­tung von der täg­li­chen Daseins­not in der Lage ver­setzt wor­den, den ent­gren­zen­den Teil sei­ner Eigen­schaf­ten auf die Spit­ze zu trei­ben und zu übertreiben.

Die­se Eigen­schaf­ten sind in Kür­ze nicht leicht zu erklä­ren. Man muß dafür die beson­de­re Stel­lung des Men­schen zur Welt, zur Umwelt beden­ken und ihn sich nackt vor­stel­len, stän­dig auf der ­Suche nach Bede­ckung, stän­dig sich selbst eine Lebens­si­che­rungs­auf­ga­be, ­tas­tend, unsi­cher, hart­nä­ckig, unbe­frie­digt. Die Wer­ke des Sozio­lo­gen ­Arnold ­Geh­len und des Ver­hal­tens­for­schers Kon­rad Lorenz sind für das Ver­ständ­nis die­ses Erklä­rungs­an­sat­zes einer zutiefst mensch­li­chen ­Hybris unver­zicht­ba­re Lektüre.

Der drit­te Erklä­rungs­an­satz hängt mit dem zwei­ten eng zusam­men: Die Ent­fes­se­lung der nicht jähr­lich nach­wach­sen­den, son­dern wäh­rend gan­zer Erd­zeit­al­ter ange­wach­se­nen Ener­gie (Koh­le und Öl und zuletzt, ganz anor­ga­nisch, das Uran) hat jene Ent­las­tung von der täg­li­chen Daseins­not bewirkt. Man kann sich die ener­ge­ti­sche Revo­lu­ti­on gar nicht umwäl­zend genug vor­stel­len: Was frü­her Mensch und Pferd, Hebe­zeug und Was­ser­kraft leis­te­ten, erle­di­gen heu­te die unter­ir­di­schen Wäl­der, deren Rodung und Ver­nut­zung der Kul­tur­so­zio­lo­ge Rolf Peter Sie­fer­le in einem bahn­bre­chen­den Buch beschrie­ben hat.

Was frü­her als äußers­ter Kom­fort sehr, sehr weni­ger Men­schen galt, ist heu­te der ohne jede Eigen­leis­tung ein­ge­for­der­te Lebens­stan­dard jeder pre­kä­ren Grup­pe: Ver­sor­gungs­si­cher­heit auf einem noch vor hun­dert Jah­ren nicht vor­stell­ba­ren Niveau.

Kon­rad Lorenz hat die Schat­ten­sei­ten die­ses anstren­gungs­lo­sen Zustands in sei­nem Buch über die Tod­sün­den der zivi­li­sier­ten Mensch­heit als »Wär­me­tod« bezeich­net und eine »Ver­haus­schwei­nung« des Men­schen wahr­ge­nom­men. Dage­gen ist mit Erzie­hungs­pro­gram­men ange­ar­bei­tet wor­den: mit Aske­se­kon­zep­ten, künst­li­cher Ver­knap­pung, Auf­ru­fen zu Dis­zi­plin, Kon­sum­ver­zicht, mythi­scher Wie­der­be­las­tung und »natur­na­her« Selbstoptimierung.

Der Haken dar­an: All die­se Gegen­mit­tel sind frei­wil­lig, sind nicht lebens­not­wen­dig, sind eine Art Fit­neß­pro­gramm, sind Ein­übun­gen in Nicht­be­tei­li­gung, kör­per­lich und men­tal. Vom Sog und der Strö­mungs­rich­tung unse­rer Zeit hat nichts begrif­fen, wer meint, wir kämen gesell­schaft­lich mit selbst­auf­er­leg­ten Anstren­gun­gen gegen das an, was im quan­ti­ta­ti­ven Sinn mas­sen­haft und ver­lo­ckend anstren­gungs­los Tag für Tag gegen Wie­der­be­las­tung und Selbst­be­schrän­kung geschieht.

– – –

(Die Grund­la­ge die­ses aus zehn Absät­zen bestehen­den Tex­tes ist der Vor­trag »Schlaf­los in Schnell­ro­da«, den Götz Kubit­schek zum Abschluß des Som­mer­fes­tes 2022 vor eini­gen hun­dert Zuhö­rern hielt. Die Absät­ze VIII, IX und X bil­den den 2. online-Teil. Der Gesamt­text liegt mit zusätz­li­chen Anmer­kun­gen in der 113. Sezes­si­on in gedruck­ter Form vor.)

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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