Nachruf auf den Philosophen und Dissidenten Gunnar Kaiser (1976 – 2023)

Am 12. Oktober 2023 ist Gunnar Kaiser im Alter von 47 Jahren an einer Krebserkrankung gestorben. Sein Tod kam nicht überraschend. Er wußte schon lange, daß er unheilbar erkrankt war, und er hatte sein Publikum darüber nicht im Unklaren gelassen.

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Letz­tes Jahr sind zwei mei­ner Freun­de an Krebs erkrankt, einer etwas jün­ger, einer etwas älter als Kai­ser, der wie­der­um mein Jahr­gang war. Bei­de haben es über­stan­den. Auch wenn ich Kai­ser nicht per­sön­lich kann­te, so habe ich bis zuletzt gehofft, daß auch er dem Tod von der Schip­pe sprin­gen würde.

Nach­ru­fe, alle­samt vol­ler Respekt und Anteil­nah­me, habe ich bis­lang nur im “alter­na­ti­ven” Spek­trum gefun­den. (Nach­trag: Inzwi­schen hat die Welt einen Arti­kel mit dem bezeich­nen­den Titel “Held einer Gegen­welt” gebracht).

Der Sta­tus schreibt zu Recht:

Egal, wo sich die ein­zel­nen Per­so­nen inner­halb des kri­ti­schen Lagers ver­or­ten, alle prei­sen den zu früh ver­stor­be­nen Kai­ser für sei­ne Mensch­lich­keit und sei­nen Mut zur Wahr­heit glei­cher­ma­ßen. Libe­ral­kon­ser­va­ti­ve, Neu­rech­te, Sozi­al­pa­trio­ten, kri­ti­sche Lin­ke, Quer­den­ker: Alle wuss­ten ihn zu schät­zen und trau­ern um ihn.

Der soge­nann­te “Main­stream” hin­ge­gen, der nun schweigt, hat Kai­ser schon lan­ge für tot erklärt.

Sein Ver­bre­chen war, daß er sich in der “Corona”-Zeit zu einem der klügs­ten und vehe­men­tes­ten Kri­ti­ker der Pan­de­mie­dok­trin ent­wi­ckel­te. Er wur­de in der Fol­ge, wie in die­sem NZZ-Arti­kel, als “Ideo­lo­ge” abge­stem­pelt und dis­kre­di­tiert, eben des­halb, weil er sich der herr­schen­den Ideo­lo­gie nicht fügen woll­te, eben des­halb, weil er kein Ideo­lo­ge, son­dern ein skep­ti­scher Geist, ein Anti-Ideo­lo­ge war, der sich aber nicht scheu­te, vehe­ment Stel­lung zu bezie­hen, wenn es nötig war.

“Ich mach da nicht mit”, sag­te er (April 2021), “ich schmei­ße hin” (Mai 2021), und sogar, Richung Hal­den­wang gerich­tet: “Ich bin ein Staats­feind.” (Janu­ar 2022). Und all dies, obwohl er mit sei­nem Talent bequem Kar­rie­re im Main­stream und etwa einem Herrn Precht Kon­kur­renz hät­te machen kön­nen. Dem zog er aus Grün­den der per­sön­li­chen Inte­gri­tät den “Sprung ins Unge­wis­se” einer geis­tig unab­hän­gi­gen Exis­tenz vor.

Eines sei­ner You­tube-Vide­os führ­te er so ein:

Es kommt der Moment im Leben eines jeden Men­schen, an dem er sich fra­gen muß: Soll ich blei­ben oder gehen? Wenn die roten Lini­en immer näher rücken, muß man sich zudem ver­ge­gen­wär­ti­gen, wel­che Kon­se­quen­zen man zie­hen will. Die Grund­fra­ge lau­tet: Kannst du etwas im Sys­tem ver­än­dern – oder ver­än­dert das Sys­tem vor­her dich? Es gilt das Ver­hält­nis zwi­schen per­sön­li­chem Ein­satz und Chan­cen auf Ver­än­de­rung zu reflek­tie­ren und sich aus gesun­dem Selbst­schutz sel­ber zu begren­zen. Letzt­lich ist aber die Frei­heit, die der Abschied vom Sys­tem ver­leiht, auch die Vor­aus­set­zung einer Krea­ti­vi­tät, mit der man erst über neue Wege und Lösun­gen träu­men und nach­den­ken kann. 

All dies sind Din­ge, die auch “uns” beschäf­tigt haben und immer noch beschäf­ti­gen, schon vor “Coro­na”, aber von die­ser trau­ma­ti­schen Erfah­rung noch immens verstärkt.

In einer Bespre­chung sei­nes Buches Der Kult schrieb ich im Juni 2022:

Gun­nar Kai­ser schmückt sei­nen You­tube-Kanal mit dem Hash­tag #ich­mach­da­nicht­mit, einem Leit­spruch also, der unse­rem sezes­sio­nis­ti­schen „eti­am si omnes, ego non“ ziem­lich ähn­lich ist. (…) Der Libe­ra­le Kai­ser lan­det am Ende genau dort, wo wir Rech­ten zu einem gro­ßen Teil schon gelan­det sind: Das Sys­tem ist nicht mehr refor­mier­bar, es bedarf des Aus­stiegs und der Ver­net­zung der Aus­stei­ger, der Abkehr, der Sezes­si­on, idea­ler­wei­se der Grün­dung neu­er Gemein­schaf­ten oder „Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten“, die sich dem Zugriff des Mas­sen­wahns und der kom­men­den tech­no­kra­ti­schen Dys­to­pie entziehen.

Natür­lich gab es neben Über­schnei­dun­gen auch etli­che Dif­fe­ren­zen zwi­schen ihm und der poli­ti­schen Rech­ten, die er zum Teil scharf kri­ti­siert hat (August 2019). Im Gegen­satz zu den meis­ten ande­ren Kri­ti­kern der Neu­en Rech­ten war er jedoch bereit, sich per­sön­lich sach­li­chen Debat­ten zu stel­len, etwa mit Mar­tin Sell­ner im Dezem­ber 2019. Nicht anders als wir, so wünsch­te auch er sich  “wür­di­ge Geg­ner”, eine sehr sel­ten gewor­de­ne intel­lek­tu­el­le Spezies.

Er emp­fing aber auch etli­che ande­re Köp­fe auf sei­nem Kanal, die für unser Spek­trum rele­vant sind: Er sprach unter ande­rem mit David Engels über die Ret­tung der “See­le Euro­pas”, mit Harald Seu­bert über die Tech­no­lo­gie-Kri­tik Mar­tin Heid­eg­gers, mit Ray­mond Unger über den “Ver­lust der Frei­heit”, mit Anselm Lenz über den Kon­for­mis­mus der zeit­ge­nös­si­schen Lin­ken, mit Gun­ter Frank über den “Staats­vi­rus”, mit Hau­ke Ritz über die “Tech­no­lo­gie der unfrei­en Welt”, mit Hans-Joa­chim Maaz über die “Kol­lek­tiv­psy­cho­se” und mit Max Otte über das “ver­lo­re­ne Deutschland”.

Unver­ges­sen ist auch sei­ne Par­odie auf die lin­ken “Film­ana­ly­sen” von Wolf­gang M. Schmitt, mit der er auch sein sati­ri­sches Talent unter Beweis stellte.

Ich selbst habe ihn erst in den Jah­ren der “Pan­de­mie” zu schät­zen gelernt. Wäh­rend die­ser Zeit war er für mich gera­de­zu ein Held und ein Leucht­turm, nicht anders als der eben­falls viel zu früh unter tra­gi­schen Umstän­den aus dem Leben geschie­de­ne Cle­mens Arvay oder der klu­ge Wie­ner Psych­ia­ter Rapha­el Bonel­li. Ich nahm Kai­ser zu die­sem Zeit­punkt nicht mehr als “Geg­ner” wahr.

Arvay war auch ein­mal per­sön­lich Gast auf Kai­sers Kanal, in die­sem sehens­wer­ten Video vom 30. Okto­ber 2020. Ich kann es kaum fas­sen, daß nur drei Jah­re spä­ter alle bei­de tot sind.

Im Janu­ar 2021, als Kai­sers Abkehr vom Main­stream schon weit fort­ge­schrit­ten war, schrieb ein vor Wut schäu­men­der Autor der Welt, die­ser habe “die rote Linie überschritten”:

Nein, es ist kein Fall von „Can­cel Cul­tu­re“, wenn man fest­stellt: Der Autor, Publi­zist und You­Tuber Gun­nar Kai­ser hat sich am 28. Janu­ar 2021 in einem Post auf Face­book als Teil­neh­mer in der Debat­te über Sinn und Unsinn, Chan­cen und Schä­den der Coro­na-Maß­nah­men rest­los disqualifiziert.

Wor­in bestand denn nun die uner­mess­li­che “Unge­heu­er­lich­keit” (so der Autor die­ses “Kom­men­tars”) von  Kai­sers Wort­mel­dung? Die Welt zitier­te in vol­ler Länge:

„Haben älte­re Men­schen“, fragt er [Kai­ser], „die klag­los hin­neh­men, dass ‚in ihrem Namen‘ und ‚zu ihrem Schutz‘ Kin­der und Jugend­li­che in Angst und Schre­cken ver­setzt wer­den, sie Stö­run­gen und Neu­ro­sen ent­wi­ckeln, unter Iso­la­ti­on und Ein­sam­keit so sehr lei­den, dass unter ihnen die Sui­zid­ra­te signi­fi­kant steigt, sie seit bei­na­he einem Jahr nur noch einen bil­li­gen Abklatsch von Bil­dung bekom­men, nicht mehr unbe­schwert spie­len und ihren Hob­bys nach­ge­hen kön­nen, sie zu Hau­se ver­nach­läs­sigt wer­den, auch klei­ne Kin­der acht Stun­den am Tag im Som­mer Mas­ken tra­gen muss­ten und eine gan­ze jün­ge­re Gene­ra­ti­on für die zukünf­ti­gen Schul­den und gesell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Fol­ge­schä­den wird bür­gen und auf­kom­men müs­sen …“ – hier fügt Kai­ser einen Absatz ein – „… haben älte­re Men­schen, die das hin­neh­men und freu­dig akzep­tie­ren für ein paar eige­ne Lebens­jah­re mehr, die­se Lebens­jah­re dann verdient?“

Nun, das war gewiß eine geziel­te Pro­vo­ka­ti­on, die dem Schrei­ber­ling, der mit eini­ger Chuz­pe beteu­er­te, er betrei­be kei­ne “Can­cel Cul­tu­re”, ein will­kom­me­nes Ali­bi gab, zu behaup­ten, Kai­ser sei als “Teil­neh­mer in der Debat­te über Sinn und Unsinn, Chan­cen und Schä­den der Coro­na-Maß­nah­men rest­los dis­qua­li­fi­ziert”. Man kön­ne doch nicht “die Bedin­gungs­lo­sig­keit des Rechts auf Leben, die ein Grund­pfei­ler unse­rer Gesell­schaft ist, relativieren”!

Aber wofür sind denn Phi­lo­so­phen – und Kai­ser war ein sol­cher – da, wenn nicht dazu, unbe­quem zu sein, auf­zu­rüt­teln, zu den­ken und aus­zu­spre­chen, was ande­re nicht zu den­ken wagen? Aus­ge­rech­net Kai­ser unter dem Vor­wand mora­li­scher Empö­rung aus dem dama­li­gen “Dis­kurs” aus­schlie­ßen zu wol­len, hieß, eine beson­ders gewich­ti­ge und unver­wech­sel­ba­re Stim­me zu eli­mi­nie­ren. Er hat­te kei­nes­wegs irgend­je­man­dem das “Recht auf Leben” abge­strit­ten, son­dern eine durch­aus pro­fun­de ethi­sche Fra­ge auf­ge­wor­fen, die in dem Schrei­ber­ling hys­te­ri­sche Anfäl­le auslöste.

Es war zu die­sem Zeit­punkt bekannt, daß “Coro­na” nur für eine bestimm­te Alters­klas­se ris­kant ist. Die Fra­ge war hart, aber berech­tigt: War es ver­tret­bar, zum Schutz die­ser Men­schen, die nicht mehr viel Lebens­zeit vor sich hat­ten, “Maß­nah­men” auf­zu­fah­ren, die dazu führ­ten, daß jun­ge Men­schen, die nicht gefähr­det waren, einen hohen Preis bezah­len muß­ten, bis hin zur Gefähr­dung ihres eige­nen Lebens, zunächst durch den psy­chi­schen Druck, der auf jugend­li­che, ver­wund­ba­re Gemü­ter aus­ge­übt wur­de, spä­ter durch die Erpres­sung und ver­such­te Ver­pflich­tung zur Impfung?

Ver­hiel­ten sich Men­schen, die das “klag­los” hin­nah­men, um sich selbst (ver­meint­lich) zu ret­ten, nicht kurz­sich­tig, ego­is­tisch, rück­sichts­los, unethisch? Kann es denn über­haupt so etwas geben wie eine “Null-Risi­ko-Gesell­schaft”, die den Ver­fech­tern des Hygie­ne-Regimes als Ide­al vorschwebte?

Wie liest sich die­ser Face­book-Ein­trag heu­te? Damals konn­te noch nie­mand ahnen, daß Kai­ser selbst nur mehr zwei Lebens­jah­re vor sich hat­te. Auch er wuß­te das nicht. Kann man sich nun vor­stel­len, daß er in Kauf genom­men hät­te, eine gan­ze Gesell­schaft unter Psy­cho­ter­ror zu set­zen, damit er sel­ber sich noch etwas Lebens­zeit her­aus­schin­den könne?

Natür­lich nicht. Als der Tod in Gun­nar Kai­sers Leben trat, bewies er, aus wel­chem cha­rak­ter­li­chen Holz er geschnitzt war. Er trug sein Schick­sal mit stoi­scher Wür­de, und streb­te bis zuletzt nach Wis­sen, Erkennt­nis und Frei­heit, wie es einem ech­ten Phi­lo­so­phen seit eh und je geziemt.

Die Krebs­er­kran­kung war nach “Coro­na” der zwei­te gro­ße Prüf­stein in Gun­nar Kai­sers intel­lek­tu­el­ler Kar­rie­re (es mag noch ande­re gege­ben haben, aber von die­sen weiß ich nichts). Er wur­de auf Got­tes Waa­ge gewo­gen, und ich den­ke nicht, daß er zu leicht befun­den wurde.

Gun­nar Kai­ser war, im Gegen­satz zu vie­len ande­ren, die sich an eine “alter­na­ti­ve” Gegen­öf­fent­lich­keit wand­ten, kein Spen­den­ab­grei­fer, kein Jäger nach Klick­zah­len, kein eit­ler Selbst­dar­stel­ler, kein seich­ter Schlag­wort­fa­bri­kant, son­dern ein viel­sei­tig talen­tier­ter, auf­rich­tig an der Wahr­heits­fin­dung inter­es­sier­ter, unkor­rum­pier­ba­rer Geist.

Sein Kanal bleibt hof­fent­lich wei­ter­hin im Netz ver­füg­bar, als Zeit­do­ku­ment und ein­zig­ar­ti­ge Fund­gru­be vol­ler geis­ti­ger Anre­gun­gen zu einer stu­pen­den Viel­falt von Themen.

Er ruhe in Frie­den, und ich zie­he den Hut vor ihm.

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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