Vorbemerkung von Filipp Fomitschow
Die Frage nach der „russischen Sicht“ auf die zeitgenössischen „Neuen Rechten“ in Deutschland hat – wie jede solche Frage – mindestens zwei Facetten. Die eine liegt in dem akademischen Bereich und die andere im öffentlichen. Irgendwo dazwischen gibt es auch einen politischen.
Hier wird nur die erste Dimension erörtert, da es zu den beiden anderen nicht viel zu sagen gibt: Sowohl in der russischen Gesellschaft als auch in der Politik – die es im Großen und Ganzen in Rußland nicht gibt – herrscht ein tiefes und offenbar historisch verwurzeltes Mißtrauen oder sogar Verachtung gegenüber den Intellektuellen, und das Wort „Rechte“ wird fast ausnahmslos mit dem Feindbild „faschistisch“ assoziiert, das sich durch alle Ritzen der offiziellen Medien zieht.
Anders verhält es sich mit Vertretern der akademischen Welt und den ihr nahestehenden Intellektuellen, aber hier ist aus einer Reihe von Gründen eigentlich nichts über die deutsche „Neue Rechte“ bekannt. Es gibt konservative Leute in der Akademie, auch unter den höheren Professoren, die entweder etwas über den zeitgenössischen deutschen „radikalen Konservatismus“ wissen (ich ziehe es in meiner Forschung vor, den Personenkreis um das „Institut für Staatspolitik“ so zu bezeichnen, um das Wort „Rechte“ zu vermeiden), oder sogar in privaten Gesprächen wohlwollend darüber reden.
Diese Menschen lassen sich jedoch an den Fingern einer Hand abzählen. Was man mit Sicherheit sagen kann, ist, daß es noch keine Studie über die Tätigkeit und den Einfluß des IfS in der russischen akademischen Landschaft gibt – dieses Thema ist absolut eine terra incognita.
Die vollständigste Informationsquelle dazu ist für den russischsprachigen Leser Wikipedia – der Artikel über die „Neuen Rechten“ auf Russisch ist einfach eine gute Übersetzung des deutschen, dessen Qualität und Unparteilichkeit jedoch in Frage gestellt werden könnte. Ironischerweise ist der einzige Artikel auf Russisch über die französischen (obwohl über die „Nouvelle Droite“ selbst ziemlich viel geschrieben wurde) und die deutschen „Neuen Rechten“ einfach die Übersetzung eines äußerst tendenziösen Artikels des berüchtigten deutschen Politikwissenschaftlers Armin Pfahl-Traugber (Die „Neue Rechte“ in Frankreich und Deutschland. Zur Entwicklung einer rechtsextremistischen Intellektuellenszene, 2009).
Veröffentlicht wurde sie 2011 in einem Sammelband, herausgegeben von dem mehr als fragwürdigen russischen Ideologen Alexander Dugin. Ganz abgesehen davon, daß die Qualität der Übersetzung zu wünschen übrig läßt (die Vornamen von Armin Mohler und Arthur Moeller van den Bruck werden ständig verwechselt), wird das „Institut für Staatspolitik“ als Hauptinstitution der „Neuen Rechten“ in dem Artikel niemals erwähnt – nur der Kreis von Pierre Krebs, Criticón und Junge Freiheit.
Ab und zu wird in ziemlich oberflächlichen politikwissenschaftlichen Schriften über den zeitgenössischen „Rechtsradikalismus“ oder über die „Alternative für Deutschland“ etwas erwähnt, wobei nicht zwischen den französischen und deutschen „Neuen Rechten“ unterschieden wird und das gesamte Gedankengut bedauerlicherweise entweder auf „Konservative Revolution 2.0“ oder auf die Reihe von Julius Evola, Alain de Benoist und Guillaume Faye reduziert wird. Oft wird die AfD einfach den „Neuen Rechten“ gleichgesetzt.
Jedoch gibt es auf Russisch ein paar gute Studien über Armin Mohler, sein Werk über die „Konservative Revolution“ ist auch übersetzt worden, und 2011 wurde eine hervorragende Veröffentlichung über die konservative Theorie von Gerd-Klaus Kaltenbrunner herausgegeben. Das ist allerdings alles.
Der aktuelle Stand der Dinge auf diesem Gebiet ist bestenfalls unbekannt, und schlimmstenfalls wird er aus verstreuten, oberflächlichen und politisch engagierten Artikeln deutscher Politikwissenschaftler zusammengetragen, deren Hauptziel offensichtlich darin besteht, das Thema so stark wie möglich zu diskreditieren.
Die Tätigkeit des IfS wird von ihnen bewußt als krypto-faschistisch dargestellt, und zur sozialen und akademischen Marginalisierung wird der Schwerpunkt auf die am meisten in Verruf geratenen Autoren gelegt, die auf die eine oder andere Weise bemerkenswert für die „Neuen Rechten“ seien – die autoritär-nationalistischen Theoretiker der „Konservativen Revolution“, der antisemitismusverdächtige Carl Schmitt (vor allem mit seinen frühen Werken) und die proto-faschistischen Theoretiker wie Julius Evola, mit denen es kaum eine wirkliche Verbindung gibt.
Die Anderen, die nicht so randständig zu sein scheinen, versucht man mit angstmachenden Etiketten zu versehen. So werden z.B. Vertreter der italienischen soziologischen Eliteschule – überwiegend bürgerlich-konservativ orientiert – als „Sympathisanten und Wegbereiter des Faschismus“ genannt. Der Einfluß und die Rolle der präsentableren Autoren wird andererseits so weit wie möglich verborgen.
Zum Thema russischer Sicht zurückkehrend wäre es nicht übertrieben zu sagen, daß die von mir durchgeführte Forschung den ersten Versuch darstellt, akademisches Interesse am zeitgenössischen deutschen Konservatismus in Form einer umfangreichen Studie zu entwickeln, die eines Tages zu einem vollwertigen Buch ausgeweitet werden könnte.
Die große Menge an Material, sowie die einzigartigen Quellen, die Herr Lehnert mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte, haben es mir in meiner Masterarbeit ermöglicht, das Phänomen der zeitgenössischen „Neuen Rechten“, ihre Geschichte und ihren Inhalt umfassend zu beleuchten. Die ideologischen Stempel und vereinfachenden Schemen, die von deutschen Forschern angeboten werden, sind nicht in der Lage, die Tiefe und Fundamentalität der intellektuellen Tradition zu offenbaren, auf die sich das „Institut für Staatspolitik“ stützt – auch wenn man damit nicht einverstanden ist.
Es gibt heute in Deutschland also keinen zweiten Ort wie Schnellroda, wo das konservative Denken in seiner ganzen Vielfalt lebt und blüht – von Edmund Burke und Alexis de Tocqueville bis Arnold Gehlen und Gerd-Klaus Kaltenbrunner.
In dem folgenden Interview mit Herrn Lehnert ist es uns gelungen, einige Fragen aus dem Bereich der philosophischen und historischen Ansichten zu erörtern und eine Reihe von Details zum aktuellen Stand der Dinge zu klären. Zweifellos würde kein Gespräch ausreichen, um auch nur ein Zehntel der wichtigen Themen anzusprechen, aber man fängt immer klein an. Ich gebe auch die Hoffnung nicht auf, daß im Rahmen meiner Studie weitere Gespräche mit den führenden Vertretern des IfS und ihm nahestehenden Politikern geführt werden können.
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FILIPP FOMITSCHOW: Woraus entsteht die deutsche Identität? Was heißt es heute, deutsch zu sein?
ERIK LEHNERT: Zunächst ist „Identität“ ein recht problematisches Wort, weil es bedeutet, daß irgendetwas mit sich selbst identisch ist, daß es nichts gibt, was es von außen definiert. Deswegen ist Identität so umstritten. Und für Deutsche ist es noch ganz besonders problematisch, weil die Deutschen geschichtlich aus verschiedenen Stämmen und Staaten, wie z.B. den Bayern und Preußen, hervorgegangen sind, dazu die konfessionelle Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten. Dadurch stabilisierte sich die Kleinstaaterei, auch wenn daneben die Reichsidee lebendig blieb, mit der versucht wurde, den Anspruch Deutschlands als einer europäischen Ordnungsmacht aufrecht zu erhalten.
Für mich persönlich speist sich die deutsche Identität aus der Geschichte, was bedeutet, daß die Deutschen eine historisch gewachsene Schicksalsgemeinschaft sind, die eine gemeinsame Geschichte und Kultur haben und sich natürlich im weitesten Sinne über eine gemeinsame Abstammung definieren. Heute bedeutet „deutsche Identität“ vor allem ein Bekenntnis zu dieser Schicksalsgemeinschaft und das Sicherstellen des Überlebens dieses Volkes, weil jeder, der sich als Deutscher fühlt, zumindest zu der Überzeugung sein sollte, daß die Welt ohne Deutsche ärmer wäre.
FOMITSCHOW: Eine kleine Präzisierung: Heißt das, daß man dazu nicht obligatorisch deutscher Abstammung sein muß?
LEHNERT: Das ist ein heikler Aspekt, weil es zu Zeiten bei uns übertrieben wurde mit der Abstammungsgemeinschaft – als man versucht hat, in den 1930er Jahren die Juden, die zur deutschen Identität dazugehören, weil sie teilweise seit Jahrhunderten hier gelebt und so etwas wie einen eigenen Stamm in Deutschland gebildet haben, auszumerzen. Insofern ist es klar, daß die Möglichkeit besteht, daß jemand, der nicht ursprünglich zu Abstammungsgemeinschaft gehört, Deutscher wird – allerdings gehört dazu der Wille, Teil der deutschen Schicksalsgemeinschaft zu werden und sich nicht in eine Parallelgesellschaft zu flüchten. Und es braucht natürlich Zeit, manchmal Generationen.
FOMITSCHOW: Armin Mohler bevorzugte die Selbstbezeichnung „Neue Rechte“ gegenüber „Konservatismus“, was vermutlich darauf zurückzuführen war, daß er sich auf der Ebene der Namensgebung vom etablierten und sich permanent liberalisierenden Konservatismus der Bundesrepublik abgrenzen wollte. Gerd-Klaus Kaltenbrunner blieb beim Begriff „Konservatismus“ und vermittelte auf beeindruckende Weise seine Essenz. Wie würden Sie sich heute definieren? Ist der Begriff „Neue Rechte“ nicht stigmatisiert?
LEHNERT: Ernst Jünger hat Mitte der 1950er Jahre einen umfangreichen Essay über den französischen Denker und Gegner der Revolution von 1789, Antoine de Rivarol, veröffentlicht und ist darin auf das Problem des Begriffs „konservativ“ eingegangen. Jünger schrieb, was meines Erachtens bis heute gilt, von einem unbrauchbaren Begriff, weil er so unbestimmt ist, betonte aber andererseits die Schwierigkeit, einen besseren Begriff zu finden.
Vor diesem Problem stehen wir immer noch, wenn wir uns mit der Frage „konservativ“ versus „Neue Rechte“ beschäftigen. Die Aversion von Mohler gegen den Begriff „konservativ“ hat natürlich damit zu tun, daß in seiner Zeit, in den 1950er und 1960er Jahren, CDU und CSU sich als konservativ bezeichneten, obwohl sie die liberal-kapitalistische Demokratie und den Fortschrittsglauben der Bundesrepublik unterstützten.
Konservativ war nach der Lesart jemand, der sich den Sieg des Liberalismus mit etwas Nostalgie verbrämte. Deshalb hielt Mohler den Begriff für politisch nutzlos. Denn die Unbestimmtheit des Begriffs „konservativ“ führt dazu, daß auch ein Sozialdemokrat konservativ sein kann, so daß ich den Begriff „konservativ“ immer mit einer näheren Bestimmung verwenden würde – beispielsweise „rechtskonservativ“.
Damit wird klar, worauf man sich bezieht: Auf eine Opposition zur links-ideologisch dominierten Gegenwart; oder auch „national-konservativ“, was den Bezug auf die Nation als Grundlage politischen Handelns unterstreicht. Was den Begriff „Neue Rechte“ betrifft, dient er zwei Zielen: Zum einen sich von den Konservativen, also der CDU/CSU abzugrenzen; und zum anderen, die Bezeichnung „rechts“ dem Nationalsozialismus entgegenzustellen. Ähnlich der „Neuen Linken“, die Stalin abgeschworen hatte, wollte Mohler die „Rechte“ von Hitler abtrennen.
Das ist keineswegs eine nachgereichte Geschichtsklitterung, sondern entspricht der Selbstwahrnehmung der Nationalsozialisten, die sich nicht nur gegen den Bolschewismus, sondern ebenso gegen die Rechte wandten. Die Rechte mußte also, anders als die Linke, nicht abschwören. Im Unterschied zu den Konservativen betonte Mohler in der Nachfolge Jüngers aber auch das national-revolutionäre Moment der Konservativen Revolution: Die alten Dinge wie Thron und Altar können keine Bedeutung mehr für die „Neue Rechte“ haben, weil sie zerstört sind und die Bindung an sie nicht mehr gilt.
Letzter Punkt: Ja, der Begriff „Neue Rechte“ ist stigmatisiert und wird von den politischen Gegnern und auch dem Verfassungsschutz in diesem Sinne genutzt. Die „Neue Rechte“, das seien Extremisten, die irgendwas Schlimmes gegen die Verfassungsordnung unternehmen wollen, heißt es dann. Das ist natürlich Unsinn. Aber die Stigmatisierung hängt auch nicht am Begriff, sondern daran, daß wir, egal wie unsere Selbstbezeichnung lautet, zu vielen ideologischen Grundüberzeugungen unserer Zeit im Gegensatz stehen.
FOMITSCHOW: In einem Gespräch zwischen Benedikt Kaiser und Götz Kubitschek wurde über das „schlafende Volk“, über die Existenz einer „schweigenden Mehrheit“ gestritten. Glauben Sie, daß es diese schweigende Mehrheit heute in Deutschland gibt?
LEHNERT: Zuerst muß die Frage beantwortet werden, was man unter der schweigenden Mehrheit versteht. Wenn wir nur auf die Wahlen schauen und davon ausgehen, daß der Souverän, das Volk, im Grunde nur alle vier Jahre aufgerufen ist, seine Stimme abzugeben, dann haben wir natürlich eine schweigende Mehrheit, die nicht zur Wahl geht. Die liegt in Deutschland zwischen 30 und 70 Prozent, je nachdem, welche Wahl es betrifft.
Daß diese Mehrheit schweigt, hat aber nichts damit zu tun, daß sie eigentlich Unterstützer unserer Auffassungen wären. Wir haben keine schweigende Mehrheit, die, wenn man sie zum Sprechen bringen könnte, auf einmal eine rechte Mehrheit wäre.
Die Abwendung vom politischen Betrieb hat ganz verschiedene Gründe: Resignation, Desinteresse und so weiter. Ich glaube auch nicht, daß diese schweigende Mehrheit, also die, die sich nicht bei den Wahlen zeigt, zu 100 Prozent auf einer Seite wäre, sondern ich nehme an, daß sich das auf die verschiedenen Parteien verteilen würde. Maximal ein Viertel der schweigenden Mehrheit teilt unsere Position, aber selbst das ist noch eine sehr optimistische Einschätzung.
FOMITSCHOW: Diese Frage könnte noch vertieft werden, und zwar: Kann die Masse überhaupt ein politisches Subjekt sein? Wenn ja, welche Macht hat dieses Subjekt?
LEHNERT: Es gibt die romantische Vorstellung vom mündigen Volk als politischem Subjekt. Diese Idee steht hinter der Rede von der „schweigenden Mehrheit“. Ich sehe das anders: Das Volk zeigt sich heute vor allen Dingen als Masse und nicht als gegliederte Einheit.
Das ist natürlich trotzdem ein politischer Faktor von immenser Bedeutung. Nicht nur durch die Frage, welche Wahlentscheidung sie treffen, sondern auch dadurch, daß die Masse immer den Zeitgeist repräsentiert und durch die ihr innewohnende Trägheit auch dafür sorgt, daß ein bestimmter Zeitgeist vielleicht viel, viel länger überdauert, als die politischen Realitäten das hergeben. Die Masse ist also ein politischer Faktor, der sowohl Subjekt als Objekt sein kann.
Dementsprechend gibt es historische Momente, in denen die Masse eine herausragende Rolle spielt, z.B. der Umbruch 1989/90, als der Kommunismus unterging. Hier spielte die Masse eine Rolle, auch wenn sie keinen Einfluß auf die wirtschaftlichen Umstände hatte, die den Niedergang des Kommunismus beschleunigt haben.
Die Masse spielt immer dann eine Rolle, wenn sich ein bestimmter Prozentsatz der Menschen von dem System abwendet. Denn selbst der Diktatur fällt die Aufrechterhaltung der Herrschaft schwer, wenn die permanent gegen die Masse arbeiten muß. Der Moment, wann die Masse zum Subjekt wird, läßt sich in der Gegenwart schwer ausmachen, das ist eher retrospektiv möglich. Denn dieser Moment hängt von vielen Faktoren ab, u.a. davon, ob die Leute für eigenes Fortkommen in dem jetzigen System noch eine Chance sehen, und ob es ein mehrheitsfähiges Gegenbild zur aktuellen Gesellschaft gibt.
Das wäre der Moment, wo Masse Subjekt wird. Allerdings ist heute die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieses Moments geringer geworden, weil die medialen Steuerungsmechanismen viel ausgefeilter sind, als das noch vor 30 Jahren der Fall war.
(Teil 1 von 3)
Laurenz
Da ich weder Akademiker noch Intellektueller bin, beides mich für meine Person auch nicht interessiert, bin ich EL dankbar, das Fenster mit Zugluft in diesen Raum mit verständlicher Sprache zu öffnen & mit kurzen Sätzen viele Themen abzuhaken. Auch aus meiner proletarischen Sicht kann ich alles unterschreiben, was EL hier sagt, bis auf den letzten Absatz. Marx hatte in einem Punkt Recht, das materielle Sein bestimmt das Bewußtsein. Die schweigende Mehrheit geht nicht wählen, weil das materielle Sein sie nicht zwingt. Sobald der Zwang für viele entsteht, schwindet die schweigende Mehrheit. Noch nie in den letzten 30, bzw. 70 Jahren im Westen war die gesellschaftliche Situation einer Mehrheit so bedroht wie jetzt. Der Auslöser war die Machtergreifung der Ampel, also der woken Kultur-Marxisten.