Die Winterküche lernte ich kennen, als ich erstmals zu Neujahr nach Siebenbürgen fuhr, genauer gesagt in das Dorf Holzmengen, in dem ich zusammen mit anderen Wandervögeln alten deutschen Bauern bei der Ernte und im Holz geholfen hatte, jahrelang.
Ich kam von der Landstraße her durch den Schnee ins Dorf, es war bitterkalt, es dämmerte bereits, und am letzten Hof vor dem Anstieg zur Kirchenburg klopfte ich an das Küchen- und dann an das Stubenfenster. Aber niemand öffnete. Die Tür zum Hof war verriegelt, ich klopfte auch dort, hämmerte ein wenig, hörte die Stimme der Bäuerin und wurde eingelassen. Frau Drotleff drückte mir die Hand, warm und froh, und führte mich in ein Räumchen, das so groß war wie eine Garage und so warm wie eine Backstube. Dort saß ihr Mann, der alte Bauer, der Stalingradkämpfer, der unverwüstliche Pferdenarr und Imker und Schnapsbrenner, mit den Füßen in einer Schüssel heißen Wassers und hatte ein Bier vor sich stehen. Ich war in der Winterküche.
Die Winterküche war der Raum, der bezogen wurde, wenn das Übergangsfeuer in der Stube des Haupthauses nicht mehr ausreichte, um Behaglichkeit nach der schweren Arbeit zu verbreiten. In der großen Küche wäre es wohl noch eine Weile gegangen, aber auch sie: zu groß, zu kalt, vor allem umgeben von einfrierenden Räumen. So zog man Mitte Oktober in die Winterküche um, und zwar ganz und gar, und ließ das Haus kaltfallen. Keine Zentralheizung mußte abgelassen, kein Wasserrohr geöffnet werden. Das Wasser schöpfte man aus dem Brunnen, Leitungen gab es keine, Bücher ein paar, Möbel natürlich, Geschirr und Werkzeug. Aber alles stand trocken in der klirrenden Kälte, nichts fror ein, nichts konnte der strenge Frost aufsprengen oder zerreißen.
Die Winterküche war im niedrigen Stall eingerichtet, die Wärme der Büffelkühe roch herüber, und ein paar Holzscheite reichten aus, um den Küchenofen zum Glühen zu bringen. Die Bruthitze lag wie Watte in der Tür, wenn man eintrat. Nach wenigen Minuten setzten Müdigkeit und willenlose Schwere ein, aber der Winter war ja auch zum Schlafen da, zum Reden und Trinken und Umsinken, nachdem man im Wald Holz geschlagen hatte. Zweckmäßigkeit und Fingerzeig der Winterküche waren offensichtlich – und wo nicht, da wirkmächtig ohne Einsicht: Zieh dich zurück ins Schneckenhaus, wärme und labe dich, schlaf dich aus und schäl dich im Frühjahr aus dem Heu. So machen’s alle, die wissen, wie gesund es ist, wenn man nicht ständig etwas erzwingen will. (GK)
Daß es Kupferhäuser gibt, erfuhr ich erst, als mir ein Buch mit dem Titel Heimatcontainer. Deutsche Fertighäuser in Israel in die Hände fiel. Ich begriff, daß eine meiner Laufrunden mich jahrelang an so einem Kupferhaus vorbeigeführt hatte: Man sieht eben nur, was man weiß.
Bei den Kupferhäusern handelte es sich um Typenhäusern, deren äußere Bauteile aus Holzrahmen bestanden, die außen mit Kupfer und innen mit Stahlblech verkleidet waren. Im Innern der Bauteile befand sich eine patentierte Isolierung, die eine erstaunliche Dämmleistung vorweisen konnte. Wenngleich neuere Untersuchungen ergeben haben, daß die damals in der Werbung hervorgehobene Entsprechung von zwei Metern Mauerwerk übertrieben war, so bleibt der ermittelte Meter immer noch erstaunlich, wenn man bedenkt, daß die Wände dieser Häuser nur zwölf Zentimeter dick sind.
Ein weiteres Verkaufsargument bestand in der Kupferverkleidung selbst, die unter Hinweis auf jahrhundertealte Dacheindeckungen an Kirchen als unzerstörbar bezeichnet wurde. Außerdem sollten der Preis und die Aufstellung innerhalb eines Tages in den schwierigen Zeiten der Weltwirtschaftskrise die Kaufentscheidung erleichtern.
Entwickelt wurden die Häuser seit 1929 von dem Ingenieur Friedrich Förster, der für das Verbindungssystem und den Aufbau der Wandteile zuständig war und entsprechende Patente anmeldete, sowie von dem Architekten Robert Krafft, der die erste Serie von sieben Typen entwarf, die vom zweistöckigen Haus für gehobene Ansprüche bis zum einfache Kleinhaus reichten. Im Eberswalder Ortsteil Finow existiert bis heute die sogenannte Kupferhaussiedlung, die man 1930 / 31 als Musterhaussiedlung errichtet hatte.
Die Kupferhäuser wurden zudem auf verschiedenen Ausstellungen im In- und im Ausland gezeigt und ausgezeichnet, ohne daß sie sich zum Verkaufsschlager entwickelten. Daher entschloß sich die Firma, mit Walter Gropius eine prominente Verstärkung an Bord zu holen. Das achte Haus in der Kupferhaussiedlung geht auf einen Entwurf von Gropius zurück. Es ist fast im Original erhalten. Gropius präsentierte Versuchsbauten von zweien seiner Entwürfe 1932 in Berlin auf der Ausstellung »Sonne, Luft und Haus für Alle«. Sie wurden in der Presse als die »schönsten der ganzen Ausstellung« und »in Anlage und Raumaufteilung vollendet« gelobt. Die Zusammenarbeit zwischen Gropius und den Messingwerken sowie der wenig später gegründeten Kupferhausgesellschaft endete allerdings im Sommer 1932, ohne daß sich der erhoffte Verkaufserfolg eingestellt hatte.
Eine letzte Vertriebsmöglichkeit bot die von den Nationalsozialisten 1933 forcierte Auswanderung der deutschen Juden nach Palästina, auf die sich das eingangs erwähnte Buch bezieht. Um die Auswanderung zu beschleunigen, schloß das Reichswirtschaftsministerium mit der Jewish Agency und der Zionistischen Vereinigung für Deutschland das »Haavara-Abkommen«, das es den Juden ermöglichte, einen Teil ihres Eigentums als Warenlieferung nach Palästina zu transferieren.
Dazu zählten seit Juli 1933 auch Kupferhäuser, die sich, die Fertigteile in Kisten verpackt, gut für den Transport eigneten. Die Kupferhausgesellschaft gab ihren Modellen für die Werbung bei zionistischen Auswanderern Namen wie »Jaffa« und »Scharon«. Allerdings wurde die Ausfuhr von Kupfer am 31. Juli 1934 verboten, so daß sich auch dieser Vertriebsweg als nicht mehr gangbar erwies und sich die Kupferhausgesellschaft auflöste.
Wie viele Kupferhäuser damals errichtet worden sind, ist unklar. In und um Berlin haben sich, Eberswalde-Finow mit eingerechnet, rund zwanzig von ihnen erhalten, die fast alle unter Denkmalschutz stehen. Insgesamt existieren in Deutschland 36 Kupferhäuser, vier weitere stehen noch heute in Israel, drei in Haifa und eins in Safed am Berg Kanaan. (EL)
Mein Elternhaus steht in Offenbach. Dorthin verschlug es meine Großeltern 1947. Anfang 1946 wurden sie von den Russen aus Kunzendorf, Kreis Groß Wartenberg (heute Dziadowa Kłoda), vertrieben. Sie landeten zunächst in Leipzig-Plagwitz. Dort wurde mein Vater eingeschult. Dort war Schmalhans Küchenmeister. Die Familie hungerte. Dann kam ein Ruf aus Offenbach am Main. Die Stadt war zerbombt, es gab was aufzubauen. Ein Teil der Familie war dort bereits gelandet. Einer hatte geschäftstüchtig gleich ein Maurerunternehmen gegründet. Hin!
Mein Großvater kam per Arbeitsvisum legal nach Westdeutschland, meine Großmutter mußte illegal mit zwei kleinen Kindern die Werra durchwaten. Sie wurde von russischen Soldaten erwischt. Die hatten Erbarmen und ließen sie gehen in ihren nassen Kleidern.
Die Großeltern bauten ziemlich bald ein Eigenheim (mit Hilfe von Großonkeln und anderen). Erstaunlich: Sie waren mit nichts gekommen, hatten ein paar Jahre im Keller des zerbombten Rumpenheimer Schlosses gelebt, waren als »Polacken« beschimpft worden – aber anno 1954 stand da, weitgehend selbst gebaut, ein Doppelhaus. Das war kein städtischer Bau. Die Innenstadt war zwar binnen einer Viertelstunde per Rad erreichbar (mein Opa als Kriegsinvalide brauchte viel länger), aber der Vorort Rumpenheim lag und liegt recht ländlich. »Speckgürtellage« sagt man heute: Rundum wird Weizen und Mais angebaut, werden Tiere gehalten.
Das Rumpenheimer Schloß ist wiederaufgebaut, dort wohnen (im Eigentum) die Reichen, die das Etikett »Offenbach« nicht scheuen. Neben dem Schloßpark liegt mein Elternhaus. Es gilt als »Neubau« (alle ab 1949 errichten Gebäude sind »Neubauten«), obwohl es nun 70 Jahre alt ist. Ich liebe es – aus Nostalgie. Wirklich schön ist es nicht. Nichts daran ist charmant. Es geht los mit den Fenstern. Es sind moderne, kippbare Alufenster. Das ist häßliche Dialektik: Irgendwann nach dem Krieg wurden die großen, ungesproßten Fenster modern – aber gleichzeitig wurden sie durch »Vorhänge« und »Stores« verhüllt. Solche Paradoxien sind im nichtstädtischen Wohnungsbau fast die Regel: Man möchte Licht, aber gedimmt; man möchte Natur, aber pflegeleicht; man möchte etwas mit Stein, also Gabionen, die wohl toteste Form von »Mauer«.
Schlimm an meinem geliebten Elternhaus ist auch der Putz. Zementputz, Wellenputz – das galt wohl damals als »chic«. Die Hofeinfahrt: Waschbeton (seit den Achtzigern). Die Haustür: futuristische Baumarktkunst (ebenfalls Achtziger), dafür dreifach einbruchssicher. Aus dem atmenden Hobbykeller meines Großvaters wurde ein gefliester, gedämmter, sprich: ordentlicher Partyraum.
Insgesamt wurde alles steriler, versiegelt: Ich erinnere mich noch an Murmelgänge, die wir als Kinder in tagelanger »Arbeit« durch die ganze Straße gruben, von Vorgarten zu Vorgarten. Lange her. Daß »erschlossen« wurde (Straßenbau), ist verständlich. Aber es wurde zunehmend verschlossen: Sichtschranken, der bundesdeutsche Doppelstabmattenzaun. Bei Dieter Wieland (Gebaute Lebensräume, 1982, neu aufgelegt 2009 bei Manuscriptum, bis heute eine empfehlenswerte und lehrreiche Sehschule wie alles von Wieland) fand ich diese Textstelle: »Kennen Sie das auch? Die Angst, wohin zu kommen, wo man einmal gerne war. Die Angst, es sieht womöglich anders aus. Und es sieht ganz anders aus. Und viel schlimmer, als man ahnte.«
Warum wird baulich in unserem Land so selten etwas schöner? Vermutlich ist es eine Mixtur: aus falschem Vorbild (haben zwei Nachbarn eine solarbetriebene Hausnummer, muß man halt mittun), aus Sonderangeboten (»guck mal, Rollokästen sind heute viel günstiger, als die ollen Klappläden zu streichen!«), staatlichen Zuckerln (»laß uns dämmen, ich mein’, die inneren Werte zählen«) und einem Übermaß an Tagesfreizeit, der Freiraum fürs »Machen« läßt. »Machen« heißt: einen Carport bauen. Knochensteine legen. Thujahecken pflanzen. Glasbausteine in den Windfang. Je nach Jahreszeit Dekoware aufstellen; Haustüren anschaffen, die einem Atomkrieg trotzen würden und auch so aussehen; Dachziegel in zukunftsträchtigen Farben verlegen lassen; den Vorgarten mit Steinen schottern, denn dann hat man kein Problem mehr mit Unkraut! Und hier schließt sich paradoxerweise der Kreis. Was hat man zu tun, wenn selbst das Unkraut kein Thema mehr ist?
Oh, ich liebe mein Elternhaus. Aus Anhänglichkeit. Dort leben? Lieber nein. Manchmal träume ich von rigiden Bestimmungen. Natürlich nur zum Glück aller … (EK)
Die Acht-Mann-Stube ist so erklärungsbedürftig wie eine mechanische Schreibmaschine: Man muß vor 1975 geboren sein, um solche Lebensumstände noch als etwas kennengelernt zu haben, das nicht der Rede wert war. Es war nicht der Rede wert, daß man sich an einem genau bezeichneten Tag bis vier Uhr nachmittags vor einem Kompaniegebäude einzufinden hatte, um sich registrieren zu lassen und einer Stube zugeteilt zu werden, die den Querschnitt des Volkes beherbergte, seit es sie gab und seit sie eingerichtet worden war mit Doppelstockbetten, Spinden, einem Tisch und Stühlen und sonst nichts. Nur: sieben andere Rekruten.
Es begann mit einer hierarchischen Übung: Wer ergattert eines der oberen Betten? Der Vorteil lag auf der Hand: heller als unten, Überblick und den Spind als Nachtschränkchen, denn hinterm Aufbau aus Zeltbahn, Poncho, Stahlhelm, Gasmaske und Spaten war verborgener Platz. Die ersten Tage: Wir bildeten die dritte Gruppe, der Stabsunteroffizier räumte einen Musterspind ein, man räumte nach, begann auszuhelfen, sprach einander mit du plus Nachnamen an und fand den gemeinsamen, hastigen Rhythmus auf kleinstem Raum, wenn rasch angetreten werden sollte oder ein Stubendurchgang und ein Kostümfest anstanden, ein rasendes Umkleiden vom Gefechts- in den Ausgehanzug und wieder zurück – sinnloses Treiben, das aber bereits das Potential einzelner zur Subversivität und zum Freiraum aufdeckte.
Der soziale Unterschied spielte keine Rolle, Uniform und gleiche Anforderung bügelten alle Herkunftsfalten aus, die Karten wurden tatsächlich neu gemischt. Aber nach Wochen zeigten sich Eigenheiten: Es waren ausgelernte Gesellen darunter, die ganz anders mit den Ausbildern sprechen, rauchen und verhandeln konnten. Es gab Schnarcher, es gab solche, die den Rotz hochzogen, ohne je auf die Idee zu kommen, daß zur Rekrutenausstattung auch zwei Taschentücher gehörten. Es wurde gefurzt und gerülpst und auf fast unerträgliche Weise nachgefressen, wenn die Verpflegung nicht reichte. Fickgespräche, Pornoneigung, ekelhafte Späße: Dies ertragen zu lernen, das Nicht-Abstellbare hinzunehmen, weil es im gemeinsamen Einsatz, im wirklich harten Ausbildungsalltag ganz egal wurde, war eine der Lebenslehren dieser Zeit.
Sie endete nach drei Monaten. Wir Offizieranwärter verließen die Acht-Mann-Stube, als man während der Spezialausbildung damit begann, uns mehr aufzuladen als den anderen: Es kam zum abendlichen Ruf des Kompaniechefs, der Aufgaben verteilte, die bis zum morgendlichen Antreten zu erledigen waren – Bau eines Geländesandkastens nach Lagekarte, Ausformulierung eines Befehls, Planung eines Orientierungsmarsches samt Marschkompaßzahlen, Vorbereitung eines Kurzvortrags zu einem gesellschaftspolitischen Thema. Auf der Acht-Mann-Stube war für so etwas kein Platz mehr. Also siedelten wir zu zweit, dritt in Zimmer mit Arbeitspulten und Kartentisch um. Auch gab es wieder ein Bücherregal …
Es soll, hörte ich, keine Acht-Mann-Stuben mehr geben. Eine weitere Türe, durch die Generationen junger Männer geschoben wurden, ist zugeschlossen. (GK)
Abbe Ecken hat gesehen, wer schon einmal eine Waldorfschule oder eine anthroposophische Klinik betrat oder sich nach Dornach in der Schweiz begab, um das »Goetheanum« zu sehen: Er hat den »typisch anthroposophischen« Baustil erlebt.
Auf rechte Winkel wird konsequent verzichtet: Die Ecken sind ab, weil die Natur keine rechten Winkel kennt. Stilmerkmale sind vielmehr gerundete oder abgekappte Ecken, organische Formen und geometrische, kristallartige Figuren. Kristalle sind sehr wohl eckig, aber niemals rechtwinklig geformt. Dächer werden großteils als Schalen oder Kappen angelegt, darunter sind tragende Säulen von wesentlicher Bedeutung. »Das Ganze ist aus der Gesamtform heraus gedacht, rein künstlerisch gedacht […] so daß also diese fortlaufende Entwickelung der Kapitälmotive, der Architravmotive, rein aus der Anschauung heraus geschaffen ist, eine Form aus der andern«, charakterisierte Rudolf Steiner seinerzeit die den Rundkuppelbau des Goetheanums tragenden Innenraumsäulen.
Die verwendeten Formen »bedeuten« nichts Symbolisches; vielmehr folgen in der Natur die Formen den Naturgesetzen und vermitteln dadurch geistige Gehalte, weshalb die Formen der Gebäude den Formen der Natur nachempfunden werden. Bogen, Schwünge, außergewöhnliche Winkel und Farben sind keine »Kunst am Bau«. Sie sind der Bau selbst, so wie eine Blüte oder Frucht am Baum nicht den Baum verziert, sondern aus ihm hervorgewachsen ist.
Steiner hielt 1914 einen Architekturvortrag, in dem er das an den damals aus dem Boden schießenden Gründerzeitbauten so häufig verwendete antikisierende »Akanthusblatt« umdeutete: Die Kunst kopiert nie die Natur, sondern ist Ausdruck geistiger Gegebenheiten. Säulen mit Blattornamenten zu verzieren ist daher ganz unorganisch und geistig leer, weshalb auch ein Vergleich von anthroposophischer Architektur mit dem Jugendstil nur äußerliche Ähnlichkeiten zutage fördert.
Das erste Goetheanum war vollkommen aus Holz gefertigt, es fiel 1923 einem verheerenden Brand zum Opfer. Der neue Goetheanumbau wurde daher von Steiner aus Beton entworfen, einem damals in der Architektur ganz neuartigen Material. Er beschrieb den Eindruck, den der Doppelkuppelbau (er selbst sprach mit vollem Ernst von einer »Gugelhupfform«) auf die ersten Besucher machte: »Man kommt ja – das ist ganz selbstverständlich – mit vorgefaßten Motiven hinein und beurteilt es nach dem, was man schon gesehen hat. Da fällt manches auf.
Manche, die gar nicht gewußt haben, was sie daraus machen sollen, haben gesagt: In Dornach hat man einen futuristischen Bau aufgeführt. Die Formen des Betonbaues sind sowohl dem neuen Material, Beton, wie auch dem, was für dieses neue Material sich ergibt in bezug auf die künstlerische Form, gedacht. Aber innerhalb der Betonumrahmung ist dann auch versucht, säulenartige Stützen zu schaffen. Da ergab sich von selbst, daß sie so aussehen wie Elementarwesen, die gnomenhaft rissig aus der Erde herauswachsen und zugleich in der Gestaltung tragen.«
Das Goetheanum wird durch verschiedene Bauten in der Umgebung ergänzt, wie zum Beispiel das skulpturale Heizhaus. Auffällig ist hier der Schornstein, der wie Astwerk in die Lüfte ragt. Nach Steiners Ansicht teilt sich der Rauch in einen physischen und einen ätherischen Teil. Der Schlot repräsentiert den physischen, die seitlichen Verästelungen den ätherischen Teil.
Im Vergleich dazu nimmt sich die von Friedensreich Hundertwasser entworfene Kraftwerksanlage in Wien Spittelau ganz »volkspädagogisch« aus – dort verdecken Bäume auf den Dächern als »Mitbewohner« das Industriegebäude, bunte Fensterchen, Mosaike und eine überdimensionierte Clownskappe lenken von der Funktion der Müllverbrennungsanlage ab, die Hundertwasser als »Mahnmal für das Bedürfnis nach einer abfallfreien Gesellschaft« verstand. An Steiners Architekturimpuls ist nichts in diesem linken Sinne pädagogisch, wenngleich jedem Bau eine menschheitsgeschichtliche Aufgabe innewohnt. Bei der Grundsteinlegung zum ersten Goetheanum am 20. Dezember 1913 sprach er von einem »Wahrzeichen geistigen Lebens der neueren Zeit«. (CS)
Stacheldraht ist jetzt eher ein Symbol als das besonders nützliche Mittel zur Strukturierung von Räumen, als das er ursprünglich erdacht wurde. Sein Raum sind heute gesellschaftliche Alpträume: Denkt man an Stacheldraht, dann auch an die so oft gezeigten Bilder von der Westfront 1916, aus Gefängnissen, aus Arbeitslagern. Und während diese Assoziationen berechtigt sind, bleiben sie doch an der Oberfläche des Phänomens: Stacheldraht ist das physisch-topographische Steuerungsinstrument des Massenzeitalters.
Der Bedarf geht zurück auf die britische Agrarrevolution des 18. Jahrhunderts mit ihrer Einführung des selektiven Zuchtverfahrens. Ob das Grundproblem der Moderne nun die Anwendung natürlicher Funktionsmechanismen auf die menschliche Gesellschaft (»Sozialdarwinismus«) sei oder genau andersherum, darüber scheiden sich die Geister. Das Resultat bleibt sich gleich: Das exponentielle Anwachsen der zu bewirtschaftenden, beweglichen Biomasse schuf den Bedarf nach einer wirksamen Dirigiermethode, die so kostengünstig, beständig und mobil wie möglich sein sollte. Die durch die Agrarrevolution ermöglichte industrielle Revolution vervielfachte diesen Bedarf und stellte gleichzeitig die notwendigen Mittel zur Abhilfe bereit – Drahtzäune als simple Form der Einfriedung gibt es seit etwa 1860.
Der einfachste und – zumindest kurzfristig – wirksamste Anreiz, Lebewesen in eine gewünschte Richtung zu bewegen, ist indes Schmerz. Einen Weidezaun kann ein tonnenschwerer Stier einfach niederdrücken; verletzt der Zaun ihm Maul und Flanken, wird er sich instinktiv abwenden. Nach einigen Anläufen beiderseits des Atlantiks setzte sich der US-Bauer Joseph Glidden 1874 mit seinem besonders einfachen Konzept durch: Er hatte Stücke des vorhandenen Drahts in einer Kaffeemühle zu scharfkantigen Splittern geschrotet, die in eine Doppelwendel des gleichen Drahts eingeflochten wurden.
Die Herstellungsmethode mit den wenigsten Arbeitsschritten setze sich unweigerlich durch: Der »Teufelsstrang« wog sehr wenig, zerstörte nicht den Ackerboden, warf keinen Schatten, war windbeständig, bildete keine Schneewehen und war extrem günstig. Seine weiträumige Anwendung an der US-»Frontier« sorgte für massenhaftes Verhungern der großen, frei umhergetriebenen Rinderherden; als deren Hüter, in ihrer Existenz bedroht, Drahtsperren zu zerschneiden begannen und sich einen mehrjährigen Kleinkrieg mit Großgrundbesitzern lieferten, wurde das Drahtschneiden ab 1884 gesetzlich verboten. Der »Wilde Westen« wurde so durch den Stacheldraht »gezähmt«; die »Cowboys« gehörten bald der Vergangenheit an.
Dem allseitigen Umbruch der Jahrhundertwende entsprechend, zog auch der Stacheldraht in den Krieg: Der Russisch-Japanische Krieg (1904 / 05 als technische Generalprobe für den europäischen Großen Krieg ausgetragen) sah das Debüt auch der Stacheldrahtverhaue, die eingesetzt wurden, um angreifende Infanterie gezielt in die überlappenden Feuerbereiche der ebenfalls brandneuen MG-Nester zu lenken.
Der erste Einsatz des Drahts zur gezielten Einschließung von Menschen kam sogar noch früher, weil er wenig Umdenkens bedurfte: Die Briten gewannen den Zweiten Burenkrieg (1899 – 1902) wesentlich infolge ihrer Terrorkampagne gegen die Zivilbevölkerung, die sie nach der Zerstörung der heimischen Höfe – Viehherden gleich – in umzäunte Konzentrationslager trieben und dort dem Hunger und den Seuchen überließen. Die ausschweifenden Drahtsperren des Ersten Weltkriegs schufen ihrerseits Bedarf an revolutionären Neuentwicklungen wie der Feuerwalze und dem Panzer.
Heute sind einerseits noch abschreckendere Abriegelungen wie Klingendraht, andererseits subtilere Kontroll- und Dirigiermechanismen wie Kameraüberwachung, elektronische Verfolgung und Psychogeographie an die Stelle der institutionellen Stacheldrahtverwendung getreten. Seine Spuren hat der Teufelsstrang jedoch allemal ins moderne Zeitalter gegraben, als symbolische Manifestation der Sichtweise auf Menschen als instinktiv zu steuerndes Massenvieh. (NW)