Der im vergangenen Jahr verstorbene Günter Maschke ist nicht der einzige Denker des Geburtsjahrgangs 1943, der eigenwillig zwischen rechts und links oszillierte, durch radikale Originalität faszinierte – und an dem wir unseren geistigen Zugriff nicht mehr schärfen können.
Anders als Maschke starb der zentrale Theoretiker des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, Hans-Jürgen Krahl, jedoch gänzlich »unvollendet« mit gerade 27 Jahren. Sein früher Tod sollte – zusammen mit den Nachwirkungen des Dutschke-Attentats – die längst zerstrittene APO in Sektiererei zurückwerfen. Ebenso rapide, wie sein Wirkungskreis zerstob, geriet Krahls zuvor gewichtiger Name im Schatten des ikonischen Dutschke in Vergessenheit. Gleichwohl bewahrte ihn das davor, sich in den unerträglichen Choral der Veteranenerzählungen einzureihen, die seit 1998 alle zehn Jahre bundesrepublikanische Bibliotheken überschwemmen.
Hans-Jürgen »HJ« Krahl wurde am 17. Januar 1943 in Sarstedt bei Hannover in eine Angestelltenfamilie geboren und verlor noch als Säugling bei einem Bombenangriff das rechte Auge. Seine Jugend war eine »Odyssee durch die Organisationsformen der herrschenden Klasse« (Krahl über Krahl): Von den Ludendorffern über Engagements in rechten Kleinparteien und in Kirchenkreisen bis hin zur Jungen Union führte sein Irrlichtern durch die späte Adenauerära auf der Suche nach Identität, einschließlich nationalromantischer Gehversuche in Lyrik wie Prosa.
Nach dem Abitur 1963 schrieb er sich zunächst in Göttingen ein und nahm das Band der Landsmannschaft Verdensia auf, die er jedoch nach wenigen Wochen wegen permanenter Insubordination wieder verlassen mußte. »Nachdem mich die herrschende Klasse rausgeworfen hatte, entschloß ich mich dann auch, sie gründlich zu verraten«, sollte Krahl seinen folgenden Umschlag ins Antibürgerliche in Anspielung auf den von Georg Lukács geforderten »Klassenverrat der Intelligenz« nachträglich romantisieren: 1964 trat er in den SDS ein, wechselte im Folgejahr nach Frankfurt und wählte Theodor Wiesengrund Adorno zum Betreuer seiner nie vollendeten Dissertation über den Historischen Materialismus. Von scharfem analytischen Verstand und rhetorisch begabt, stand Krahl eine Hofintellektuellenkarriere im Stile Habermas’ offen – er aber beschloß, Agitator zu werden.
Der SDS war 1946 als erster neugegründeter politischer Studentenverband entstanden und ab 1958 stetig nach links gerückt; 1961 wurde er aus der SPD ausgeschlossen (»nur ein Bauernopfer der Bündnispolitik Herbert Wehners«). In ihm bildeten sich damals beim Protest gegen die Notstandsgesetzgebung Grundzüge einer außerparlamentarischen Opposition heraus.
1965 trat Rudi Dutschke mit weiteren Angehörigen der »Subversiven Aktion« in den Westberliner SDS ein, mit dem Ziel, diesen sozialrevolutionär auszurichten; als Verfechter eines theoretischen Eklektizismus nahm er in seine Verbands-Bibliographie des revolutionären Sozialismus unter anderem Anarchisten auf, was Vertreter der klassisch marxistischen Verbandsnomenklatura trotz des großen Erfolgs zu Rücktritten veranlaßte.
Die offensiven Unorthodoxen Krahl und Dutschke sollten rasch zusammenfinden und den SDS in eine neue, an der spezifischen historischen Situation statt an der Dogmatik des 19. Jahrhunderts orientierte Richtung lenken, »antiautoritär« im Sinne der Horkheimerschen Analyse des »Autoritären Staats« (1940) als eines dirigistischen Bändigers der Produktionsverhältnisse, was das marxistische Primat der Ökonomie durch das Primat der Politik zu ersetzen erzwinge.
Bekannt dafür, seine Traktate in Eckkneipen bei Doppelkorn und Heintje aus der Jukebox zu entwerfen, schweifte Krahl wie ein Wanderprediger mit einem Schrankkoffer voller Schriften von einer Studenten-WG zur nächsten. In Frankfurt hatte er sich nie wohnhaft gemeldet – hilfreich, um behördlichem Zugriff auszuweichen, doch auch ganz der »transzendental Obdachlose«, zu dem ihn Gerd Koenen unter Rückgriff auf wiederum Lukács erklärte. Nachdem er sich im Wintersemester 1967 / 68 nicht an der Universität zurückgemeldet hatte, war er auf dem Papier am Höhepunkt der Studentenbewegung selbst kein Student mehr, Indiz seiner Wendung zum Berufsaktivisten.
Krahls Kernthese, daß die Studenten durch Bloßstellung autoritärer Strukturen die Arbeiterschaft aus ihrer bedürfnisbefriedigten Betäubung zu »erwecken« und zum revolutionären Subjekt hochzureißen hätten (»Die Bewegung wissenschaftlicher Intelligenz muß zum kollektiven Theoretiker des Proletariats werden – das ist der Sinn ihrer Praxis«), statt ihrerseits eine »proletarische Klassenposition« anzunehmen, sorgte mit dem Abschwung der »eruptiven Massenbewegung sehr wildgewordener Kleinbürger« (SDS Hannover) für eine Verhärtung der verbandsinternen Fronten.
Sein im November 1969 gehaltener Vortrag »Zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewußtsein« brachte Krahl in schroffen Gegensatz zu den orthodoxen Marxisten-Leninisten im SDS und in der 1968 auf Anregung des SPD-Justizministers und späteren Bundespräsidenten Heinemann gegründeten DKP, die ihm im Parteiblatt Unsere Zeit für sein »Rechtsabweichlertum« ins Grab spucken sollte. Die KPD/ML höhnte noch in den 1980ern über das »anspruchsvolle Scheitern« Krahls, wonach die Emanzipation hinter den Stand von Lenins Was tun? zurückgefallen sei und die darin vorausgesetzte Bewußtseinsavantgarde erst noch von neuem aufgebaut werden müsse.
Zur hierfür angestrebten Einheit von Erkenntnis und Praxis war für Krahl die Öffnung der Kritischen Theorie hin zur Tat ein zentrales Anliegen, doch Adorno, der die Zwölftonmusik tanzenden Verhältnissen vorzog, lag nichts ferner. Wiewohl psychologisierendes »Vatermord«-Gerede des sich seinerzeit selbst bewältigenden Alexander Mitscherlich der Situation keinesfalls gerecht wurde, trieb Adornos Zaudern Krahl im Schatten des Hegelschen Verdikts »Ist das Wahre abstrakt, so ist es unwahr« doch in einen aktionistischen Furor hinein.
Im Dezember 1968 hatte die Frankfurter Universitätsleitung den Studenten die Nutzung der Räumlichkeiten des Soziologischen Seminars zu wissenschaftlichen Zwecken eingeräumt; nachdem Rektorat sowie die Professoren Adorno, Habermas und Friedeburg jedoch befunden hatten, dort finde die Planung »gesetzwidriger Aktionen« statt, wurden die Studenten am Morgen des 31. Januar 1969 des Hauses verwiesen.
Am Mittag verschafften sie sich daraufhin unter der Führung Krahls Zugang zum Institut für Sozialforschung, um dort die Rückgabe der Räume zu verlangen. Der Aufforderung des hinzukommenden Friedeburg, das Haus sofort zu verlassen, entgegnete Krahl, dieser solle »die Klappe halten« und »endlich verschwinden«. Es sei nunmehr das Institut für Sozialforschung besetzt, und das umkämpfte Soziologische Seminar werde bei nächster Gelegenheit gestürmt. Am frühen Nachmittag stellte die Institutsleitung (»professorale Hilfspolizisten im kritischen Mäntelchen«) Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs und bat um eine polizeiliche Räumung.
Nachdem sein herausragendster Schüler ihn im Abgeführtwerden einen »scheiß Theoretiker« geheißen hatte, soll Adorno empört ausgerufen haben: »In diesem Krahl hausen die Wölfe!« (Womöglich waren auch »die Wölffe« gemeint – die als Scharfmacher geltenden Brüder Reinhart, Frank Friedrich und Karl Dietrich »KD« Wolff, zur Zeit der Aktion Bundesspitze des SDS; wobei mindestens Frank Wolff an der Besetzung beteiligt war.)
Die 76 aus dem Institut geräumten Studenten wurden nach Ermittlung der Personalien noch gleichentags wieder auf freien Fuß gesetzt – alle bis auf Krahl, der wegen schweren Hausfriedensbruchs und Nötigung in Untersuchungshaft kam. Das sorgte für Aufruhr im SDS, der am Folgetag ein Ultimatum stellte: Werde »Herr K.« (in Anspielung auf Kafkas Process) nicht innerhalb von drei Tagen freigelassen, so wolle man den Generalstreik aller hessischen Hochschulen organisieren.
Doch diesmal wurde ein Exempel statuiert. Am 25. Juli 1969 gab es einen Schuldspruch und die Verurteilung zu drei Monaten Gefängnis (abgegolten durch die Untersuchungshaft) sowie 300 DM Geldstrafe (ausgesetzt zur Bewährung). Es war nicht Krahls erste Verurteilung; der Überzeugungstäter hatte bereits wegen seiner Beteiligung unter anderem an der Sprengung einer Aufführung von La traviata im Frankfurter Schauspielhaus im Mai 1968 vor Gericht gestanden, und der Spielraum für Bewährungsstrafen war ausgereizt.
Nur zwei Monate später eskalierte die Frankfurter Lage erneut in massiven Ausschreitungen anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den senegalesischen Präsidenten Léopold Senghor. Wieder in vorderster Front dabei war der erlebnisorientierte Hans-Jürgen Krahl, und wieder landete er auf der Anklagebank: Am 24. Dezember 1969 endete der »Senghor-Prozeß« mit jeweils einem Jahr und neun Monaten Gefängnis für Krahl, Günter Amendt und KD Wolff wegen Aufruhr, Landfriedensbruchs und »Rädelsführerschaft«. Das Strafmaß sollte einem »Überhandnehmen der Anarchie« in der neuerdings sozialliberal regierten BRD entgegenwirken und »generalpräventiven Charakter« entfalten; Krahl hingegen hatte die richterliche Frage nach »Angaben zur Person« dazu genutzt, seine Lebensgeschichte zur Blaupause der antiautoritären Bewußtseinsbildung zu stilisieren.
Noch vor Eintreten der Rechtskraft des Urteils kam Hans-Jürgen Krahl in der Nacht zum Valentinstag 1970 auf der Fahrt zu einer Paderborner Gruppe ums Leben, als der Wagen, in dem er als Beifahrer saß, auf der vereisten B 252 nahe Wrexen frontal mit einem entgegenkommenden Lkw zusammenstieß.
Nach seinem Tod brachen die schwelenden Auseinandersetzungen innerhalb des SDS zwischen kulturkämpferischen »Antiautoritären« und kaderparteilichen »Traditionalisten« voll aus; am 21. März 1970 beschloß man im Frankfurter Studentenhaus per Akklamation die Selbstauflösung des Bundesverbands. Ein halbes Jahr danach wurde die letzte verbliebene aktive (neoleninistische) SDS-Hochschulgruppe in Heidelberg nach einer großen Straßenschlacht vom baden-württembergischen Innenministerium verboten.
Krahls von Zeitzeugen unterschiedlich blumig kolportierte Homosexualität verleiht seinem Engagement gewiß einen Beigeschmack. Im Nachlaß fand sich ein Männerliebe christlich-mystisch überhöhendes Fragment von 1966 unter der pompösen Überschrift »Ontologie und Eros«; zu Lebzeiten für Paraphilien agitiert hat Krahl jedoch nie, anders als etwa ein Homo politicus vom anderen Ende des politischen Spektrums, nämlich Michael Kühnen (Nationalsozialismus und Homosexualität).
In der Studentenbewegung kamen offen Homosexuelle ohnehin nicht gut an, zehrte sie doch wesentlich vom Machismo ihrer Aktivisten einerseits – und vom Glauben an die transformative Macht der (Hetero-)Sexualität andererseits, weshalb diese gerade nicht permissiv, sondern programmatisch zu sein habe. So gewinnt auch Krahls betonte Gleichgültigkeit gegenüber den mehr Mitbestimmung fordernden Genossinnen mehr Tiefenschärfe. Zum Fanal wurde der Tomatenwurf Sigrid Rügers vom Berliner »Aktionsrat zur Befreiung der Frauen« auf der SDS-Delegiertenkonferenz 1968, der Krahl – Rüger zufolge »objektiv ein Konterrevolutionär und ein Agent des Klassenfeindes dazu« – mitten ins Gesicht traf und zumindest laut Alice Schwarzer den Beginn der BRD-Frauenbewegung markierte.
Daß von »68« und der – in aller Regel falsch verstandenen – Formel vom »Marsch durch die Institutionen« viel zu lernen sei, gilt auf der strategisch orientierten Rechten meist als ausgemacht und bildet realiter den dortigen Filter für kulturtheoretische Schriften etwa Antonio Gramscis.
Gleichzeitig gilt Adornos »als progressive Gesellschaftskritik verkleidete reaktionäre Kulturkritik« (Winfried Knörzer in Sezession 5/2004) als durchaus anknüpfungsfähig – besonders als Gegenbild zu Marcuse, der sich damals von den USA aus mit der Studentenbewegung solidarisiert hatte. Wer beide Prämissen verbindet, landet zwangsläufig bei der antiinstitutionellen Ikonoklastik des Hans-Jürgen Krahl.
Daß dieser trotz seiner dezidierten Antibürgerlichkeit zumindest auf der Rechten nach Dutschke noch der bekannteste Vertreter des historischen SDS ist, liegt nicht zuletzt am Nachkarten bundesrepublikanisch aufgestiegener Studentenbewegter: 1985 verkündete APO-Chronist Wolfgang Kraushaar, das größtenteils von Krahl verfaßte sogenannte Organisationsreferat auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS 1967 habe nicht nur den Begriff der Stadtguerilla in die Studentenbewegung hineingebracht, sondern zudem als Einfallstor für einschlägige Theoreme Carl Schmitts gedient.
Zwar wurde der Schwarze Peter Schmitt auch gegen andere studentische Wortführer ausgespielt, die sich unbotmäßiger Pluralismuskritik befleißigten, etwa Johannes Agnoli. Doch finden sich Signalvokabeln bei genauer Lektüre in so manchen von Krahls weitverstreuten Wortmeldungen, etwa als er auf dem Kongreß »Bedingungen und Organisation des Widerstandes« nach dem Tod Benno Ohnesorgs die Warnung Habermas’ vor einem »linken Faschismus« der überholten »traditionellen Dezisionismuskritik« zieh.
Krahl war zudem nicht der einzige SDS-Schmittianer: Der Jurist Jürgen Seifert etwa, 1958/59 im Bundesvorstand, kam aus der Münsteraner »Schule« Joachim Ritters und hatte dort Schmitt persönlich kennengelernt. Von 1956 bis 1977 standen die beiden in regem, wenn auch stets respektvoll-antagonistischem Austausch, der sich wegen Seiferts vor allem in der von ihm 1968 mitgegründeten Zeitschrift Kritische Justiz explizierten Engagements gegen die Notstandsgesetzgebung allerdings merklich abkühlte.
Und tatsächlich fand sich in der umfangreichen Bibliothek der RAF-Führung – heute archiviert im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (Amsterdam) – nach der Todesnacht von Stammheim auch ein Exemplar von Krahls Konstitution und Klassenkampf, versehen mit handschriftlichen Notizen. Gleichwohl standen dort auch (deutlich zahlreicher) Werke etwa von Habermas oder Wallraff – und Carl Schmitts Der Nomos der Erde.
Ein rechter Blick auf die Arbeiten des »Robespierre von Bockenheim« im 80. Jahr nach seiner Geburt ist also alles andere als abwegig, wo unsereins doch angeblich so viel »von 1968« lernen können soll und das den SDS letztlich zerstörende »Problem der Organisation als Problem revolutionärer Existenz« – Bewußtseinsavantgarde / Provokationselite vs. »seichte, prinzipienlose bürgerliche Realpolitik« – im aktuellen Spannungsfeld zwischen Elitenbildung und Populismus weiterlebt.
Der Einfluß der Krahlschen Theoriefragmente zur Revolution im Spätkapitalismus reicht heute weit in den italienischen antiautoritären Marxismus (Antonio Negri, Franco Berardi) und selbst in US-amerikanische Kreise undogmatischer Intelligenz. Letzteres nicht erst mit dem Krahl-Schwerpunkt zu 50 Jahren »1968« im postmarxistischen Organ Viewpoint 2018, denn die legendäre neulinke Theoriezeitschrift Telos, die Schmitt und Alain de Benoist in den USA popularisierte, veröffentlichte schon 1974 einen einführenden Nachruf auf Krahl – was dessen hinterbliebene SDS-Genossen übrigens basisdemokratisch zu unterlassen beschlossen, weil: zu bürgerlich.