Robespierre in Bockenheim, oder: Wer war Krahl?

PDF der Druckfassung aus Sezession 113/April 2023

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Der im ver­gan­ge­nen Jahr ver­stor­be­ne Gün­ter Maschke ist nicht der ein­zi­ge Den­ker des Geburts­jahr­gangs 1943, der eigen­wil­lig zwi­schen rechts und links oszil­lier­te, durch radi­ka­le Ori­gi­na­li­tät fas­zi­nier­te – und an dem wir unse­ren geis­ti­gen Zugriff nicht mehr schär­fen können.

Anders als Maschke starb der zen­tra­le Theo­re­ti­ker des Sozia­lis­ti­schen Deut­schen Stu­den­ten­bun­des, Hans-Jür­gen Krahl, jedoch gänz­lich »unvoll­endet« mit gera­de 27 Jah­ren. Sein frü­her Tod soll­te – zusam­men mit den Nach­wir­kun­gen des Dutsch­ke-Atten­tats – die längst zer­strit­te­ne APO in Sek­tie­re­rei zurück­wer­fen. Eben­so rapi­de, wie sein Wir­kungs­kreis zer­stob, geriet Krahls zuvor gewich­ti­ger Name im Schat­ten des iko­ni­schen Dutsch­ke in Ver­ges­sen­heit. Gleich­wohl bewahr­te ihn das davor, sich in den uner­träg­li­chen Cho­ral der Vete­ra­nen­er­zäh­lun­gen ein­zu­rei­hen, die seit 1998 alle zehn Jah­re bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Biblio­the­ken überschwemmen.

Hans-Jür­gen »HJ« Krahl wur­de am 17. Janu­ar 1943 in Sar­stedt bei Han­no­ver in eine Ange­stell­ten­fa­mi­lie gebo­ren und ver­lor noch als Säug­ling bei einem Bom­ben­an­griff das rech­te Auge. Sei­ne Jugend war eine »Odys­see durch die Orga­ni­sa­ti­ons­for­men der herr­schen­den Klas­se« (Krahl über Krahl): Von den Luden­dorf­fern über Enga­ge­ments in rech­ten Klein­par­tei­en und in Kir­chen­krei­sen bis hin zur Jun­gen Uni­on führ­te sein Irr­lich­tern durch die spä­te Ade­nau­er­ä­ra auf der Suche nach Iden­ti­tät, ein­schließ­lich natio­nal­ro­man­ti­scher Geh­ver­su­che in Lyrik wie Prosa.

Nach dem Abitur 1963 schrieb er sich zunächst in Göt­tin­gen ein und nahm das Band der Lands­mann­schaft Ver­den­sia auf, die er jedoch nach weni­gen Wochen wegen per­ma­nen­ter Insub­or­di­na­ti­on wie­der ver­las­sen muß­te. »Nach­dem mich die herr­schen­de Klas­se raus­ge­wor­fen hat­te, ent­schloß ich mich dann auch, sie gründ­lich zu ver­ra­ten«, soll­te Krahl sei­nen fol­gen­den Umschlag ins Anti­bür­ger­li­che in Anspie­lung auf den von Georg Lukács gefor­der­ten »Klas­sen­ver­rat der Intel­li­genz« nach­träg­lich roman­ti­sie­ren: 1964 trat er in den SDS ein, wech­sel­te im Fol­ge­jahr nach Frank­furt und wähl­te Theo­dor Wie­sen­grund Ador­no zum Betreu­er sei­ner nie voll­ende­ten Dis­ser­ta­ti­on über den His­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus. Von schar­fem ana­ly­ti­schen Ver­stand und rhe­to­risch begabt, stand Krahl eine Hof­in­tel­lek­tu­el­lenkar­rie­re im Sti­le Haber­mas’ offen – er aber beschloß, Agi­ta­tor zu werden.

Der SDS war 1946 als ers­ter neu­ge­grün­de­ter poli­ti­scher Stu­den­ten­ver­band ent­stan­den und ab 1958 ste­tig nach links gerückt; 1961 wur­de er aus der SPD aus­ge­schlos­sen (»nur ein Bau­ern­op­fer der Bünd­nis­po­li­tik Her­bert Weh­ners«). In ihm bil­de­ten sich damals beim Pro­test gegen die Not­stands­ge­setz­ge­bung Grund­zü­ge einer außer­par­la­men­ta­ri­schen Oppo­si­ti­on heraus.

1965 trat Rudi Dutsch­ke mit wei­te­ren Ange­hö­ri­gen der »Sub­ver­si­ven Akti­on« in den West­ber­li­ner SDS ein, mit dem Ziel, die­sen sozi­al­re­vo­lu­tio­när aus­zu­rich­ten; als Ver­fech­ter eines theo­re­ti­schen Eklek­ti­zis­mus nahm er in sei­ne Ver­bands-Biblio­gra­phie des revo­lu­tio­nä­ren Sozia­lis­mus unter ande­rem Anar­chis­ten auf, was Ver­tre­ter der klas­sisch mar­xis­ti­schen Ver­bands­no­men­kla­tu­ra trotz des gro­ßen Erfolgs zu Rück­trit­ten veranlaßte.

Die offen­si­ven Unor­tho­do­xen Krahl und Dutsch­ke soll­ten rasch zusam­men­fin­den und den SDS in eine neue, an der spe­zi­fi­schen his­to­ri­schen Situa­ti­on statt an der Dog­ma­tik des 19. Jahr­hun­derts ori­en­tier­te Rich­tung len­ken, »anti­au­to­ri­tär« im Sin­ne der Hork­hei­mer­schen Ana­ly­se des »Auto­ri­tä­ren Staats« (1940) als eines diri­gis­ti­schen Bän­di­gers der Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se, was das mar­xis­ti­sche Pri­mat der Öko­no­mie durch das Pri­mat der Poli­tik zu erset­zen erzwinge.

Bekannt dafür, sei­ne Trak­ta­te in Eck­knei­pen bei Dop­pel­korn und Heint­je aus der Juke­box zu ent­wer­fen, schweif­te Krahl wie ein Wan­der­pre­di­ger mit einem Schrank­kof­fer vol­ler Schrif­ten von einer Stu­den­ten-WG zur nächs­ten. In Frank­furt hat­te er sich nie wohn­haft gemel­det – hilf­reich, um behörd­li­chem Zugriff aus­zu­wei­chen, doch auch ganz der »tran­szen­den­tal Obdach­lo­se«, zu dem ihn Gerd Koe­nen unter Rück­griff auf wie­der­um Lukács erklär­te. Nach­dem er sich im Win­ter­se­mes­ter 1967 / 68 nicht an der Uni­ver­si­tät zurück­ge­mel­det hat­te, war er auf dem Papier am Höhe­punkt der Stu­den­ten­be­we­gung selbst kein Stu­dent mehr, Indiz sei­ner Wen­dung zum Berufsaktivisten.

Krahls Kern­the­se, daß die Stu­den­ten durch Bloß­stel­lung auto­ri­tä­rer Struk­tu­ren die Arbei­ter­schaft aus ihrer bedürf­nis­be­frie­dig­ten Betäu­bung zu »erwe­cken« und zum revo­lu­tio­nä­ren Sub­jekt hoch­zu­rei­ßen hät­ten (»Die Bewe­gung wis­sen­schaft­li­cher Intel­li­genz muß zum kol­lek­ti­ven Theo­re­ti­ker des Pro­le­ta­ri­ats wer­den – das ist der Sinn ihrer Pra­xis«), statt ihrer­seits eine »pro­le­ta­ri­sche Klas­sen­po­si­ti­on« anzu­neh­men, sorg­te mit dem Abschwung der »erup­ti­ven Mas­sen­be­we­gung sehr wild­ge­wor­de­ner Klein­bür­ger« (SDS Han­no­ver) für eine Ver­här­tung der ver­bands­in­ter­nen Fronten.

Sein im Novem­ber 1969 gehal­te­ner Vor­trag »Zum all­ge­mei­nen Ver­hält­nis von wis­sen­schaft­li­cher Intel­li­genz und pro­le­ta­ri­schem Klas­sen­be­wußt­sein« brach­te Krahl in schrof­fen Gegen­satz zu den ortho­do­xen Mar­xis­ten-Leni­nis­ten im SDS und in der 1968 auf Anre­gung des SPD-Jus­tiz­mi­nis­ters und spä­te­ren Bun­des­prä­si­den­ten Hei­ne­mann gegrün­de­ten DKP, die ihm im Par­tei­blatt Unse­re Zeit für sein »Rechts­ab­weich­ler­tum« ins Grab spu­cken soll­te. Die KPD/ML höhn­te noch in den 1980ern über das »anspruchs­vol­le Schei­tern« Krahls, wonach die Eman­zi­pa­ti­on hin­ter den Stand von Lenins Was tun? zurück­ge­fal­len sei und die dar­in vor­aus­ge­setz­te Bewußt­sein­sa­vant­gar­de erst noch von neu­em auf­ge­baut wer­den müsse.

Zur hier­für ange­streb­ten Ein­heit von Erkennt­nis und Pra­xis war für Krahl die Öff­nung der Kri­ti­schen Theo­rie hin zur Tat ein zen­tra­les Anlie­gen, doch Ador­no, der die Zwölf­ton­mu­sik tan­zen­den Ver­hält­nis­sen vor­zog, lag nichts fer­ner. Wie­wohl psy­cho­lo­gi­sie­ren­des »Vatermord«-Gerede des sich sei­ner­zeit selbst bewäl­ti­gen­den Alex­an­der Mit­scher­lich der Situa­ti­on kei­nes­falls gerecht wur­de, trieb Ador­nos Zau­dern Krahl im Schat­ten des Hegel­schen Ver­dikts »Ist das Wah­re abs­trakt, so ist es unwahr« doch in einen aktio­nis­ti­schen Furor hinein.

Im Dezem­ber 1968 hat­te die Frank­fur­ter Uni­ver­si­täts­lei­tung den Stu­den­ten die Nut­zung der Räum­lich­kei­ten des Sozio­lo­gi­schen Semi­nars zu wis­sen­schaft­li­chen Zwe­cken ein­ge­räumt; nach­dem Rek­to­rat sowie die Pro­fes­so­ren Ador­no, Haber­mas und Frie­de­burg jedoch befun­den hat­ten, dort fin­de die Pla­nung »gesetz­wid­ri­ger Aktio­nen« statt, wur­den die Stu­den­ten am Mor­gen des 31. Janu­ar 1969 des Hau­ses verwiesen.

Am Mit­tag ver­schaff­ten sie sich dar­auf­hin unter der Füh­rung Krahls Zugang zum Insti­tut für Sozi­al­for­schung, um dort die Rück­ga­be der Räu­me zu ver­lan­gen. Der Auf­for­de­rung des hin­zu­kom­men­den Frie­de­burg, das Haus sofort zu ver­las­sen, ent­geg­ne­te Krahl, die­ser sol­le »die Klap­pe hal­ten« und »end­lich ver­schwin­den«. Es sei nun­mehr das Insti­tut für Sozi­al­for­schung besetzt, und das umkämpf­te Sozio­lo­gi­sche Semi­nar wer­de bei nächs­ter Gele­gen­heit gestürmt. Am frü­hen Nach­mit­tag stell­te die Insti­tuts­lei­tung (»pro­fes­so­ra­le Hilfs­po­li­zis­ten im kri­ti­schen Män­tel­chen«) Straf­an­trag wegen Haus­frie­dens­bruchs und bat um eine poli­zei­li­che Räumung.

Nach­dem sein her­aus­ra­gends­ter Schü­ler ihn im Abge­führt­wer­den einen »scheiß Theo­re­ti­ker« gehei­ßen hat­te, soll Ador­no empört aus­ge­ru­fen haben: »In die­sem Krahl hau­sen die Wöl­fe!« (Womög­lich waren auch »die Wölf­fe« gemeint – die als Scharf­ma­cher gel­ten­den Brü­der Rein­hart, Frank Fried­rich und Karl Diet­rich »KD« Wolff, zur Zeit der Akti­on Bun­des­spit­ze des SDS; wobei min­des­tens Frank Wolff an der Beset­zung betei­ligt war.)

Die 76 aus dem Insti­tut geräum­ten Stu­den­ten wur­den nach Ermitt­lung der Per­so­na­li­en noch glei­chen­tags wie­der auf frei­en Fuß gesetzt – alle bis auf Krahl, der wegen schwe­ren Haus­frie­dens­bruchs und Nöti­gung in Unter­su­chungs­haft kam. Das sorg­te für Auf­ruhr im SDS, der am Fol­ge­tag ein Ulti­ma­tum stell­te: Wer­de »Herr K.« (in Anspie­lung auf Kaf­kas Pro­cess) nicht inner­halb von drei Tagen frei­ge­las­sen, so wol­le man den Gene­ral­streik ­aller hes­si­schen Hoch­schu­len organisieren.

Doch dies­mal wur­de ein Exem­pel sta­tu­iert. Am 25. Juli 1969 gab es einen Schuld­spruch und die Ver­ur­tei­lung zu drei Mona­ten Gefäng­nis (abge­gol­ten durch die Unter­su­chungs­haft) sowie 300 DM Geld­stra­fe (aus­ge­setzt zur Bewäh­rung). Es war nicht Krahls ers­te Ver­ur­tei­lung; der Über­zeu­gungs­tä­ter hat­te bereits wegen sei­ner Betei­li­gung unter ande­rem an der Spren­gung einer Auf­füh­rung von La tra­via­ta im Frank­fur­ter Schau­spiel­haus im Mai 1968 vor Gericht gestan­den, und der Spiel­raum für Bewäh­rungs­stra­fen war ausgereizt.

Nur zwei Mona­te spä­ter eska­lier­te die Frank­fur­ter Lage erneut in mas­si­ven Aus­schrei­tun­gen anläß­lich der Ver­lei­hung des ­Frie­dens­prei­ses des Deut­schen Buch­han­dels an den sene­ga­le­si­schen Prä­si­den­ten ­Léo­pold ­Seng­hor. Wie­der in vor­ders­ter Front dabei war der erleb­nis­ori­en­tier­te Hans-Jür­gen Krahl, und wie­der lan­de­te er auf der Ankla­ge­bank: Am 24. Dezem­ber 1969 ende­te der »Seng­hor-Pro­zeß« mit jeweils einem Jahr und neun Mona­ten Gefäng­nis für Krahl, Gün­ter Amendt und KD Wolff wegen Auf­ruhr, Land­frie­dens­bruchs und »Rädels­füh­rer­schaft«. Das Straf­maß soll­te einem »Über­hand­neh­men der Anar­chie« in der neu­er­dings sozi­al­li­be­ral regier­ten BRD ent­ge­gen­wir­ken und »gene­ral­prä­ven­ti­ven Cha­rak­ter« ent­fal­ten; Krahl hin­ge­gen hat­te die rich­ter­li­che Fra­ge nach »Anga­ben zur Per­son« dazu genutzt, sei­ne Lebens­ge­schich­te zur Blau­pau­se der anti­au­to­ri­tä­ren Bewußt­seins­bil­dung zu stilisieren.

Noch vor Ein­tre­ten der Rechts­kraft des Urteils kam Hans-Jür­gen Krahl in der Nacht zum Valen­tins­tag 1970 auf der Fahrt zu einer Pader­bor­ner Grup­pe ums Leben, als der Wagen, in dem er als Bei­fah­rer saß, auf der ver­eis­ten B 252 nahe Wrexen fron­tal mit einem ent­ge­gen­kom­men­den Lkw zusammenstieß.

Nach sei­nem Tod bra­chen die schwe­len­den Aus­ein­an­der­set­zun­gen inner­halb des SDS zwi­schen kul­tur­kämp­fe­ri­schen »Anti­au­to­ri­tä­ren« und kader­par­tei­li­chen »Tra­di­tio­na­lis­ten« voll aus; am 21. März 1970 beschloß man im Frank­fur­ter Stu­den­ten­haus per Akkla­ma­ti­on die Selbst­auf­lö­sung des Bun­des­ver­bands. Ein hal­bes Jahr danach wur­de die letz­te ver­blie­be­ne akti­ve (neo­leni­nis­ti­sche) SDS-Hoch­schul­grup­pe in Hei­del­berg nach einer gro­ßen Stra­ßen­schlacht vom baden-würt­tem­ber­gi­schen Innen­mi­nis­te­ri­um verboten.

Krahls von Zeit­zeu­gen unter­schied­lich blu­mig kol­por­tier­te Homo­se­xua­li­tät ver­leiht sei­nem Enga­ge­ment gewiß einen Bei­geschmack. Im Nach­laß fand sich ein Män­ner­lie­be christ­lich-mys­tisch über­hö­hen­des Frag­ment von 1966 unter der pom­pö­sen Über­schrift »Onto­lo­gie und Eros«; zu Leb­zei­ten für Para­phi­lien agi­tiert hat Krahl jedoch nie, anders als etwa ein Homo poli­ti­cus vom ande­ren Ende des poli­ti­schen Spek­trums, näm­lich Micha­el Küh­nen (Natio­nal­so­zia­lis­mus und Homo­se­xua­li­tät).

In der Stu­den­ten­be­we­gung kamen offen Homo­se­xu­el­le ohne­hin nicht gut an, zehr­te sie doch wesent­lich vom Machis­mo ihrer Akti­vis­ten einer­seits – und vom Glau­ben an die trans­for­ma­ti­ve Macht der (Hetero-)Sexualität ande­rer­seits, wes­halb die­se gera­de nicht per­mis­siv, son­dern pro­gram­ma­tisch zu sein habe. So gewinnt auch Krahls beton­te Gleich­gül­tig­keit gegen­über den mehr Mit­be­stim­mung for­dern­den Genos­sin­nen mehr Tie­fen­schär­fe. Zum Fanal wur­de der Toma­ten­wurf Sig­rid Rügers vom Ber­li­ner »Akti­ons­rat zur Befrei­ung der Frau­en« auf der SDS-Dele­gier­ten­kon­fe­renz 1968, der Krahl – Rüger zufol­ge »objek­tiv ein Kon­ter­re­vo­lu­tio­när und ein Agent des Klas­sen­fein­des dazu« – mit­ten ins Gesicht traf und zumin­dest laut Ali­ce Schwar­zer den Beginn der BRD-Frau­en­be­we­gung markierte.

Daß von »68« und der – in aller Regel falsch ver­stan­de­nen – For­mel vom »Marsch durch die Insti­tu­tio­nen« viel zu ler­nen sei, gilt auf der stra­te­gisch ori­en­tier­ten Rech­ten meist als aus­ge­macht und bil­det rea­li­ter den dor­ti­gen Fil­ter für kul­tur­theo­re­ti­sche Schrif­ten etwa Anto­nio Gramscis.

Gleich­zei­tig gilt Ador­nos »als pro­gres­si­ve Gesell­schafts­kri­tik ver­klei­de­te reak­tio­nä­re Kul­tur­kri­tik« (Win­fried Knör­zer in Sezes­si­on 5/2004) als durch­aus anknüp­fungs­fä­hig – beson­ders als Gegen­bild zu Mar­cu­se, der sich damals von den USA aus mit der Stu­den­ten­be­we­gung soli­da­ri­siert hat­te. Wer bei­de Prä­mis­sen ver­bin­det, lan­det zwangs­läu­fig bei der anti­in­sti­tu­tio­nel­len Iko­no­klas­tik des Hans-Jür­gen Krahl.

Daß die­ser trotz sei­ner dezi­dier­ten Anti­bür­ger­lich­keit zumin­dest auf der Rech­ten nach Dutsch­ke noch der bekann­tes­te Ver­tre­ter des his­to­ri­schen SDS ist, liegt nicht zuletzt am Nach­kar­ten bun­des­re­pu­bli­ka­nisch auf­ge­stie­ge­ner Stu­den­ten­be­weg­ter: 1985 ver­kün­de­te APO-Chro­nist Wolf­gang Kraus­haar, das größ­ten­teils von Krahl ver­faß­te soge­nann­te Orga­ni­sa­ti­ons­re­fe­rat auf der 22. Dele­gier­ten­kon­fe­renz des SDS 1967 habe nicht nur den Begriff der Stadt­gue­ril­la in die Stu­den­ten­be­we­gung hin­ein­ge­bracht, son­dern zudem als Ein­falls­tor für ein­schlä­gi­ge Theo­re­me Carl Schmitts gedient.

Zwar wur­de der Schwar­ze Peter Schmitt auch gegen ande­re stu­den­ti­sche Wort­füh­rer aus­ge­spielt, die sich unbot­mä­ßi­ger Plu­ra­lis­mus­kri­tik beflei­ßig­ten, etwa Johan­nes Agno­li. Doch fin­den sich Signal­vo­ka­beln bei genau­er Lek­tü­re in so man­chen von Krahls weit­ver­streu­ten Wort­mel­dun­gen, etwa als er auf dem Kon­greß »Bedin­gun­gen und Orga­ni­sa­ti­on des Wider­stan­des« nach dem Tod Ben­no Ohnes­orgs die War­nung Haber­mas’ vor einem »lin­ken Faschis­mus« der über­hol­ten »tra­di­tio­nel­len Dezi­sio­nis­mus­kri­tik« zieh.

Krahl war zudem nicht der ein­zi­ge SDS-Schmit­tia­ner: Der Jurist Jür­gen Sei­fert etwa, 1958/59 im Bun­des­vor­stand, kam aus der Müns­te­ra­ner »Schu­le« Joa­chim Rit­ters und hat­te dort Schmitt per­sön­lich ken­nen­ge­lernt. Von 1956 bis 1977 stan­den die bei­den in regem, wenn auch stets respekt­voll-ant­ago­nis­ti­schem Aus­tausch, der sich wegen Sei­ferts vor allem in der von ihm 1968 mit­ge­grün­de­ten Zeit­schrift Kri­ti­sche Jus­tiz expli­zier­ten Enga­ge­ments gegen die Not­stands­ge­setz­ge­bung aller­dings merk­lich abkühlte.

Und tat­säch­lich fand sich in der umfang­rei­chen Biblio­thek der RAF-Füh­rung – heu­te archi­viert im Inter­na­tio­na­len Insti­tut für Sozi­al­ge­schich­te (Ams­ter­dam) – nach der Todes­nacht von Stamm­heim auch ein Exem­plar von Krahls Kon­sti­tu­ti­on und Klas­sen­kampf, ver­se­hen mit hand­schrift­li­chen Noti­zen. Gleich­wohl stan­den dort auch (deut­lich zahl­rei­cher) Wer­ke etwa von Haber­mas oder Wall­raff – und Carl Schmitts Der Nomos der Erde.

Ein rech­ter Blick auf die Arbei­ten des »Robes­pierre von Bocken­heim« im 80. Jahr nach sei­ner Geburt ist also alles ande­re als abwe­gig, wo unser­eins doch angeb­lich so viel »von 1968« ler­nen kön­nen soll und das den SDS letzt­lich zer­stö­ren­de »Pro­blem der Orga­ni­sa­ti­on als Pro­blem revo­lu­tio­nä­rer Exis­tenz« – Bewußt­sein­sa­vant­gar­de / Pro­vo­ka­ti­ons­eli­te vs. »seich­te, prin­zi­pi­en­lo­se bür­ger­li­che Real­po­li­tik« – im aktu­el­len Span­nungs­feld zwi­schen Eli­ten­bil­dung und Popu­lis­mus weiterlebt.

Der Ein­fluß der Krahl­schen Theo­riefrag­men­te zur Revo­lu­ti­on im Spät­ka­pi­ta­lis­mus reicht heu­te weit in den ita­lie­ni­schen anti­au­to­ri­tä­ren Mar­xis­mus (Anto­nio Negri, Fran­co ­Berar­di) und selbst in US-ame­ri­ka­ni­sche Krei­se undog­ma­ti­scher Intel­li­genz. Letz­te­res nicht erst mit dem Krahl-Schwer­punkt zu 50 Jah­ren »1968« im post­mar­xis­ti­schen Organ View­point 2018, denn die legen­dä­re neu­lin­ke Theo­rie­zeit­schrift Telos, die Schmitt und Alain de Benoist in den USA popu­la­ri­sier­te, ver­öf­fent­lich­te schon 1974 einen ein­füh­ren­den Nach­ruf auf Krahl – was des­sen hin­ter­blie­be­ne SDS-Genos­sen übri­gens basis­de­mo­kra­tisch zu unter­las­sen beschlos­sen, weil: zu bürgerlich.

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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