Aus dem bisherigen Befund resultiert eine Ambivalenz, die unsere Zeit prägt: Zum einen erleben wir uns in Europa und in der gesamten westlichen Welt in einer für uns neuen, von uns selbst herbeigedachten, mental schuldbeladenen Rolle, zum anderen haben wir gleichzeitig die globale Konkurrenzlosigkeit der aus dem Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts herausgeschälten Zivilisation »nach den Kulturen« zu konstatieren: Die nichteuropäische Welt ist europäisch, aber ohne Schuldgefühl.
Diese tatsächlich konkurrenzlose globale Zivilisation ist ohne die innere Grenzen- und Hemmungslosigkeit des europäischen Weltzugriffs nicht denkbar. Die Anstrengungslosigkeit des Lebens in dieser weltweit kopierbaren Form ist von Vereinheitlichungen auf allen wesentlichen Feldern gekennzeichnet, von Verflachungen und globalen Vernutzungswellen: Konsum, Wohnen, Kommunikation, Kleidungsstil, Ethik, Musik, Markenbewußtsein, Mobilitätsanspruch.
Die globale Zivilisation lebt von Großerzählungen, die allesamt Weltinnenpolitik suggerieren: Opfergruppen und Schuldzuweisung, Klimakatastrophe, Corona, Gleichheitsversprechen und Grenzenlosigkeit. Vor allem aber behauptet die globale Zivilisation, daß jeder Mensch die Freiheit und das Recht besitze, sich selbst zu entwerfen, sogar immer wieder neu zu entwerfen, frei von allem Hergebrachten, befreit aus jeder Bindung, sei es das Geschlecht oder die Herkunft, die historische Lage oder irgendeine andere Bedingtheit, irgendeine wirkmächtige Rahmensetzung.
Das ist das große Versprechen, das ist das faszinierende Angebot – aber es ist ein Preis dafür zu entrichten. Die Möglichkeiten zu Individualisierung, Ich-Erfindung und Selbstoptimierung haben zugleich und frappierend gründlich zu einem hochsensiblen und einschüchternden Anpassungsverhalten des einzelnen an eine mit Vehemenz vorgetragene Gleichheitsforderung der Gesellschaft geführt. Die Behauptung, der Selbstverwirklichung stehe nichts mehr im Wege, wird ständig durch hypersensible Forderungen nach globaler Verantwortlichkeit des eigenen Handelns und durch Denunzierung, Zurechtweisung und Kriminalisierung von Abweichlern unterlaufen.
IX. Die globale Zivilisation hat uns im Griff. Es gibt an ihr keine Kulturkritik mit Aussicht auf Verbindlichkeit.
Als Leser der Werke Arnold Gehlens hält man Analysebesteck auch für diese Phänomene in der Hand: Gehlen zeigt in seinem Buch über Die Seele im technischen Zeitalter, daß wir als Menschheit die zweite Kulturschwelle fast vollständig überschritten haben. Über die erste stiegen wir, als aus dem Jäger der Bauer wurde, der Nomade seßhaft. In den vergangenen hundertfünfzig Jahren wurde nun aus dem vorindustriellen, an einen organischen Jahreslauf gebundenen Menschen der industrielle und nachindustrielle, der energetisch entlastete Mensch, der Mensch, der ungeheure Ansprüche stellen und auf ihre Erfüllung pochen kann.
Dieser notlose Mensch verkennt, wie sehr er fast nur noch als Teil einer Vernutzungskette angesprochen und bewertet wird. Und von denjenigen, die das begriffen haben und es zurückweisen, versuchen wiederum die meisten, den Menschen mit denselben Mitteln zu retten, die ihn erst in diese Lage brachten: Der Machbarkeitswahn hat auch die konservative, rechte Seite fest im Griff. Vor allem hat er alle konservativ angeschobenen und aus Einsicht in den Verzicht gespeisten grünen Entwürfe in einen grünen Konsum, in einen verlogenen Massenkonsum mit grünem Etikett (und das heißt: mit kaufbarem guten Gewissen) umgebogen.
Gibt es erfolgreiche Abwehr- und Verteidigungskonzepte gegen diese geschmeidige Übermacht? Zunächst dies: Jede Kulturkritik, die sich gegen die Auflösung aller Dinge stemmt, die also der Postmoderne und ihrer zersetzenden Beliebigkeit etwas wenigstens Bremsendes entgegensetzen möchte, ist hilflos und defensiv und eine Art Selbstkonzept oder ein Rückzieher oder eine ärgerliche Vagheit. Drei Beispiele:
Kaum ein Schriftsteller hat sich so grundsätzlich und entlarvend mit der Welt-Herstellung (so sein Begriff) auseinandergesetzt wie Erhart Kästner. Sein Plädoyer für eine horchende Art der Weltwahrnehmung, ein In-Ruhe-Lassen, eine gegen jede Vernutzung gerichtete Weise, sich im Dasein zu bewegen, zieht sich durch seine Bücher wie ein roter Faden.
Dieser Faden endet in Kästners letztem Buch, dem Aufstand der Dinge. Er versucht darin zu beschreiben, wie sehr die Dinge darunter litten, daß wir sie bloß noch taxierten und nicht mehr sie selbst sein ließen. Und er setzt den östlichen, den byzantinischen Weg einer Welt-Bestaunung und Welt-Verwahrung dem westlichen der Welt-Ausspähung, Welt-Ausrechnung, Welt-Bemächtigung, also eben Welt-Herstellung entgegen.
Man stimmt zu und freut sich: das ist ein anderer Ton! Bloß: An mehreren Stellen seines schmalen, so wesentlichen Werkes äußert Kästner hastig und wie von sich selbst erschreckt, daß natürlich niemand zurück wolle dorthin, wo es diese Welt-Vernutzung noch nicht gegeben und noch kein Massentourist in einer halben Stunde Stätten durchtrampelt habe, an die sich anzunähern man Tage brauche. – Also doch wieder nur ein Konstatieren, eine Ratlosigkeit nach der Bestandsaufnahme und ein Rückzieher?
Kästner ist, wo er so schreibt und denkt, ganz beim späten Heidegger, von dessen Schlüsselschrift Die Technik und die Kehre sich nicht ohne Grund auch der Titel der einzigen ökologischen Zeitschrift von rechts ableitet. Die erneute Lektüre dieses Textes bestätigt das, was im Gedächtnis blieb: in der Aufschlüsselung der Problematik und in der Freisetzung der ganzen Kraft von Wörtern großartig – in der Schlußfolgerung ein Paradebeispiel für jene ärgerliche Vagheit, in die jede konservative Kulturkritik abrutschen kann, wenn sie ein »Ich weiß es nicht« nicht über die Lippe zu bringen vermag. Gelassenheit, Verhaltenheit – ja, aber das rückt so rasch so nahe an jene »Idylle im Ungeheuren« (Sloterdijk) heran, vor der wir uns unbedingt hüten müssen.
Wir haben kein Recht, uns in ein wahres Leben im Falschen zurückzuziehen. Wir dürfen über die Möglichkeit einer Insel nachdenken, aber wir dürfen dort nicht anlanden, dürfen vor den Zumutungen der Zeit und der uns zusetzenden Öffentlichkeit nicht in unpolitische Müdigkeit, in Schlafbefangenheit abdrehen.
Sloterdijk weist darauf hin, daß der schlaflos in Ephesos denkende Heraklit für jene nur Verachtung übrig hatte, die »am Morgen nicht zum Gemeinsamen erwachen, sondern in ihrer Privatwelt, ihrer Traumidiotie bleiben, als hätten sie aparte Einsicht«. Wir müssen (wirklich: wir müssen!) morgens fürs »Gemeinsame« erwachen, wenn schon die Nacht ganz unser Eigentum war.
Drittens Gehlen: wohl der ehrlichste. Was weiß er? Er weiß um die oben angedeutete Hilflosigkeit jeder Kulturkritik. Jeder nämlich, der sie äußere, wisse, daß das, was war, nie wieder verbindlich werde, und mehr: daß anspruchsvolle Verbindlichkeit in einer entgrenzten Massengesellschaft und inmitten einer fast geräuschlos agierenden technischen Welt von vornherein eine Unmöglichkeit darstelle und daß das Verlorengegangene nicht mehr für alle wiederaufgefunden werden könne.
Gehlen beendete seine Schrift von der Seele im technischen Zeitalter deshalb konsequent mit dem ebenso berühmten wie zunächst kryptischen Satz, eine Persönlichkeit sei »eine Institution in einem Fall«, »einem« kursiv gesetzt im Original. Das ist sein Ausweg: Wenn auch alle – ich nicht. Eine Persönlichkeit sei eine, wenn sie in sich aufrecht halte, was die Masse einriß, wenn sie verkörpere, was unverkäuflich, unentäußerbar, unantastbar bleiben müsse, von jener Aura umgeben, die aus einer Institution erst eine mache.
Würde und Halt: Überraschend und zugleich irgendwie genial empfiehlt Gehlen, die Anstrengung, eine Institution in einem Fall zu sein, durch feine Selbstironie zu brechen, also den Hofnarr und das Schrullige ein wenig mitzudenken. (Kein Wort mehr – wir wissen doch, was er meint!)
Jedenfalls: Der Kampf um den Menschen, um seine Identität, seine Würde, um seine Ebenbildlichkeit ist in vollem Gange – wohl wurde um ihn stets gekämpft, aber heute wird er in die Irre, in eine Wüste ohne Beistand geführt, und diejenigen, die mit gutem Willen die Rettung nur in einer anderen Form von gottferner Konstruktion suchen, sind dem nützlich, der für die Gottferne sorgte. Man kann nicht mit den Mitteln des Feindes den Feind bekämpfen. Man kann ihn damit irritieren, aber man kann nicht über ihn siegen: Man ist als Sieger in einem Kampf, dessen Waffen der Feind bestimmte, dieser Feind selbst geworden.
X. Es könnte vor diesem Hintergrund unsere Aufgabe sein, weniger zu machen und mehr zu wachen.
Damit zurück zum extravaganten Titel dieser Überlegungen: »Schlaflos im Widerstand« bezieht sich mitnichten auf Schlaflos in Seattle, sondern, wie eingangs bereits erwähnt, auf das Kapitel »Schlaflos in Ephesos«, das sich in Peter Sloterdijks Buch Du mußt dein Leben ändern findet und um Fragmente des aus Ephesos stammenden Vorsokratikers Heraklit kreist.
Es geht in diesem Kapitel, ganz knapp zusammengefaßt, um das Hereinholen und Keimenlassen »vorlogischer Aufschlüsse« in das Denken. Sloterdijk sieht im 20. Jahrhundert vor allem Heidegger als denjenigen Pionier an, der »ein Konzept von ›Denken‹« verfolgte, »das deutlich näher beim meditierenden Wachen als bei der Konstruktion oder Dekonstruktion von Diskursen lag.« Dort, wo »so plausibel wie anspruchsvoll« vorgedacht worden sei, solle angeknüpft werden: »Es gilt jetzt, die von Heidegger in Aussicht genommene Verwandlung des Denkens in eine Wachheitsübung ohne Rückschritte hinter das Niveau der modernen Rationalitätskultur vorzunehmen.«
Was soll das heißen, was ist das? Schon wieder ärgerliche Vagheit? Ich meine: nein, aber es gehört zu diesem Nein die Ehrlichkeit, zuzugeben, daß ich vermute, es könnte sich lohnen, von diesem Punkt, von dieser Aufgabenstellung aus weiterzudenken. Ein Ergebnis, ein Fahrplan liegt nicht vor, bloß einige Vorschläge.
Um also das, was Sloterdijk an Heidegger angelehnt sagt, anders auszudrücken: Es geht um die Ankoppelung unseres Denkens, Machens, Welt-Ausrechnens an etwas, das man den »horchenden Vorbehalt« nennen könnte. Das Horchen, das wache Hinhören ist die Rückbindung an eine Größe, der man zuhören muß und will und deren Anspruch einen daran hindern sollte, das Tun nur vom Ich und von der Machbarkeitsebene her zu überprüfen und stets rasch und recht einfallslos aufs Naheliegende, Billige, also aufs Mittun mit den Mitteln der Vernutzung zu verfallen.
Es geht um eine Vertikalspannung, die uns auf eine ganz andere Art wachhalten würde als jene horizontale Disziplin, die sich nur an der Mechanik der Gesellschaft, des Politikbetriebs, der gekonnt eingefädelten Aufmerksamkeitserringung, der Marketing-Plazierung abarbeitet. Es geht also nicht mehr nur um einen Kampf gegen die Sprachregime der anderen oder um die Konstruktion des eigenen Machtapparats, mit dem die Mobilisierungsfähigkeit des Gegners übertrumpft und zerstört werden soll.
Politiker müssen machen, was Politiker machen müssen, und Parteien haben nach den Bewegungsgesetzen des Parteienstaats zu agieren. Ein Verlag ist aufs Buchgeschäft ausgerichtet, aber alles das wäre tatsächlich anders, geschähe es unter horchendem Vorbehalt.
Es müssen sich unter uns ein Denken und eine Verhaltenslehre verbreiten, die diesen Vorbehalt pflegen. Es muß darum gehen, mit sehr wachen Sinnen, also schlaflos, in sich etwas gründen zu lassen und auf diese Gründung zu achten. Der Vorbehalt gegen das Machen rührt daraus, daß, wer eine aller Machbarkeit entzogene Ordnungserzählung wirklich wahr- und ernst nimmt, sein Handeln stets in diese Ordnungserzählung eingefügt sehen möchte.
Ist diese Form von Wachsamkeit denjenigen vorbehalten, die an Gott glauben oder ihn zumindest als einen Vertriebenen betrachten, als jemanden also, der einmal wirkmächtig anwesend war und recht eigentlich einen Anspruch auf den großen Garten in uns, den Ur-Garten hat? Entfernung von Gott, die Ungläubigkeit, die Zerstörung der göttlichen Ordnung und die Infragestellung ihrer Verbindlichkeit, zuerst in jedem einzelnen, dann in der ganzen Gesellschaft: Nicht wenige Denker sehen in der daraus resultierenden Selbstermächtigung des Menschen den eigentlichen, weil geistigen Grund für die Katastrophen der jüngeren Geschichte und ihrer Fortdauer in wechselnden Gewändern bis heute.
Ich vermute, daß niemandem die Lähmung unbekannt ist, die uns überfällt, wenn wir darüber nachdenken, wie wenig wir dem, was mit uns geschieht, entgegenzusetzen haben, solange wir es mit den Mitteln der Gegnerschaft auf horizontaler Ebene tun. Diese Lähmung, die in den vergangenen Jahren viele gute Leute ergriffen hat, kann nur dadurch überwunden werden, daß wir vor das Denken und das Tun das Wachen setzen.
Wir müssen in diesem Sinne des Wortes schlaflos sein.
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(Die Grundlage dieses aus zehn Absätzen bestehenden Textes ist der Vortrag »Schlaflos in Schnellroda«, den Götz Kubitschek zum Abschluß des Sommerfestes 2022 vor einigen hundert Zuhörern hielt. Die Absätze I bis VII bilden den 1. online-Teil. Der Gesamttext liegt mit zusätzlichen Anmerkungen in der 113. Sezession in gedruckter Form vor.)