Als vor mehr als zehn Jahren das Buch 1913. Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies erschien, war schnell klar, daß hier jemand eine so geniale wie naheliegende Idee gehabt hatte.
Illies nahm sich ein historisch nicht besonders ereignisreiches Jahr und entfaltete vor dem Leser ein kulturgeschichtliches Kaleidoskop, indem er Begegnungen, Ereignisse, Briefe und ähnliche Zeugnisse in eine bestimmte Ordnung brachte. Diese collagenartige Anordnung erwies sich als so eingängig, daß aus dem Buch schnell ein internationaler Bestseller wurde (was natürlich auch mit dem Jahr 1913 selbst zu tun hatte, dem bekanntlich der Untergang folgte).
Illies hat dieses Erfolgsrezept auch in weiteren Büchern zur Anwendung gebracht und in einem Interview bekannt: »Ich habe als Student der Geschichte so viele Bücher lesen müssen, die mich gequält haben, weil mir das Lebendige und das Sinnliche fehlte. Deshalb bin ich froh, eine Methode gefunden zu haben, Geschichte anders zu erzählen.«
Diese Methode hat viele Nachahmer gefunden, weil ein solches Erfolgsrezept natürlich verführerisch ist. Allerdings hängt das Ergebnis zu einem nicht geringen Teil von demjenigen ab, der diese Methode anwendet. Aus der Collage kann schnell eine beliebige Aneinanderreihung von interessanten Begebenheiten werden, ohne daß sich der übergeordnete Zusammenhang erschließt. Womöglich gibt es den gar nicht, und der Autor hat sich nur vom Durchklicken der Wikipedia-Verweise inspirieren lassen und seine Lesefrüchte dementsprechend sortiert?
Bei dem Buch Feuerland. Eine Reise ins lange Jahrhundert der Utopien 1883 – 2020 (München: Siedler 2022, 304 S., 24 Euro) von Peter Neumann (geb. 1987), einem provomierten Philosophen, der seit 2021 bei der Zeit als Feuilletonredakteur arbeitet, läßt sich dieser Eindruck nicht ganz zerstreuen. Sein Buch ist nach der »Methode Illies« gearbeitet, ohne daß klar wird, was eigentlich die Klammer sein soll, die das Potpourri zusammenhält.
Es geht um das »Jahrhundert der Utopien«, das Neumann 1883 mit dem Ausbruch des Vulkans Krakatau beginnen läßt. Um daraus irgendeine zukunftsweisende Aussage zu gewinnen, bezieht er sich auf die Erinnerungen eines Hamburger Verwaltungsbeamten, in denen sich der Hinweis findet, daß »das Schlimmste noch bevorstehen« werde. Wie das 20. Jahrhundert verlaufen ist, wissen wir aber alle.
Eingeteilt ist das Buch in drei Teile, die mit »Fieber« (1883 – 1914), »Knall« (1917 – 1955) und »Walze« (1962 – 2020) überschrieben sind. Im ersten Teil geht es um bekannte intellektuelle Begegnungen und Auseinandersetzungen. Unterbrochen wird das Kapitel durch eine Umfrage von 1899, die ein Stimmungsbild der Hoffnungen einer Epoche voller Tatendrang zeigt. Das alles ist gefällig erzählt, ohne daß deutlich wird, warum es noch einmal erzählt werden muß.
Sicherlich kann man Neumann nicht absprechen, über ein gewisses Einfühlungsvermögen zu verfügen. Aber auch das stößt da an Grenzen, wenn er Heidegger 1962 auf einer Griechenlandreise begleitet, die von Erhart Kästner initiiert wurde, und auf der die Gespräche regelmäßig ins Leere gelaufen seien. »Auch über Kästners Zeit in Griechenland während des Krieges, seinen damaligen Jubel über die Rückkehr der arischen Rasse ins Südland, versucht man lieber zu schweigen.« Abgesehen von der denunziatorischen Umdeutung eines Zitats: Warum sollten die beiden nicht darüber gesprochen haben, was sie mit Griechenland verbindet?
Neumann beherrscht, wenn man von einigen inhaltlichen Gewaltsamkeiten absieht, die Kunst der Miniatur durchaus meisterhaft. Aber es wird kein Buch daraus. Es fehlt die zündende Idee, die das Ganze plausibel zusammenhält. Das ist bei dem Journalisten Timo Feldhaus (geb. 1980) anders. Sein Buch Mary Shelleys Zimmer. Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte (Hamburg: Rowohlt 2022, 318 S., 26 Euro), zu dem Illies ein sich vor Lob überschlagendes Rückseitenzitat beigesteuert hat, nimmt sich wie sein Vorbild ein Jahr vor. Allerdings geht es ihm nicht um das Jahr selbst, sondern um ein Ereignis und dessen reale und vermeintliche Folgen, die sich anschließend zutrugen.
Wieder geht es um einen Vulkanausbruch, diesmal den auf einer indonesischen Insel gelegenen Tambora, der zwischen dem 10. und 15. April 1815 nach einer gigantischen Explosion eine Schwefelwolke ausstieß. Es handelte sich um die größte Eruption eines Vulkans, die Menschen jemals erlebt haben. Die Schwefelwolke wird mittlerweile für ein Phänomen verantwortlich gemacht, das 1816 zu einem »Jahr ohne Sommer« führte. Eine Klimakatastrophe, denn das Wetter spielte 1816 und in den folgenden Jahren weltweit verrückt: Es regnete ständig, es war kalt, was zu Mißernten und Hungersnöten führte. Das hatte wiederum in Europa Unruhen zur Folge, denen eine Auswanderungswelle folgte.
Der Titel des Buches verweist auf eine damit im Zusammenhang stehende Geschichte, die sich schon in Wolfgang Behringers maßgeblichen Buch zum Tambora-Ausbruch und seinen Auswirkungen findet: Mary Shelley hatte mit ihrem Geliebten (und späteren Ehemann), dem Dichter Percy Shelley, und ihrer Schwester die englische Heimat verlassen und war am Genfer See zu dem bekannten und von ihnen verehrten Schriftsteller Lord Byron gestoßen. Da es die ganze Zeit regnete (Wetter!), langweilte man sich trotz der Promiskuität der Runde irgendwann, so daß Byron einen Wettbewerb um die beste Horrorgeschichte auslobte. Das war nicht nur die Geburtsstunde des Vampirromans (an dessen Entstehung sowohl Byron und sein Leibarzt als auch Shelley beteiligt waren), sondern eben auch die von Frankenstein und dem aus dem Ruder laufenden künstlichen Menschen.
Feldhaus ergänzt diese Episode nicht nur um die außergewöhnliche Familiengeschichte Mary Shelleys, sondern auch um verschiedene andere Episoden dieser Jahre, die manchmal etwas an den Haaren herbeigezogen wirken. Etwa wenn Napoleon die Schlacht bei Waterloo wegen des Dauerregens verloren haben soll, was erstens zweifelhaft ist und zweitens nichts mit dem Tambora zu tun hat, denn die Schlacht fand im Juni 1815 statt, das Jahr ohne Sommer folgte noch. Aber ohne Napoleon geht es in einem Buch über die Zeit nicht – ebensowenig wie ohne Goethe, der ebenfalls ausführlich gewürdigt wird.
Einen anderen Weg geht Wolfgang Martynkewicz (geb. 1955) mit seinem neuen Buch. Er hat den Illies-Pfad, den er vor einigen Jahren mit einem Buch über das Jahr 1920 betreten hatte, wieder zugunsten seiner eigentlichen Stärke verlassen. Die hatte er 2009 mit Salon Deutschland. Geist und Macht. 1900 – 1945 schon einmal gezeigt, als er die Salonkultur und deren Netzwerke sehr kenntnisreich und ausgewogen beschrieb. In Das Café der trunkenen Philosophen. Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Denken revolutionierten (Berlin: Aufbau 2022, 459 S., 30 Euro) verfolgt Martynkewicz ein anderes Netzwerk bis in seine feinsten Verästelungen.
Es geht um den sich Anfang der 1930er Jahre in Frankfurt am Main zusammenfindenden Kreis von Intellektuellen und deren Lebensschicksale. In Frankfurt befand sich nicht nur das Institut für Sozialforschung, sondern auch der Theologe Paul Tillich sowie die Soziologen Karl Mannheim und Norbert Elias waren an der dortigen, nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Universität tätig. Auch die Philosophin Hannah Arendt, die nach ihrer Affäre mit Heidegger Günther Stern, der später unter dem Namen Günther Anders bekannt wurde, geheiratet hatte, fand sich dort ein.
Was hatten diese Personen gemeinsam? Sie lebten und arbeiteten in Frankfurt und besuchten dasselbe Café, das »Laumer« im Westend. Daß es sich bei der überwiegenden Mehrheit um Juden handelte, kam hinzu, ohne daß es für den Kreis von besonderer Bedeutung gewesen wäre, denn die wenigsten bekannten sich dazu, sondern suchten ihr Heil in Marxismus, Psychoanalyse und eben der Soziologie als neuer Leitwissenschaft. Man war davon überzeugt, den Schlüssel zur Beantwortung der drängendsten Fragen in der Soziologie gefunden zu haben. Doch die Konzepte, die man vertrat, waren ziemlich unterschiedlich, wenngleich diese Unterschiede vor allem untereinander wahrgenommen wurden. Für Außenstehende handelte sich um mehr oder weniger orthodoxe Marxisten, die sich um Details zankten. Wen interessierte, ob Mannheims Buch Ideologie und Utopie ein Angriff auf den Marxismus war oder doch eher eine Erneuerung einer marxistischen Fragestellung?
Einig zeigte man sich allerdings darin, daß eine historische Stunde angebrochen war und sie dazu berufen waren, diese zu nutzen. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die man in diesem Kreis lange nicht ernst genommen hatte, änderte die Situation grundsätzlich. Der gesamte Kreis mußte ins Exil. Selbst der nichtjüdische Paul Tillich verlor seinen Lehrstuhl, weil er Sozialist war. In den Vereinigten Staaten traf man sich größtenteils wieder, wo die alten Animositäten unter den neuen Bedingungen gediehen. Aber auch hier blieb man von der eigenen Bedeutung überzeugt.
Einlösen konnten diesen Anspruch letztlich nur Adorno und Horkheimer, denen es nach 1945 tatsächlich gelang, das Meinungsklima in der alten Heimat komplett umzukrempeln. Dabei kam ihnen entgegen, daß das revolutionäre Subjekt des Marxismus wandelbar war: Die Juden wurden zum »Gegenpunkt zur Konzentration der Macht« (Adorno). Sichtbar werden diese Zusammenhänge nur, weil Martynkewicz sich nicht mit der Collage zufrieden gibt, sondern die Linien auszieht.