Hinter den Linien. Tagebuch – Dienstag, 16. April

Vor gut zwei Monaten begleitete ich einen Moslem zum Freitagsgebet. Ich hatte ihn im Zug kennengelernt, er las ein Buch, ich las ein Buch, er kannte mein Buch und sprach mich an.

Ich begleitete ihn, weil ich erleben wollte, wie es sei, wenn sich entwurzelte Männer treffen, um eine der Wurzeln zu gießen, die sie mit sich tragen und deren Bedeutung in der Fremde entweder Halt zu bieten vermag oder vertrocknet.

Ich traf also zur angegebenen Zeit am bezeichneten Ort ein, kurz nach Mittag vor dem Kulturzentrum des Stadtteils. Der große Raum darin, mehrzweckhaft, mit niedriger Decke und Sprossenwänden, verschiebbaren Raumteilern und fadem Linoleum - wir würden ihn als Verlag, als Szene nie und nimmer anmieten können, um darin eine Buchmesse zu veranstalten oder ein Fest. Die Moslems aber besitzen einen Vertrag bis Ende des Jahres, Freitag für Freitag, stets für einen halben Tag.

Mahmud entdeckte und begrüßte mich, es war die typische Geste: Er griff mit beiden Händen nach meiner rechten Hand und hatte zuvor beide Handflächen kurz an seine Brust gedrückt. Wir betraten die flache Halle. Im Vorraum hunderte paar Schuhe. Ich ließ meine an und rückte einen Stuhl ganz nach hinten an die Wand, setzte mich und schaute zu, wie Männer, keine Frauen, nur Männer in die Halle drängten.

Es waren vor allem junge Männer, und es waren Männer aus aller Herren Länder: viele Araber, viele Syrer und Afghanen, manchmal Brüder, das sah man, wenige ältere Väter mit ihren Söhnen; kleine stämmige Tschetschenen, magere schwarze Riesen unter Tuch, Tschad, Mauretanien, Hirtenaura jedenfalls, und ganz sicher so sehr fehl am Platz wie keiner der Türken und Albaner, die in Trainingshosen erschienen, alle vom selben Barbier entlassen, ölig, Neukölln, irgendwie längst im Geschäft.

Alle Stühle waren zusammengeschoben und weggestapelt, denn es wurden Teppiche entrollt, Teppiche in allen Farben und Größen, längs, quer, auch Isomatten und Rettungsdecken, Hauptsache irgendetwas, nie der nackte Boden. Ich nahm wahr, wie Unterlagen gedreht wurden, damit der Nachbar auch noch Platz darauf fand. Einladende Gesten, aber auch schon innere Sammlung bei manchem, der Vorgebete verrichtete und sich vom Gerücke und Gerede nicht stören ließ.

Die Reihen rückten auf mich zu, der Raum füllte sich. Ich wurde gemustert und begrüßt, man bot mir Platz auf einem Teppich an, aber ich verwies stumm auf meinen Stuhl und blieb auch dann sitzen, als ein Vorsänger anstimmte, das Gemurmel verstummte und die Beter sich ausrichteten, mit Blicken nach links und rechts und letztem Geruckel.

Der Sänger kam zum Ende, und neben ihm erhob sich ein noch recht junger Mann und setzte an. Die Stimme war die eines Offiziers: klar, selbstbewußt, auch in den Pausen, überlegt und überlegen, begleitet von sparsamer Gestik.

Anrufungen, Verbeugungen aus dem Knien heraus, vorgebeugt verharrend, dann Entspannung und Predigt. Das war keine Kontaktaufnahme mit nachaufklärerischen Glaubensskeptikern, kein Abholen, keine liturgische Gefälligkeit. Es war ordnender Ton, Glaubensaufforderung und eine Ansage gegen jeden Widerspruch.

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(Ergänzungen, Fundstücke und kritische Anmerkungen richten Sie bitte an [email protected]. Ich werde ausbreiten, was sich ansammelt.)

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Dienstag, 16. April

Der Umzugsunternehmer Sven Ebert hat in der Nacht auf den gestrigen Montag durch einen Brandanschlag Teile seines Fuhrparks verloren. Ebert sitzt für die AfD im Gemeinderat von Schkopau, seine Firma war in den vergangenen Jahren immer wieder mit Farbbeuteln und Schmierereien attackiert worden.

Nun muß Ebert den Schaden auf mehrere hunderttausend Euro beziffern, und damit gehört dieser Anschlag zu den größeren, die bisher gegen AfD-Politiker, Unterstützer und Akteure der nationalen Opposition verübt wurden.

Das schreibt sich so. Aber was bedeutet das eigentlich? Es bedeutet, daß es keinen Schutz gibt, keine abschreckenden Maßnahmen, die "der Staat" ergreifen würde. Er könnte es. Jedoch sprechen die Signale, die er aussendet, eine andere Sprache.

Sven Ebert: Er wohnt eine gute halbe Stunde entfernt von uns am Stadtrand von Halle in Hohenschönweiden. Sein Haus ist der Landsitz eines Schotten: Ebert hat vor zwei Jahrzehnten einen eigenen Clan gegründet, tritt im Kilt auf, serviert Whisky, bläst die Lure und war als Veranstalter der Highland-Games in Halle eine Größe.

Alles an Ebert ist stabil, schwer, kräftig, begeistertes Machen und nicht ohne Selbstironie. Er ist ein Alleinunterhalter, eine exzentrische Figur, der frühvergreisten Mandatsträgervernunft seiner eigenen Partei unheimlich oder peinlich oder beides. Seine Metaphern und Wortsalven sind ungeschützt, direkt, manchmal schief, immer laut, immer von Herzen. Als Unternehmer ist er ein extrem erfolgreicher Stratege.

Wir lernten ihn kennen, als er in Halle Plakatwände mit dem Konterfei Pirinccis und dem Cover von dessen Bestseller Umvolkung vollhängte und für Lesungen warb. Damals war Ebert noch Mitglied der grünen Partei, ein Urgrüner - einer also, dessen Grillfleisch von wirklich glücklichen Tieren stammt und bis auf die letzte Gabel verzehrt werden muß, wenn man bei ihm am Tische sitzt.

Ebert organisierte hochkarätige Lesungen und Diskussionen, Patzelt war bei ihm, volles Haus, offene Gespräche, und immer ein großzügiges Buffet und Getränke und ein schottischer Ausklang.

Bärenkraft, Mut, kein Mann für Fraktionszwänge und Netzwerker-Nettigkeiten, offenes Visier, Klarname, ganzer Einsatz: Und so einem fackeln die den Fuhrpark ab. Das ist ja noch nicht einmal Rotfront oder SA. Das sind kleine, feige, anonyme Arschlöcher.

Ebert hatte von denen mal ein paar erwischt, die gerade dabei waren, AfD-Plakate zu zerstören. Er hat mit denen noch nicht einmal Highland-Games veranstaltet, also Baumstammwerfen oder so, bloß gestellt hat er sie, bis die Büttel kamen. Aber angezeigt wurde natürlich er.

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Wo wir gerade bei der Anonymität sind: Nach Höckes Fernsehduell gegen seinen CDU-Herausforderer Voigt war gleich das Netz voll mit Bewertungen, Analysen und Kritik - letztere auch von rechts, letztere fast immer mit sprechenden, also eitlen Pseudonymen, die das natürlich alles besser gemacht hätten, weil sie es besser wissen, immer.

Bloß: Bescheidwisserei ist noch kein Machen. Die Versuchsanordnung war also folgende:

  1. Höcke gegen Voigt, zwei Moderatoren, also Höcke gegen Voigt und zwei Moderatoren;
  2. hängende Verfahren, also Sorge, wieder ein Wort zu sagen, eine Wendung zu verwenden, aus denen man Stricke drehen könnte;
  3. überhaupt: der Nackengriff der Demokratie - dieses verschwiemelte Suggerieren, Unterstellen, Verdächtigen;
  4. ein Millionenpublikum, das mit den Propagandamitteln einer antideutschen Staatsidee beharkt werden würde, währenddessen und danach.
  5. der Druck, diese Show und Chance zu verhauen;
  6. wissen, daß man hinterher "kommentiert" wird, daß man der Gesellschaft des Spektakels eine Show lieferte, liefern mußte.

Sich in eine solche Situation zu stellen - das macht nicht jeder, das besteht längst nicht jeder. Höcke muß das alles machen, er muß bestehen, denn Politik ist Zehnkampf, für Spitzenpolitiker befohlener Zehnkampf, sozusagen. Egal, ob man hier Stärken und dort Schwächen hat: Zehnkämpfer können keine einzige Disziplin abwählen, sondern müssen antreten, immer. Die Summe macht's. Höcke und andere seines Kalibers stehen im Training, müssen sich messen - und schlagen sich gut!

Von Höcke und Ebert weiß man, wo sie wohnen, wo man sie findet, daß sie Frau und Kinder und einen Ort haben. Sie sind ausgesetzt, sie fechten nicht unter Pseudonym, sie haben keine zweite Existenz.

Anders ausgedrückt: Suchte man unter den Schlaubergern einen, der selbst in den Ring steigen würde, weil gerade kein Höcke verfügbar wäre, käme es zu einer Drängelbewegung nach hinten ...

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Eben schrieb ein Leser, man könne noch erwähnen, daß unsere Arbeit hier in eine kleine, miese CDU-Patrone umgegossen und gegen Höcke abgefeuert wurde: ob er seine "Ideen aus dem Nazischloss in Schnellroda" beziehe. Tatsächlich nahm ich's wahr, vergaß es aber sofort wieder - wie immer, wenn einer verbal am Ende ist und aus uns Nazis macht, die Bücher verlegen ...

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Sonntag, 7. April

Das Schwierige am Beruf des Verlegers und Publizisten ist, daß man es sagen muß, wenn man sprachlos ist. Als ich gestern Spiegel-online aufsuchte, um zu schauen, was das Leitmedium unserer Transformationsregierung derzeit auf die Agenda setzen und in die Köpfe befördern möchte, war ich geneigt zu schweigen, nachdem ich das etwas weiter unten dokumentierte Bild gesehen hatte:

Es scheint, daß dann, wenn die Guten gegen die Bösen Krieg führen oder wenn es eben der Spiegel ist, der etwas formuliert (und sei es nur eine Überschrift) - daß dann also alles sagbar und ganz logisch ist, weswegen uns der Verfassungsschutz seit Jahren die Haut abzuziehen versucht.

Ich kann auf den im screenshot sichtbaren Familienbildern der ukrainischen Genpool-Rettungsstelle beim besten Willen keinen Neu-Ukrainer ausmachen, also einen aus Afghanistan, Nigeria, Syrien oder so. (Neben den weißen Kindern, Eltern, Frauen sehe ich bloß ein paar Ikonen, also ist das alles gesegnet, sogar.)

Ich will meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, daß ehemalige Ost-Polen darunter sind, oder Ruthenen und Bessarabiendeutsche. Aber das wäre ja alles durch das gedeckt, was wir sagen, seit wir uns politisch artikulieren können: Ukrainer ist, wer ukrainische Eltern hat (Genpool!). Ukrainer ist aber auch, wer Ukrainer werden will und die Sache der Ukraine ganz und gar zu seiner Sache macht (Assimilation!).

Ersetze "Ukrainer" durch "Deutscher" - dann bist du ein Fall für den VS. Dreh es wieder um, dann darfst du ein Röhrchen füllen, damit der Genpool nicht ausdünnt, denn wir alle wissen, daß es die Besten sind, die fallen, also die Besten, die das Volk aufzubieten hat, das Kollektiv, das wahrnehmbar anders ist als andere und sein So-und-nicht-anders-sein verteidigen und WEITERGEBEN will. Punkt.

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Während ich dies schrieb, entfiel mir, worüber ich noch schreiben wollte. War es die Attacke eines Syrers, der in Wangen im Allgäu eine Vierjährige niederstach? Wangen - das gehört zu meiner Heimat, das war mit dem Fahrrad erreichbar, dorthin radelten wir manchmal am Wochenende, denn es gab dort eine ausgezeichnete Buchhandlung und ein alternatives Kino, und ins humanistische Spohngymnasium in Ravensburg (Latein, Griechisch) pendelten die fernsten externen Schüler aus Wangen an, jeden Morgen sehr früh schon unterwegs.

Habe ich je notiert, daß Klaus Schwab, also der Davos-Schwab, der Weltwirtschaftsforum-Schwab, an ebendiesem Gymnasium das Abitur abgelegt hat, also ordentlich vor meiner Zeit? Ich selbst schriebs 1990, in Deutsch, Mathematik, Geschichte und Altgriechisch, und jetzt kommts: Auf Wikipedia sind im Anschluß an die Geschichte der Schule und die Liste der Rektoren sogenannte "Persönlichkeiten" aus der Schülerschaft aufgeführt.

Natürlich Klaus Schwab, aber eben auch ich. Das ist doch mal fair. Von dem Kirchenmusiker Reiner Schuhenn an kenne ich sie alle noch persönlich, die reüssierten mit ihrem Können schon während der Schulzeit. Ich war auch bereits damals in meiner Branche unterwegs: vier Jahre lang Chefredakteur der Schülerzeitung, "spohntan" hieß sie. (Erst vor einem Jahr sandte mir ein fünf Jahre jüngerer Schulkamerad alle von mir verantworteten Ausgaben gescannt zu - so richtig schöne Fingerübungen.)

Aber weiter: Johannes Braig beispielsweise steht auch auf der Liste. Er ist der Sohn des Schulrektors, über den ich im Vorwort zum Gesprächsband Unsere Zeit kommt (mit Karlheinz Weißmann) schrieb: Der alte Braig hatte mich ins Rektorat gerufen, als die Mauer fiel, 1989, denn ich war Schülersprecher und kam sehr gut mit diesem strengen, fairen, unfaßbar gebildeten und von einer seltsamen Melancholie umgebenen Mann aus.

Sein Sohn nun, Johannes Braig, hielt den Schulrekord über 3000 Meter. Johannes lief mit offenen Schnürsenkeln, sie waren sehr lang, und er sagte mir, daß er das mache, um seine Schrittlänge zu halten. Er gewann als Abiturient einen Kunstpreis, weil er aus Ton eine Vase zu formen in der Lage war, die als perfekt galt. Als ich selber an der Töpferscheibe im Kunstraum eine Vase zu gestalten versuchte, begriff ich, daß er den Preis zurecht verliehen bekommen hatte. Ich vermisse diesen Ernst.

Was erzähle ich da? Ich könnte noch viel mehr erzählen, zu jedem aufgeführten Schüler, auch etwas über die Lehrer, von denen zumindest einer sich meldete, als Schnellroda so sehr bekannt wurde und in den Focus geriet. Er meldete sich und lobte unsere Arbeit. Aber er fügte hinzu, daß ich nie vergessen sollte, was er immer im Unterricht gesagt hatte, wenn es um Hobbes und den Leviathan ging: Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch, und das sei zugleich besser und schlimmer als wenn der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. (Als ob man so etwas vergessen könnte!)

Jedenfalls: So fädelte sich gestern, beim Kartoffelnlegen, ein Gedanke an den anderen, ausgehend von Wangen und dem niedergestochenen Mädchen - und beim Lehrer noch längst nicht zuende. Dieses Fädeln ist ein Ordnen, ein Aufrufen, ein Ablegen und eine Einbettung. Genpool, jaja - aber eben auch Prägung, vor allem Prägung, ein Dünger aus Erinnerung und warmem, sattem, nährendem Bild. (Und dann biegt ein Klaus Schwab so ganz anders ab! Tsts ...)

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Mittlerweile: 320 Anmeldungen fürs Sommerfest - 180 freie Plätze noch.

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Freitag, 22. März

Der Schriftsatz, mit dem die Potsdamer Ausländerbehörde, Fachbereich Ordnung und Sicherheit, den "Verlust des Freizügigkeitsrechts in der Bundesrepublik Deutschland" gegen Martin Sellner feststellt, für zunächst drei Jahre, ist: Zirkelschluß, Unterstellung, logischer Offenbarungseid, Maßstabslosigkeit, ein Dokument der "Herrschaft des Verdachts" und das eines begriffswirren Sprachregimes.

Leute wie Armin Pfahl-Traughber, Matthias Quent, Anetta Kahane, Andreas Speit, Georg Restle und Volker Weiß haben ganze Arbeit geleistet: Sie haben Wörter ins Schwammige umgedeutet, mit einer gerichtsfesten Aura versehen und die Technik der Unterstellung in den Rang einer wissenschaftlichen Methode erhoben.

Behörden schreiben von agitierender Publizistik und "Wissenschaft" ab. So ist im Schriftsatz das "hetzerische, gewaltbejahende und menschenverachtende Potenzial" Sellners ebenso Thema wie der Umstand, daß Ethnopluralismus nichts anderes bedeute als "ausgrenzenden Nationalismus" und "Fremdenfeindlichkeit". Selbst eine Forderung nach "weitgehender Wahrung der Homogenität der Bevölkerung" sei bereits verfassungsfeindlich, und nicht erst dann, "wenn Homogenität in ihrer Absolutheit gefordert wird", undsoweiter.

Die zuständige Behörde schreibt sogar, sie gehe "in der Summe meiner Feststellungen" davon aus, daß Sellner durch sein Agieren "die historische Verpflichtung Deutschlands für den Holocaust als Grundlage unseres Staatswesens negiere". Nicht nur die in diesem Satz geäußerte Unterstellung, sondern seine ganze Konstruktion ist abenteuerlich.

Martin Lichtmesz wird sich zu Sellners Fall ausführlich äußern und den Schriftsatz so genüßlich zerlegen, wie nur er es kann. Aber das Genüßliche wird Sellner nicht weiterhelfen, es rückt nur unseren Blick auf diese Farce zurecht und kann uns helfen, den Humor nicht zu verlieren.

Aber könnte, nein sollte der Ansatz, unser Ansatz nicht wenigstens parallel zu den Kommentierungen der Macht, die in den Händen der Feinde liegt, ein ganz anderer sein? Vielleicht haben wir zuviel Zeit damit vergeudet, auf Argumente der Gegner und Feinde einzugehen - also dort noch immer auf die Macht des Arguments zu setzen, wo es nur noch um Macht geht, die ohne Argumente auskommt.

Unser Ton, der nie weinerlich ist, hat bereits aufgrund dieser Versuchsanordnung etwas Bittendes, einen Verständnis heischenden Grundton. Davon müssen wir uns lösen, in diesem Punkt waren wir früher schon weiter: Wir werden diejenigen nicht überzeugen, die den Einsatz ihrer Machtmittel nur noch dürftig kaschieren. Aber wir werden diejenigen begeistern, die ebenso angriffslustig, radikal, verblüffend, kreativ, schonungslos, rabiat, tatsächlich begabt für den Sprung ins Offene auf die Zumutung unserer Zeit antworten möchten wie wir.

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Ein Leserbrief zur Debatte um den Film "Zone of Interest" über das Alltagsleben der Familie Höß neben Auschwitz. Ich bringe ihn in voller Länge. Der Verfasser nennt sich sprenkler@... , aber was er schreibt, klingt nicht nach Wasserdüse und Rasenfläche, ganz und gar nicht:

Ich las gerade die Filmbesprechung über "Zone of Interest" auf Ihrem Blog. Interessant, wie unterschiedlich man aus derselben Ecke auf Dinge blicken kann. Es stimmt schon, der Anfang setzt die Meßlatte hoch, vieles danach kommt aber darunter zu liegen. Nicht optisch, die Bilder waren durchgehend stark: jedoch hört der Film spätestens zur Hälfte hin auf, nur zu zeigen und beginnt zu erzählen, ist dabei nicht nur einmal aufdringlich und plump.

Hedwig spaziert samt Mutter durch den Garten und redet versonnen über Blumen und Schwimmbecken, während man im Hintergrund Schüsse hört? Bitte, diese Botschaft kann man auch eleganter herüberbringen.

Rudolf verkündet seine Versetzung, Hedwig fürchtet, das wundervolle Grundstück neben Ausschwitz I zu verlieren und läßt die Wut an den anderen aus? Verstehe, deutsche Frauen schießen nicht, deutsche Frauen sind verdammt gemein zu polnischen Dienstmädchen und denken nur an die Azaleen, nicht an das Grauen hinter der Mauer.

So tritt also jeder auf seine Weise nach unten, während man den Blick stehts aufs Ziel gerichtet hat, Volk und Blumenbeet.

Dieser Film hat keine Ausdauer. Immer wieder versucht er, wirklich ungewöhnlich und nicht direkt zu sein und jedes Mal aufs Neue hält er nicht durch, als würde ihm plötzlich die Ungeheuerlichkeit seiner eigenen Botschaft bewußt werden. Also gleich nochmal das Gezeigte, aber sicherheitshalber unverschleiert diesmal, nur, damit keine Mißverständnisse aufkommen. Nie wieder.

Das polnische Mädchen im Negativ wirft beim ersten Mal Fragen auf, beim zweiten Mal leuchten die Äpfel weiß hinter schwarzen Schaufeln, und man versteht plötzlich, was sie tut. Warum hier noch weitererzählen? Warum ihr auf dem Weg nach Hause folgen, den Filter lüften und so mit der unwirklichen Stimmung brechen? Warum wieder direkt? Jetzt weiß man, sie ist Polin, im Widerstand und spielt Klavier. Silesia Film im Abspann, und man denkt sich zum zehnten Mal, wie faul und feig die Themenwahl ist.

Zugegeben, die Wut aufs Publikum half nicht: Almanknechte und Michelfressen, alle mit hängenden Schultern. Plötzlich war sich jeder bewußt, Vorfahren zu haben, plötzlich nicht mehr zufällig auf diesen Flecken Erde geworfen, stattdessen blutige Hände und Zähne unter den Sohlen. Und jeder dieser Vorfahren war Lagerleiter im Osten. Wir müssen alles besser machen. Viel besser.

Samstags, nach der Vorstellung, ging es mit diesem Besser gleich gut weiter: Martin Sellner wurde aus der Schweiz abgeschoben. Ein Anfang, immerhin.

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Es ist der Demokratie nicht zuträglich, daß alle zum Bekenntnis derselben Meinung genötigt werden. Das Bild stammt von der Eröffnungsveranstaltung zur Leipziger Buchmesse, die noch bis Sonntag läuft. Ich würde gern diejenigen zu einem Abendessen in einer guten Leipziger Gaststätte einladen, die den "Welle"-Effekt, den Gleichschritt unterliefen und kein Schild in die Höhe hielten.

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Samstag, 9. März

Warum ich mich, immerhin gedient und sogar einsatzerfahren, nicht ausführlich zur Causa jener vier hochrangigen Offiziere äußerte, deren lässiges Gespräch über den Einsatz von Lenkraketen geleakt worden ist? So fragte nicht nur einer.

Ganz einfach: Es ist irrelevant, was ich dazu zu sagen habe. Detailwissen, kenntnisreiche Spekulation, was haben wir (wir?) falsch gemacht, was können wir besser machen - alles völlig egal.

Mein Einwurf würde aus dieser Armee nicht wieder meine, unsere Armee machen. Diese Zeiten sind vorbei. Das sage ich nicht als beleidigte Leberwurst, sondern als jemand, der zu viele gute Soldaten frustriert hat aufgeben und zu viele gute Männer erst gar nicht zum Zuge hat kommen sehen. Der Substanzverlust ist brutal, die Auslese absurd, darüber täuschen ein paar gute Bataillone nicht hinweg.

Wozu also kommentieren, wenn wir gar keinen Standpunkt mehr einnehmen müssen? Man staunt darüber, was auf Karriereleitern ganz oben angekrabbelt kommt. Man will niemals von solchen Männern geführt werden.

Und im nächsten Moment wird einem speiübel, denn die Strack-Zimmermann faselt und wettert wieder einmal, gestern gegen des Papstes sanften Vorschlag, man solle der Realität ins Auge sehen und der Ukraine empfehlen, sich dringend mit Rußland an den Verhandlungstisch zu begeben. Da kehrt also ein liberaldemokratischer Doppelname, eine katholische Bürste, die männlichen Reste ukrainischer Jahrgänge an die Front.

Das sind wir, das ist das, was das Ausland sieht. Und mithört. Das war's, oder?

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Höcke rief an. Wir wollen bald wieder ein Stück wandern und in Ruhe sprechen. Aber deswegen rief er nicht an. Er teilte nur kurz mit, daß seine "Immunität", die ihn als Teil der Legislative vor der Willkür der Exekutive schützen sollte, nun zum achten Mal aufgehoben würde. Das ist in der Geschichte des Parlamentarismus in der BRD einsame Spitze.

Vor allem aber ist es nicht lustig, überhaupt nicht sogar. Zwar wird jedes Schwert zum schartigen Küchenmesserchen, wenn man es zu oft und am falschen Material einsetzt - der drohende Klang der Schlagzeile "Verlust der Immunität" hat sein Potential längst verspielt; aber das ist es ja gerade: Woher soll denn noch Respekt vor staatlicher Institution kommen, wenn ihr Mißbrauch zutage liegt und ihre Kraft verschleudert wurde?

Höcke wird sich mitten im Wahlkampf in drei Gerichtsprozessen gegen die Unterstellung zur Wehr setzen müssen, Meinungsdelikte begangen zu haben. Gerade in seinem Fall liegt der Argumentationskringel, der Selbstbestätigungskreisel aus politischem Gegner, denunziatorischem Journalismus und Inlandsgeheimdienst offen zu Tage: Medienvertreter recherchieren etwas, das für den Verfassungsschutz relevant sein könnte und schreiben später, daß man das beim "Dienst" ebenfalls so sehe.

Was Höcke schmerzt, ist nicht die Aufhebung seiner Immunität - er ist sowieso für die Abschaffung dieses Nicht-Schutzes: Er diene mittlerweile nur noch dazu, aufgehoben zu werden und beim ersten Mal den Bürger in jedem von uns zu erschrecken. Aber selbst an die Aufhebung der Immunität könne man sich gewöhnen. Sagte es - und lachte dann doch.

Was ihn wirklich schmerzt, ist der Zeitverlust. Sich mit Grotesken beschäftigen zu müssen, während sein Bundesland vor der Wahl steht - das ist schwer zu ertragen.

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Die Sellner-Festspiele sind auf ihrem Höhepunkt angelangt. Zwar war gestern Sonntag, aber auch der Tag des Herrn sah Sellner im unermüdlichen Einsatz mit dem Vorschlaghammer: Sellner drischt den Begriff "Remigration" in die Köpfe, diesmal auf dem Balkon des Gebäudes der EU-Agentur in Wien, mit riesigen Bannern (man beachte das Flugzeug im "R") und einer Megaphon-Ansprache.

Als ich ihn ans Telefon kriegte, war er gerade vom Gebäude runter und hatte den Polizisten seine Personalien angegeben. Er war sehr zufrieden, denn mit etwas Laufschritt und günstiger Ampelschaltung würde er es noch rechtzeitig zu einem Essen schaffen, zu dem seine Familie eingeladen war. Andere würden sich feiern lassen, trügen ihre Schützengrabengeschichte wochenlang vor, zuletzt vermutlich in Reimen - so nicht Sellner.

Er ist der Pop-Star der Szene, wir haben ihn unter Vertrag. Die 1. Auflage seines Buches Remigration. Ein Vorschlag, 8500 Exemplare, wird Ende März vergriffen sein.  Auch die 5. Auflage von Sellners Regime Change von rechts schmilzt ab, und der mit Martin Lichtmesz geführte Disput Bevölkerungsaustausch und Great Reset wird bereits nachgedruckt - er ist seit Wochen vergriffen.

Für uns als Verlag interessant ist das wiederkehrende Problem des Papiermangels. Wir drucken auf hochwertigem Offset-Papier, gelblichweiß, 80 oder 90 Gramm, nichts Ungewöhnliches für die Lieferanten unserer Druckereien, sogar sehr gängig für jeden Verlag, der in Deutschland drucken läßt. Aber die Lage ist derzeit wieder so kritisch, daß wir mit der 2. Auflage das gesamte rasch verfügbare Kontingent ausreizen werden, obwohl selbst damit nicht die gewünschte Stückzahl wird realisiert werden können. Eine Entspannung der Lage ist erst für April signalisiert worden.

Sellner, dessen Twitter-Account gestern wieder freigestellt worden ist, hat sich übrigens sehr über die Druckqualität und die Farbgebung seines neuen Buches gefreut. Er hat es seit Freitag auf dem Tisch und signiert derzeit 200 Exemplare für einen ganz besonderen Kunden. Das ist eine große Ausnahme, ich bitte darum, von Nachfragen abzusehen!

Aber wir planen natürlich mit Sellner als Gast auf unserem diesjährigen Sommerfest. (Den Termin sollten Sie sich vormerken, wir werden wiederum nur 500 Gästen Platz bieten können: Wir feiern am 13. und 14. Juli - aber bitte: Melden Sie sich NOCH NICHT an. Wir geben den Startschuß nach Ostern!)

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(Ergänzungen, Fundstücke und kritische Anmerkungen richten Sie bitte an [email protected]. Ich werde ausbreiten, was sich ansammelt.)

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Samstag, 24. Februar

Moskau war die erste Stadt, in der man mit sogenanntem Face Pay die U-Bahn benutzen konnte. Filipp Fomitschow, ein junger russischer Wissenschaftler, der vor einer Woche im Rahmen unserer Winterakademie zum Thema "Die ideologische Landschaft Rußlands" referierte, erklärte es mir: Man hält sein Gesicht in eine Kamera, nur für eine Sekunde, dann geht die Schranke auf, man hat bezahlt und kann fahren.

Ich habe nachgeschaut, es stimmt: Seit Oktober 2021 funktioniert dieses System an 240 U-Bahnhöfen Moskaus. Fomitschow selbst nutzt Face Pay nicht, aber er berichtete, daß sehr viele Moskauer diesen Dienst nutzten und nichts dabei fänden. Überhaupt habe es ihn gewundert, daß es in Deutschland noch immer etliche Geschäfte gebe, in denen man Bargeld akzeptiere oder sogar ausschließlich annehme. Zwar sei in Rußland der Unterschied zwischen Moskau und Provinz enorm; jedoch bargeldlos bezahlen: Das könne man in jedem Kiosk.

Aus dieser Schilderung heraus entwickelte sich ein Gespräch über die Technik und die Moderne, konservative Kulturkritik und das Nebeneinander von Spitzentechnologie und Folklore, Weltformat und Eigentlichkeit, Messerschmidt Me 262 und Braunhemden-Auftanz, Face Pay und Stellungskrieg wie vor über hundert Jahren.

Warum erzähle ich das heute? Vor zwei Jahren griff Rußland die Ukraine an. Unsere Rußland-Akademie kam und unsere Rußland-Sezession kommt jedoch ohne eine Zeile über diesen Krieg aus. Grund ist die tiefere Absicht hinter Akademie und Heft: Wir wollten erstens Rußland entromantisieren und ein ambivalentes, uneinheitliches, disparates Bild von dieser Weltmacht vermitteln. Zweitens sollte aber der geistige Raum dieses großen und großartigen Landes geöffnet werden.

Beides ist geglückt, wirklich. Fomitschow trug entscheidend dazu bei, aber auch Lehnert mit seinem Vortrag über die Deutschen und die Russen und ihre Nahferne, Dušan Dostanić mit der schwierigen und leider oft bloß pauschal erzählten Geschichte zwischen Serbien und Rußland und natürlich Ivor Claire, der eine geostrategische Skizze zeichnete und alle Knabenmorgenblütenträume mit Verweisen auf Machtlosigkeit und Wunschdenken wegwischte und die Verantwortungslosigkeit Verantwortungslosigkeit nannte.

Gucklöcher nannte Peter Handke das, was uns vorgestanzt auf Länder, auf Schuld und Glanz blicken läßt, und mindestens hinterfragen sollten wir stets, wer der Stanzer war. Besser noch: weg mit der Bretterwand, freier Blick, mit denen reden, die schonungslos schauen. Das haben wir getan, ein langes Wochenende und 80 Heftseiten lang, und es hat mir sehr gut getan, sehr.

Heft 118Auch deswegen: An einem Abend, also jetzt gerade vor genau einer Woche, versammelten sich von den hundertfünfzig Teilnehmern zwanzig in unserer Bibliothek und hörten einem Sprecher zu, wie er eine Stunde lang auswendig russische Lyrik rezitierte, übersetzt natürlich. Alexander Puschkin, Michail Lermontow, Iwan Turgenjew, Alexander Block, Nikolaj Gumiljow und Anna Achmatowa -  ich sagte zu Lehnert, als wir danach wieder nach vorn in den Gasthof pilgerten, daß alleine so etwas die Arbeit von zwanzig Jahren lohne und daß so etwas die linken Penner, die morgen demonstrieren würden, sicherlich nicht für möglich hielten und ganz sicher noch nie erlebt hätten.

Eine Woche ist es erst her, und heute kam Post von einem, der auf ukrainischer Seite an der Front steht. Ich kann ihn ganz verstehen, auch, wie sehr der Loyalitätsraum auf die Kameradschaft zusammenschnurrt - eine Erfahrung, die unsere jungen Männer allesamt nicht mehr machen können, die ihnen vorenthalten wird, denn erfahrbar ist sie schon, wo man mal zwei Wochen am Stück in einem naßkalten Waldstück liegt und das übt, was nun an der schrecklichen Ostfront wieder gekonnt werden muß.

Und wir haben in unseren Youtube-Kanal den anderthalb Jahre alten Vortrag von Professor Neuhoff (AfD NRW, Europalistenplatz weit vorn) wieder eingestellt - er handelt vom Konflikt und vom Krieg in der Ukraine, paßt also zum heutigen Datum. Neuhoffs Vortrag erscheint erneut und just dann, wenn er sich heute und morgen inmitten der nordrhein-westfälische AfD über der Frage, ob man sich von der JA distanzieren solle, zu positionieren hat. Man benimmt sich dort, als hätte man nichts gelernt und nichts kapiert.

Das sind jetzt Fetzen, Stückchen, daraus kann die Politik kaum etwas ableiten, und vehement redete ich, wie auf jeder Akademie, gegen zuviel Theorie und vor allem gegen Jargon und geschlossene Gebäude an. Wir stochern uns voran, stecken erkundete Stücke ab, das ist viel. Der Standpunkt ist dabei immer Deutschland, wen wundert's.

(Das Rußland-Heft der Sezession gibt's hier und Neuhoffs Vortrag da.)

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Donnerstag, 15. Februar

Vor Jahren war ich mit der Familie am Monte Cassino, südlich von Rom. Wir waren dort nicht der wiederaufgebauten Gründungsabtei des Benediktinerordens wegen, sondern um den deutschen Soldatenfriedhof zu besuchen, auf dem rund 20 000 Gefallene beerdigt sind. Dieser Friedhof ist einer der schönsten und würdigsten, die ich kenne.

Die Deutschen verteidigten 1944 die sogenannte Gustav-Linie vier Monate lang gegen die Vielvölker-Armee, die unter US-amerikanischer Führung von Süditalien her anrannte: Neuseeländer, Engländer, Inder, Exilpolen, sogar Brasilianer. Die Monte-Cassino-Schlacht gilt als eine der längsten und für beide Seiten verlustreichsten Schlachten des II. Weltkriegs. Sie wird von der Militärgeschichtsschreibung in vier Abschnitte aufgeteilt.

Mich interessiert heute, daß die Deutschen auf Befehl des Oberbefehlshabers Feldmarschall Albert Kesselring das Kloster auf dem Monte Cassino nicht zur Festung ausbauten: Zu wertvoll sei dieses Kulturgut. Der Abt des Klosters bestätigte nach dem Krieg, daß sich die deutschen Stellungen gemäß Befehl 300 Meter vom Kloster entfernt befanden - und daß kein deutscher Soldat diesen Befehl unterlief.
Kesselring hatte den Alliierten diese Maßnahme zur Kenntnis gebracht, und die Gegner fanden im Verlauf der ersten Schlacht um die Gustav-Linie keinen Beleg dafür, daß die Deutschen nur eine Kriegslist angewendet hätten.

Die zweite Schlacht sah einen alliierten Angriff auf die Cassino-Stellungen der deutschen Fallschirmjäger vor. Sie begann am 15. Februar 1944, also vor 80 Jahren, mit erheblichen Verlusten für die Angreifer. Daraufhin bat der neuseeländische General Freyberg um Luftunterstützung und um die Bombardierung des gesamten Berges.

225 Bomber luden rund 500 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf das Kloster ab. Es wurde vollständig zerstört, etwa 400 Mönche und Zivilisten kamen um, aber kein einziger deutscher Soldat. Denn erst nach der Zerstörung richteten sich die Deutschen in den Trümmern ein und bauten die Ruinen zu einer praktisch uneinnehmbaren Festung aus.

Kunstschätze, die unfaßbar wertvolle Bibliothek und die Gebeine des Ordensgründers, Benedikt von Nursia, waren zuvor unter Mithilfe von Truppen der Fallschirm-Panzer-Division Hermann Göring in die Engelsburg in Rom ausgelagert worden.

Da unsere Familie eine besondere Beziehung zum Orden der Benediktiner pflegt, ist der 15. Februar nicht nur der letzten Angriffswelle auf Dresden wegen ein schwarzer Tag.

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Mittwoch, 7. Februar

Sechs Tage lang war Martin Sellners noch nicht erschienenes Buch Remigration. Ein Vorschlag beim Internet-Riesen Amazon auf Platz 1 der bestverkauften Bücher.

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Tele­fo­na­te erge­ben ein Volu­men von bis­her rund 7000 vor­be­stell­ten Exem­pla­ren allein über die­sen einen Anbie­ter. Jedoch will Ama­zon den Inhalt des Buchs zunächst prü­fen. Nun dis­ku­tie­ren wir mit Sell­ner und erfah­re­nen Buch­händ­lern dar­über, wie wir damit umge­hen sollten.

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Die Lage der natio­na­len Oppo­si­ti­on in Deutsch­land, der wir ange­hö­ren, hat sich wei­ter ver­schärft: Die Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on der AfD, die Jun­ge Alter­na­ti­ve (JA), hat ein Eil­ver­fah­ren gegen ihre Ein­stu­fung als “gesi­chert rechts­extre­mis­tisch” ver­lo­ren. Ein Ver­wal­tungs­ge­richt in Köln hält die­se Ein­stu­fung durch das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz für recht­mä­ßig: Die JA ver­tre­te einen an der Abstam­mung aus­ge­rich­te­ten, also eth­ni­schen Volks­be­griff und ver­sto­ße damit gegen das Prin­zip der Men­schen­wür­de, weil sie Abstam­mungs­deut­sche von Paß­deut­schen unter­schei­de und Wert dar­auf lege, daß ers­te­re in der deut­li­chen Mehr­heit blieben.

Die JA ver­tritt also einen Volks­be­griff, wie er von der über­wäl­ti­gen­den Mehr­heit aller Natio­nen und Völ­ker welt­weit als Selbst­ver­ständ­lich­keit ange­se­hen wird und wie ihn auch Deutsch­land etwa im Rah­men der Defi­ni­ti­on und der pri­vi­le­gier­ten Behand­lung deutsch­stäm­mi­ger Rück­sied­ler aus ehe­ma­li­gen Aus­wan­de­rer­grup­pen zugrundelegt.

Aber es ist wie längst schon: Die Ver­tei­di­gung der Nor­ma­li­tät wird kri­mi­na­li­siert von Leu­ten, die im Sin­ne macht­ha­ben­der Alt­par­tei­en agie­ren und Begrif­fe ver­bie­gen, weil sie von eben die­sen Alt­par­tei­en zum Schutz des Alt­par­tei­en­staa­tes ein­ge­setzt wor­den sind.

Gefähr­lich ist die­ses Affen­thea­ter für die JA, weil sie als Ver­ein orga­ni­siert ist – wie übri­gens jede Par­tei­ju­gend. Ver­ei­ne kann das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um mit einem Feder­strich ver­bie­ten, sofern das, was der Ver­ein tut, gegen die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Ord­nung ver­stößt und/oder sich gegen den Gedan­ken der Völ­ker­ver­stän­di­gung richtet.

(Auch hier wie­der das Wort “Völ­ker”: Wel­che wie ver­faß­ten sind gemeint? Die­je­ni­gen, die eth­no­kul­tu­rell als unter­schie­den von ande­ren wahr­nehm­bar sind, soll es ja gar nicht mehr geben.)

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Wir alle rech­ne­ten für das so wich­ti­ge Wahl­jahr 2024 (Euro­pa­par­la­ment und drei Land­ta­ge im Osten) mit mas­si­ven Stö­run­gen und Ver­zer­run­gen des in geord­ne­ten Bah­nen vor­ge­se­he­nen Wett­be­werbs um Stim­men­an­tei­le. Die ver­gan­ge­nen Wochen und jetzt die mas­siv auf­kei­men­den Ver­bots­dis­kus­sio­nen, die auf den Par­tei-Rück­raum, auf die Ver­eins­struk­tu­ren des Vor­felds zie­len, haben gezeigt: Unse­re Ver­mu­tung war und ist begründet.

Nicht, daß nicht zuvor schon unlau­ter agiert wor­den wäre von Sei­ten derer, die an der Macht sind: Aber die Unver­fro­ren­heit, mit der ein „Geheim­tref­fen in Pots­dam“ nicht nur erfun­den, son­dern mit toxi­schem Inhalt auf­ge­la­den und begriff­lich in die Nähe natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Eli­mi­nie­rungs­be­schlüs­se gerückt wur­de, hat selbst uns überrascht.

Scho­ckie­ren­der noch als die Erfin­dung und Plat­zie­rung die­ser Kam­pa­gne an sich ist der Umstand, daß ihre Absicht medi­al nicht hin­ter­fragt, son­dern unter­stützt wur­de und daß die­se Unter­stüt­zung sich auf wie­der­um stark staat­lich geför­der­te Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen gegen die AfD aus­dehn­te, obwohl das Demons­tra­ti­ons­recht nicht dafür gedacht ist, daß Regie­rungs­par­tei­en, also Macht­ha­ber, es für sich in Anspruch neh­men, um damit gegen die Oppo­si­ti­on zu agitieren.

Wie stets weiß nie­mand von uns, ob wir uns durch unse­ren Wider­stand und die erneu­te Straf­fung der Oppo­si­ti­ons­ar­beit genau dort­hin bege­ben, wo uns der Geg­ner haben möchte.

Jeden­falls hat die ver­lo­ge­ne Kam­pa­gne für Tage und Wochen fast alle Auf­merk­sam­keit auf sich gezo­gen. Sie hat sie dadurch von ande­ren Ereig­nis­sen und The­men abge­lenkt. Ganz sicher waren und sind die­se ande­ren The­men wich­ti­ger als die Tat­sa­che, daß sich ein paar Leu­te in Pots­dam tra­fen, um über ein The­ma zu spre­chen, das zum Kern jeder natio­na­len Oppo­si­ti­on gehört: über die not­wen­di­ge Schub­um­kehr von Migra­ti­ons­strö­men. Es soll­te sich also loh­nen, zusam­men­zu­stel­len, was unter den Tisch fiel. (Natür­lich die Bau­ern- und Hand­wer­ker­pro­tes­te, aber auch sie sind eher ein Kräu­seln an der Oberfläche.)

Und noch dies: Es hat sich in den ver­gan­ge­nen Wochen – wie stets in kri­ti­schen Pha­sen – her­aus­ge­schält, wer sich nicht nur an die poli­ti­sche Front wäh­len ließ, son­dern front­taug­lich ist und sei­nen Sold zurecht ein­streicht. Der Weg zur Gestal­tungs­macht und zu Deu­tungs­an­tei­len im vor­po­li­ti­schen Raum ist kein Pony­rei­ten, und viel­leicht ist das, was seit Mit­te Janu­ar auf­ge­führt wird, nur eine Fingerübung.

Mag sein, daß dies nicht jedem klar war, der sich expo­nier­te. Aber jetzt muß es jedem klar sein, und jeder soll­te begrif­fen haben, daß auch in die­sem Staat (oder gera­de in die­sem) kei­ner von denen, die seit Jahr­zehn­ten die Macht haben, bereit ist, Macht kampf­los abzu­ge­ben und daß die­se Geg­ner den Kampf dre­ckig füh­ren wer­den. Ein siche­res Indiz dafür ist stets die Behaup­tung, man habe die Demo­kra­tie zu ver­tei­di­gen gegen die Fein­de der Demokratie.

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Frei­tag, 2. Februar

Mal ein wenig Werk­statt­be­richt: Seit drei Tagen wird Mar­tin Sell­ners Buch Remi­gra­ti­on. Ein Vor­schlag im deut­schen Buch­sor­ti­ment des Online-Rie­sen ama­zon auf Platz 1 geführt. Wir hiel­ten die­se Pla­zie­rung schon ein­mal, im Som­mer und Herbst 2017, als das Kapla­ken-Bänd­chen Finis Ger­ma­nia von Rolf Peter Sie­fer­le zum Skan­dal­buch der Buch­mes­se in Frank­furt wurde.

Das Feuil­le­ton hat­te damals scho­ckiert reagiert und Sie­fer­les Nacht­ge­dan­ken von der Spie­gel-Best­sel­ler­lis­te ent­fernt – ein bis dato ein­ma­li­ger Vor­gang in der BRD. (Die Bes­ten­lis­te, die der NDR und die Süd­deut­sche Zei­tung gemein­sam erstellt hat­ten, wur­de gleich ganz auf­ge­ge­ben. Sie exis­tiert heu­te in geän­der­ter Form wieder.)

Aber zurück zu Sell­ners Remi­gra­ti­on (das Buch kann hier vor­be­stellt wer­den): Platz 1 bei ama­zon bedeu­tet 250 bis 1000 ver­kauf­te Exem­pla­re pro Tag. Man kann das nicht so genau sagen, denn es kommt auf den Druck an, den die Pla­zie­rung von hin­ten erfährt. Fin­den sich dort – im Janu­ar wahr­schein­li­cher als im Weih­nachts­ge­schäft – eher ruhi­ge Titel ein, kann man ganz vorn lan­den, ohne har­te Kon­kur­renz abhän­gen zu müssen.

Auch das im letz­ten Som­mer erschie­ne­ne Buch von Sell­ner, Regime Chan­ge von rechts, wird her­vor­ra­gend ange­nom­men und rei­tet auf einer zwei­ten Wel­le: Wir lie­fern seit ges­tern die 4. Auf­la­ge aus und haben gleich­zei­tig die 5. in Druck gege­ben. Poli­tik von rechts von Maxi­mi­li­an Krah wird mit­ge­zo­gen: Es lief in den Mona­ten davor etwas stär­ker als Sell­ners Regime Chan­ge, ist nun aber ein­ge­holt wor­den. Die 5. Auf­la­ge wird eben­falls gera­de gedruckt.

In der Zeit ist aus der Feder von Mari­am Lau übri­gens eine gan­ze Sei­te über die Theo­rie-Pro­duk­ti­on unse­res Ver­lags erschie­nen. Sie hat sich neben Sell­ners und Krahs Büchern auch die vor gut sechs Jah­ren erschie­ne­nen Bän­de Das ande­re Deutsch­land (von Erik Leh­nert und Wig­go Mann) und das legen­dä­re Mit Lin­ken leben (lei­der ver­grif­fen) von Mar­tin Licht­mesz und Caro­li­ne Som­mer­feld vor­ge­nom­men und einen Punkt getrof­fen: Damals übten wir uns noch in “brei­te Brust”, heu­te haben wir sie.

Noch im Wind­schat­ten segelt ein ande­rer Coup. Rober­to Van­n­ac­ci, Gene­ral der ita­lie­ni­schen Spe­zi­al­streit­kräf­te, hat im ver­gan­ge­nen Som­mer ein Bre­vier des gesun­den Men­schen­ver­stands vor­ge­legt. Das Buch wur­de im rechts­kon­ser­va­ti­ven, also nor­ma­len Ita­li­en zum Buch des Jah­res, Van­n­ac­ci zunächst beur­laubt. Im Dezem­ber aber wur­de er zum Chef des Gene­ral­stabs der ita­lie­ni­schen Land­streit­kräf­te ernannt – ein Skan­dal für deut­sche Zivil­ge­hir­ne, die davon aus­ge­hen, daß Gesin­nung Kön­nen ersetze.

Jeden­falls: Gene­ral Van­n­ac­cis Buch wird unter dem Titel Ver­dreh­te Welt. Eine Bestands­auf­nah­me zusam­men mit Sell­ners Remi­gra­ti­ons­vor­schlag bei Antai­os erschei­nen. Natür­lich wer­den wir Van­n­ac­ci zu unse­rem Som­mer­fest ein­la­den. Es könn­te dann etwas luf­ti­ger im Vor­trags­saal zuge­hen, denn viel­leicht wer­den wir zu die­ser Lesung nur Gedien­te zulas­sen (und sol­che, die ger­ne gedient hätten) …

Wer­den sehen, wie Lage und Stim­mung sich bis dahin entwickeln.

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Mon­tag, 29. Januar

Gemein­sam mit Maxi­mi­li­an Krah war ich zu Vor­trä­gen und Gesprä­chen in Wien und in Buda­pest. Rei­se und Pro­gramm hat­ten wir bereits im Dezem­ber fest­ge­legt. Aber ihre Auf­la­dung erhiel­ten die Besu­che erst in den ver­gan­ge­nen vier­zehn Tagen.

Denn in Öster­reich und in Ungarn, vor allem dort, inter­es­siert man sich nun dafür, wie es mög­lich sei, aus einer pri­va­ten Gesprächs­run­de von CDU- und AfD-Leu­ten ein “Geheim­tref­fen” zu kon­stru­ie­ren und es seman­tisch und emo­tio­nal mit der Wann­see­kon­fe­renz von 1942 zu verknüpfen.

In Wien waren Krah und ich zu Gast in den Räu­men der Öster­rei­chi­schen Lands­mann­schaft, ÖLM. Auf­ga­be die­ses 1880 gegrün­de­ten Ver­eins ist die Betreu­ung und Unter­stüt­zung deutsch­spra­chi­ger Min­der­hei­ten im Aus­land in allen Belan­gen. Ich hat­te im Saal der ÖLM schon im ver­gan­ge­nen Novem­ber vor­ge­tra­gen, damals (es kommt einem vor wie “damals”!) zu Ray Brad­bu­rys Roman Fah­ren­heit 451.

Das For­mat war dies­mal ein ande­res, wir tru­gen nicht ein­fach vor, son­dern ant­wor­te­ten stets bei­de auf Fra­gen zur Lage und zu den Hin­ter­grün­den der Kam­pa­gne. Das war leben­dig, man ergänz­te sich und kam in Fahrt, vor allem, weil man ein­an­der nicht aus­ste­chen woll­te, son­dern gemein­sam an der Lage­fest­stel­lung arbeitete.

In Buda­pest war es anders. Wir waren zu Gast im Insti­tut Imre Ker­té­sz, einer auf­wen­dig reno­vier­ten und her­vor­ra­gend aus­ge­stat­te­ten Jugend­stil­vil­la. Ich trug dort zehn The­sen zur “Lage der natio­na­len Oppo­si­ti­on in Deutsch­land” vor, Krah sprach über das Euro­pa­kon­zept der AfD und gab danach fünf oder sechs Inter­views, wobei neben regie­rungs­nä­he­ren auch oppo­si­tio­nel­le Medi­en­ver­tre­ter zum Zuge kamen (etwa hier).

Ich war im Apar­te­ment “Arthur Koest­ler” unter­ge­bracht, und das Gespräch mit dem Lei­ter des Insti­tuts dreh­te sich gleich um die “Tetra­lo­gie der Schick­sal­lo­sig­keit” von Ker­té­sz (von der ich nur den Band Roman eines Schick­sal­lo­sen gele­sen habe) und über Koest­lers Son­nen­fins­ter­nis. Die Dis­kus­si­on ent­wi­ckel­te sich in Rich­tung ver­schie­de­ner Libe­ra­lis­mus­be­grif­fe und Demo­kra­tie­theo­rien, und ich frag­te mich, als ich in der frei­en Stun­de eini­ges notier­te, wel­cher ande­re AfD-Poli­ti­ker in der Lage gewe­sen wäre, auf Deutsch und Eng­lisch über sol­che The­men so zu spre­chen, daß es sich ins Bild vom Men­schen ausweitete.

Mit Gast­ge­be­rin Mária Schmidt spra­chen wir in klei­nen Run­den über ande­re Din­ge. Erfreu­lich ist jedes Mal wie­der die Offen­heit und Direkt­heit der Leu­te: Dort regiert man längst, dort setzt man um, alles klug und auf Jah­re hin­aus ent­wor­fen. Ich habe wie­der viel gelernt und konn­te unge­schützt nach­fra­gen und nach­boh­ren. (Wäh­rend­des­sen löf­fel­te ich das Mark aus auf­ge­schnit­te­nen Kno­chen und streu­te Meer­ret­tich­kä­se dar­über – auch das mag ich so sehr an die­sen Län­dern, ost­wärts: das Ausgebreitete.)

Das alles vor den Vor­trä­gen. Wir hiel­ten sie nach den Hin­ter­grund­ge­sprä­chen am spä­ten Nach­mit­tag. Ich wer­de die­ser Tage mei­ne The­sen zusam­men­fas­sen und auf Punk­te kon­zen­trie­ren, die mei­ner Mei­nung nach über den Tag hin­aus­wei­sen und wie­der­um Tei­le des­sen beinhal­ten, was am Vor­tag in Wien, in der Woche zuvor in Dort­mund und im Cas­tell Auro­ra in Steyr­egg bei Linz schon zur Spra­che gekom­men war.

Und ich wer­de die­se The­sen an wei­te­ren Orten vor­tra­gen, vor allem im Westen.

Die Lage ist sur­re­al. Der Kan­di­dat der AfD für das Land­rats­amt im Saa­le-Orla-Kreis holt auf dem Höhe­punkt der Anti-AfD-Kam­pa­gne und unter dem Dau­er­feu­er eines ent­hemm­ten poli­ti­schen Geg­ners 48 Pro­zent der Stim­men – gegen alle ande­ren zusam­men; die AfD selbst ver­zeich­net seit zwei Wochen eine Ein­tritts­wel­le; wir selbst sam­meln am lau­fen­den Band Neu­abon­nen­ten und Erst­le­ser ein und arbei­ten im absur­den Tru­bel wie mit Scheu­klap­pen an den Satz­fah­nen der neu­en Bücher von Mar­tin Sell­ner (Remi­gra­ti­on. Ein Vor­schlag) und Rober­to Van­ac­ci (Ver­dreh­te Welt. Eine Bestands­auf­nah­me).

Der­weil ver­tieft der Kom­plex aus Staat, Par­tei­en, Zivil­ge­sell­schaft und Kir­chen den Riß bis zur Unüber­brück­bar­keit. Denn das ist das Ziel der lau­fen­den Kam­pa­gne: die Leu­te auf­ein­an­der­zu­het­zen und dadurch Herr­schafts­si­che­rung zu betrei­ben. Daß dies mit­tels einer Ver­leum­dung geschieht, die vom genann­ten Kom­plex durch­ge­tra­gen wird, ohne nen­nens­wer­ten Wider­spruch, ist ein Offen­ba­rungs­eid. Und es ist das, was mich am meis­ten erschreckt.

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Mon­tag, 22. Januar

Das schrieb ich mal, ist viel­leicht drei­ein­halb Jah­re her. Leser haben es aus­ge­gra­ben und mir zuge­schickt. Man muß also ab und an an sich selbst erin­nert wer­den. Und “aus­gra­ben” stimmt schon: Es ist in die­sen drei­ein­halb Jah­ren soviel an Sub­stanz und Dreck drü­ber­ge­häuft wor­den, daß man wirk­lich schach­ten muß. Also:

Jeder weiß doch, daß gera­de eine Demo­kra­tie wie die unse­re zwar stän­dig behaup­tet, nichts und nie­man­den zu unter­drü­cken, aber trotz­dem nur den­je­ni­gen Abweich­ler akzep­tiert, der sich sei­nen Platz macht­voll nahm oder mit einer ihm zuge­wie­se­nen Rol­le zufrie­den ist.

Die AfD ist mitt­ler­wei­le eine star­ke Par­tei, ihr Sie­ges­zug wirk­lich ein Tri­umph. Aber sie scheint immer dann an sich selbst irre zu wer­den, wenn es nach dem Tri­umph­zug, nach den scho­ckie­ren­den Sie­gen um den Auf­bau belast­ba­rer Struk­tu­ren geht – um Dis­zi­plin und Kärr­ner­ar­beit, nicht mehr um den Rausch der gro­ßen Pro­test­wel­len und den Zau­ber des Anfangs.

Die AfD – die geschnit­te­ne Par­tei, die von den “demo­kra­ti­schen Par­tei­en” zum unde­mo­kra­ti­schen Irr­läu­fer gebrand­mark­te Par­tei, die ein­zi­ge Oppo­si­ti­ons­par­tei, der ein­zi­ge Pol­ler, an dem unser Land auf par­la­men­ta­ri­schem Weg Hal­te­taue gegen sei­nen Unter­gang fest­le­gen kann;

die AfD – zugleich Trä­ger und Pro­fi­teur einer unge­heu­ren Hoff­nung, gera­de für den flei­ßi­gen, nicht glo­bal agie­ren­den, nicht ort­lo­sen, son­dern ver­ant­wor­tungs­be­wuß­ten und dadurch per se sozi­al ein­ge­stell­ten Teil unse­res Volkes;

die AfD – eine Alter­na­ti­ve für Deutsch­land, nicht eine für zu kurz gekom­me­ne Über­läu­fer aus den Alt­par­tei­en oder für Leu­te, die im Par­la­ment oder in Abge­ord­ne­ten­bü­ros nach einer Alter­na­ti­ve zu ihrem bis­he­ri­gen Berufs­le­ben suchen …;

die AfD – der erträg­li­che Abweich­ler, der ange­kom­me­ne Gesprächs­part­ner, der oppo­si­tio­nel­le Teil des Spek­ta­kels: was für eine Horrorvorstellung;

die AfD – als ech­te Oppo­si­ti­on, als tat­säch­lich alter­na­ti­ver Macht­fak­tor, als Gegen­ent­wurf zur Alt­par­tei­en­ver­krus­tung: Dafür lohnt es sich, immer wieder.

Es muß in die­sem Gegen­ent­wurf vor allem dar­um gehen, Wider­standstu­gen­den vor­zu­stel­len und auszubilden:

1. Durch­hal­te­ver­mö­gen: Deutsch­land braucht eine poli­ti­sche Alter­na­ti­ve, das ist heu­te so rich­tig wie bei Grün­dung der AfD. Die­se Alter­na­ti­ve ist etwas fun­da­men­tal ande­res als eine Ergän­zung des Alt­par­tei­en­sys­tems. Dar­auf, daß die AfD als Alter­na­ti­ve gebraucht wird, muß sie vertrauen.

2. Unbe­ding­ter Zusam­men­halt: Die Geg­ner (Par­tei­en, Zivil­ge­sell­schaft, Medi­en, Staat) wer­den immer etwas Skan­da­lö­ses fin­den, um die AfD zu dis­kre­di­tie­ren – wenn beim einen nicht, dann beim nächsten.

3. Nach­ah­mungs­ver­bot: die Din­ge anders ange­hen als die ande­ren Par­tei­en, ande­re Voka­beln ver­wen­den, den Kor­rum­pie­rungs­kräf­ten von Par­la­ment und Lob­by­is­mus aus­wei­chen, die eige­ne Daseins­be­rech­ti­gung dar­aus ablei­ten, daß man nicht dazugehört.

4. Bera­tungs­re­sis­tenz: Staat­li­chen Insti­tu­tio­nen wie dem Ver­fas­sungs­schutz, aber auch ver­meint­li­chen Abwä­gungs­in­stan­zen kei­ner­lei Recht ein­räu­men, die AfD nach kom­pa­ti­bel und inkom­pa­ti­bel aus­ein­an­der­zu­sor­tie­ren. Sich vom Geg­ner nicht erklä­ren las­sen, wie man für ihn akzep­ta­bel wäre.

5. Ein­deu­tig­keit: Wenn die AfD sich zer­fa­sert, strei­tet sie. Wie­so öffent­li­cher Rich­tungs­streit? Es hört doch sowie­so kei­ner zu, es pflich­tet doch den bes­ten Vor­schlä­gen kei­ner bei. Theo­rie­ar­beit, Maß­nah­men­ka­ta­lo­ge: ja, für die Schub­la­de, für spä­ter. Für jetzt nur ein Man­tra: Wir leis­ten Wider­stand gegen die ver­meint­li­che Zwangs­läu­fig­keit “alter­na­tiv­lo­ser” Poli­tik. Wir sind ein­deu­tig anders als die andern. Bereits die­ser Ruf reicht für Mil­lio­nen Wähler.

Und zuletzt: Roger Köp­pel, Welt­wo­che, hat in einer Ana­ly­se zur Lage der AfD ein­mal das Bild ver­wen­det von Pech und Schwe­fel, das auf die­je­ni­gen aus­ge­gos­sen wer­de, die als Ers­te die Lei­ter hin­auf­klet­ter­ten, um die Burg zu erobern.

Es ist schä­big von denen, die hin­ter­her­klet­tern, die­ser ers­ten Rei­he die ver­kleb­ten Haa­re und die besu­del­te Wes­te vor­zu­wer­fen. Bloß: Den Anstand, das nicht zu tun, haben vie­le der Nach­züg­ler nicht. Wer bringt ihn ihnen bei? Und wo ist die brei­te Brust, die sich vor die­je­ni­gen stellt, die gekämpft haben und die zurecht und mit sehr gute Argu­men­ten ver­lan­gen kön­nen, daß die Alter­na­ti­ve ihren Weg als Alter­na­ti­ve weitergeht?

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Mitt­woch, 3. Januar

Heu­te nur ein kur­zer Hin­weis: Ich warb zwi­schen den Jah­ren um Abon­ne­ments der Sezes­si­on und ver­wies auf Exem­pla­re der Dezem­ber-Aus­ga­be, die wir zusätz­lich zur Buch-Prä­mie bei­le­gen würden.

Dem Auf­ruf, die wich­tigs­te rech­te Zeit­schrift deut­scher Zun­ge zu abon­nie­ren, folg­ten über 90 neue Leser – genau gesagt: 93 seit dem 28. Dezem­ber. Das ist sehr erfreu­lich und ganz rich­tig so. Bloß bringt es uns in fol­gen­de Ver­le­gen­heit: 50 Exem­pla­re der 117. Sezes­si­on sind bei­sei­te­ge­legt, die ers­ten 50 Neu-Abon­nen­ten krie­gen sie, aber 43 wei­te­re wer­den leer ausgehen.

Also: nicht ganz leer. Wir legen älte­re Hef­te bei, aber eben nicht die 117 – älte­re Hef­te und viel­leicht noch eine Zusatz­über­ra­schung. Ich weiß, ich weiß, eigent­lich wäre das nicht nötig, jedoch ist’s ein Ereig­nis: Denn der Schwa­be gibt gern, aber sel­ten. Und jetzt ist gera­de einer die­ser Momente.

Ernst­haft: Dank allen, die nun gezeich­net haben. Wir arbei­ten bereits an der 118. Sezes­si­on, The­ma Ruß­land, das wird ein fei­nes Heft.

Und wäh­rend ich’s schrei­be, fällt mir ein: Die Win­ter­aka­de­mie, The­ma Ruß­land, ist voll, ist über­bucht. 200 Anmel­dun­gen auf 130 Plät­ze – Gott bewah­re, daß nun ein Neu­abon­nent das Heft 117 nicht kriegt UND kei­nen Platz auf der Aka­de­mie. Nicht, daß eine hoff­nungs­vol­le rechts­in­tel­lek­tu­el­le Kar­rie­re mit zwei Dämp­fern beginnt …

Ich wun­de­re mich übri­gens nicht, nicht die Boh­ne. Wäre ich jung, wäre ich Abon­nent und Aka­de­mie-Teil­neh­mer. Ich habe das neu­lich im Halb­schlaf ernst­haft geprüft: Es wäre so.

Wir haben ja damals Monat für Monat auf die JoteF gewar­tet wie auf eine Befehls­aus­ga­be und saßen auf Bur­schen­häu­sern zwi­schen Besof­fe­nen, um dem Pro­se­mi­nars­ge­stam­mel eines armen Füchs­leins bei­zu­woh­nen oder einem von Hegel ein­kas­sier­ten Rene­ga­ten dabei zuzu­schau­en, wie er die Welt­for­mel auf­lös­te – ohne Rest.

Wie schreibt (oder schrieb) man auf Twit­ter? “Dan­ke für 4000 Fol­lower! (Herz­chen, beten­de Hän­de, Herz­chen)”. Also: Dan­ke für 4000 Abos, und bit­te machen Sie sich klar: 4000 Abon­nen­ten für eine anspruchs­vol­le Zeit­schrift – das ist eine ande­re Ansa­ge als 4000 “Freun­de”, die sich durch Pro­fi­le scrollen.

Wer dazu­sto­ßen möch­te: hier abon­nie­ren, ABER ohne Aus­sicht auf Heft 117! Wer lie­ber Ein­zel­hef­te abgreift, von Mal zu Mal, dem sei die fro­he Bot­schaft zuge­ru­fen: Wir dru­cken ab der 118 ein biß­chen mehr, damit die Bestän­de län­ger als einen Monat reichen.

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Diens­tag, 2. Januar

Das neue Jahr ist abge­na­belt und schon den zwei­ten Tag alt, aber so recht eigent­lich steht die Zeit noch still, gera­de noch so. Natür­lich wer­den wir an den Durch­brü­chen betei­ligt sein in die­sem Jahr – die Marsch­rou­te ist klar, die Arbeit war­tet und die Zuver­sicht ist ein hel­ler Ton.

Aber jetzt soll’s noch nicht los­ge­hen. Jetzt muß noch ein wenig Ruhe sein. Zunächst will ich näm­lich allen Lesern und Freun­den, Gäs­ten und Autoren ein taten­fro­hes und gedan­ken­schwe­res Jahr 2024 wün­schen – eines, das uns vor­sto­ßen und tie­fer­boh­ren sieht, aber nie abhe­ben und spinnen.

(Es sei denn, dies wäre unse­re Rol­le: der Scha­ber­nack, das Spek­ta­kel, die ver­rück­te Stun­de, wenn alle bier­ernst mei­nen, daß jedes Pro­zent Ret­tung bedeu­te; wenn also jemand kom­men muß und sagen: recht so, und wich­tig und fein ist das alles. Aber denkt mal scharf und kraß und hem­mungs­los nach, denn wir haben es mit einer Zer­stö­rung zu tun, für die man sich zwei Gene­ra­tio­nen lang Zeit ließ, um sie gründ­lich zu erledigen.)

Ich habe die tie­fen, dunk­len  Tage und Näch­te genutzt, um zu lesen und zu hören. Übers Lesen schrieb ich oft, übers Hören sel­ten. Ich spie­le die Gei­ge und kann als bün­disch Gepräg­ter zwei­hun­dert Lie­der klamp­fen, aber trotz­dem kann ich vom Hören nur schrei­ben wie der Ein­äu­gi­ge vom Raumgefühl.

Ich habe vor Mona­ten einen Kanal ent­deckt, den, das ist mei­ne Ver­mu­tung, jemand füllt, den ich ein­mal kann­te, bloß schrift­lich, aber eben doch. Die­se Bekannt­schaft, ein deut­lich jün­ge­rer Mann, war begeis­ternd, weil er, Exper­te, etwas ein­trug, das ich nicht selbst hät­te zusam­men­stel­len kön­nen. Er hat­te Zugän­ge zu Archiven.

Das alles ist völ­lig unpo­li­tisch, es ist kul­tu­rel­ler und künst­le­ri­scher Boden, und wenn man sich was drauf ein­bil­det, Bruck­ner durch­ge­hört zu haben, so, daß man ihn an ein paar Tak­ten erken­nen mag, Wag­ner und Richard Strauß, Schost­a­ko­vitsch und Schu­mann, und vom Oze­an Bach schip­pernd ein paar Küs­ten­strei­fen kennt – dann fin­det man plötz­lich den abge­le­ge­nen Strand, das Neben­tal und die klei­ne Hüt­te und fragt sich, war­um davon nicht Tag für Tag etwas auf­ge­führt wird, so phan­tas­tisch ist das.

Ich tei­le nun aus die­sem Kanal drei Stück. Es ist ein Zufall, daß die­se Wer­ke alle 1934 urauf­ge­führt wur­den. Sie sind alle glei­cher­ma­ßen klas­sisch und modern, und vor allem sind sie so ein­präg­sam, daß man, wenn man ein Ohr für der­lei hat, nach dem zwei­ten Hören denkt, man kenn­te sie schon lan­ge. Also:

vom Slo­we­nen Blaz Arnic (1901–1970) das sym­pho­ni­sche Gedicht “Memen­to Mori”,

vom Japa­ner Koi­chi Kishi (1909–1937) die Sym­pho­nie “Bud­dah” (die Ent­de­ckung der ver­gan­ge­nen Tage)

und vom Deut­schen Hein­rich Kamin­ski (1886–1946) das Orches­ter­werk “Dori­sche Musik”;

Man fin­det von die­sen Wer­ken aus leicht zu den Kanä­len, die der Musik-Grä­ber aus Archi­ven geschürft haben muß. Ich den­ke, daß Leh­nert und ich mit unse­ren Lite­ra­tur­ge­sprä­chen über fast ver­ges­se­ne Schrift­stel­ler auf lite­ra­ri­schem Fel­de ähn­lich arbei­ten. Kul­tu­rel­les Gedächt­nis, Saat­gut­re­ga­le, Gen-Bank. Wir müssen’s auf­be­wah­ren. Alles.

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Don­ners­tag, 14. Dezember

In einer Mischung aus Erstau­nen und Gereizt­heit schrieb mir ein Leser auf mein abend­li­ches Sin­nie­ren über die Schlacht­fel­der des Donbas:

In Ihrem Tage­buch­ein­trag vom 9. Dezem­ber wei­sen Sie jun­ge Män­ner an, ihr Müt­chen zu küh­len mit­tels Video­schau. Anlass und Angel­punkt des Ein­trags scheint Ihre jüngs­te Video­er­fah­rung zu sein. Zur Erin­ne­rung: Der Video­raum ist der Erfah­rungs­raum jun­ger Män­ner die hier­zu­lan­de auf­wach­sen, mit­ein­be­grif­fen das Video­spiel. Ange­nom­men Sie wür­den in die­ser Gene­ra­ti­on eine Umfra­ge nach schöns­ten Kind­heits­er­in­ne­run­gen machen: Man wür­de Sie mit Com­pu­ter­spiel­an­ek­do­ten überhäufen.

Die­ser Erfah­rungs­raum hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren erwei­tert um ein Gen­re, das einen mas­si­ven Zuwachs erfährt: War­porn. Nein, kein Recht­schreib­feh­ler. Man redet so, da man irgend­wo weiß, womit man es zu tun hat. Instink­tiv und ohne Ihre theo­re­ti­sche Vor­bil­dung wird die Nen­nung als Beschwö­rung ange­se­hen. Eine Beschwö­rung von sol­chem, über das man nicht verfügt.

Jene jun­gen Män­ner ins­be­son­de­re, die sich in Ihre Tagun­gen und Ver­an­stal­tun­gen ver­lau­fen, sind Söh­ne der Por­no­gra­phie, vom Son­der­schü­ler zum Best­ab­itu­ri­en­ten, vom Wort­füh­rer zum Ord­ner. Was das heißt, wis­sen sie zumeist nicht. Schlim­mer noch, daß auch Sie sich dar­über nicht im Kla­ren zu sein scheinen.

Das Leben die­ser Jun­gen ist geprägt von offe­nen Wun­den. Und nein, damit ist nicht das Spek­ta­kel des Octa­gons gemeint, das sich in den letz­ten zehn Jah­ren fest eta­bliert hat und dem das Kriegs­spek­ta­kel nun den Rang abzu­lau­fen beginnt. Bei­des sind Fuß­no­ten zu jenem Wund­ge­schäft, das Ihre Zög­lin­ge zu einer Aus­nah­me­erschei­nung macht. Denn es gab sel­ten ein­zel­ne, und nie zuvor eine Gene­ra­ti­on, die, durch das, was ihnen von früh an zu Gesicht kam, so schwer ver­wun­det wurde.

Sie ken­nen Ihr Publi­kum kaum. Wis­sen nicht, was mitt­ler­wei­le unterhält.

Als ich Ellen Kositza beim Abend­brot die­se Zei­len refe­rier­te und mit einem Abschnitt aus Slo­ter­di­jks Regeln für den Men­schen­park ver­knüpf­te, sag­te sie spon­tan, daß der Mann Recht habe: Ich hät­te wohl tat­säch­lich kei­ne Vor­stel­lung davon, wie sehr sich die Seh­ge­wohn­hei­ten und der Abstump­fungs­le­vel jun­ger Leu­te von dem unter­schei­de, was ich so für gang und gäbe hielte.

(Mich ärger­te das, man will ja nicht der alt­ba­cke­ne Dachs sein, und wie stets in solch argu­men­ta­tiv aus­sichts­lo­sen Lagen brach­te mich das Geräusch des Brot­kau­ens der bei­den jun­gen Damen auf, die ihre Bei­ne noch unter mei­nen Tisch stel­len. Ich ver­bot augen­blick­lich den Han­dy-Kon­sum für den wei­te­ren Abend und sam­mel­te die Gerä­te ab.)

Aber natür­lich war mir spä­ter, als ich nur noch mich selbst Wein schlu­cken hör­te, klar, daß Kositza recht hat­te und daß es Zeit wer­den könn­te, ein jun­ges, abge­stumpf­tes, War­porn-ange­füll­tes Köpf­chen an der Pla­nung von Aka­de­mien und Hef­ten zu betei­li­gen – irgend­ei­nen depres­si­ven Hedo­nis­ten oder Incel­ler, der auf Leveln kämpf­te, von deren Exis­tenz ich nicht die lei­ses­te Ahnung habe.

Aber es ist ja für zyni­sches Gescher­ze viel zu ernst, das alles.

Daher nun Slo­ter­di­jks Sät­ze zu Bes­tia­li­sie­rung, 1999 geschrie­ben, und sein Essay wird – wie ich im Edi­to­ri­al der just ver­sand­ten Sezes­si­on 117 notier­te – im kom­men­den Jahr ein the­ma­ti­scher Schwer­punkt nicht nur des Som­mer­fests, son­dern auch der August-Aus­ga­be sein. Aus Regeln für den Men­schen­park, edi­ti­on suhr­kamp, S. 17ff:

Zum Cre­do des Huma­nis­mus gehört die Über­zeu­gung, daß Men­schen “Tie­re unter Ein­fluß” sind und daß es des­we­gen uner­läß­lich sei, ihnen die rich­ti­ge Art von Beein­flus­sung zukom­men zu las­sen. Das Eti­kett Huma­nis­mus erin­nert – in fal­scher Harm­lo­sig­keit – an die fort­wäh­ren­de Schlacht um den Men­schen, die sich als Rin­gen zwi­schen bes­tia­li­sie­ren­den und zäh­men­den Ten­den­zen vollzieht. (…)

Was die bes­tia­li­sie­ren­den Ein­flüs­se angeht, so hat­ten die Römer mit ihren Amphi­thea­tern, ihren Tier­het­zen, ihren Kampf­spie­len bis zum Tode und ihren Hin­rich­tungs­spek­ta­keln das erfolg­reichs­te mas­sen­me­dia­le Netz der alten Welt instal­liert. In den toben­den Sta­di­en rund ums Mit­tel­meer kam der ent­hemm­te homo inhu­ma­nus wie kaum je zuvor und sel­ten danach auf sei­ne Kos­ten. Erst mit dem Gen­re der Chain Saw Mas­sacre Movies ist der Anschluß der moder­nen Mas­sen­kul­tur an das Niveau des anti­ken Bes­tia­li­tä­ten­kon­sums vollzogen. (…)

Danach folgt eine Absa­ge an das Kon­zept der Abhär­tung durch Aus­set­zung, und Slo­ter­di­jk schlußfolgert,

daß Mensch­lich­keit dar­in besteht, zur Ent­wick­lung der eige­nen Natur die zäh­men­den Medi­en zu wäh­len und auf die ent­hem­men­den zu ver­zich­ten. Der Sinn die­ser Medi­en­wahl liegt dar­in, sich der eige­nen mög­li­chen Bes­tia­li­tät zu ent­wöh­nen und Abstand zu legen zwi­schen sich und die ent­menschen­de Eska­la­ti­on der thea­tra­li­schen Brüllmeute.

(Merkt noch jemand, wie die hilf­lo­se Kul­tur­kri­tik sich in Scha­le wirft – ein Vor­gang, den schon Geh­len müde belächelte?)

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Ergän­zung nach Mit­tag. Gera­de schrieb ein Leser noch dies:

Kürz­lich mach­te ich wie­der ein­mal den Feh­ler, in das 4chan-Forum poli­ti­cal­ly incor­rect rein­zu­schau­en. Dort hat­te ein User das von Ihnen the­ma­ti­sier­te Video mit dem ster­ben­den rus­si­schen Sol­da­ten rein­ge­stellt mit dem Kom­men­tar, “Why is it so satis­fy­ing wat­ching zig­gers suf­fe­ring?”, also “War­um ist es so befrie­di­gend, dabei zuzu­se­hen, wie Zig­ger leiden?”

“Zig­ger” ist die abwer­ten­de Bezeich­nung für Rus­sen. Das “Z” bezieht sich auf das tak­ti­sche Zei­chen, das die rus­si­schen Mili­tär­fahr­zeu­ge in der Ukrai­ne tra­gen, und “igger” bezieht sich auf “Nig­ger”.

Ande­re User mach­ten sich eben­falls über die Todes­qua­len des Sol­da­ten lus­tig. Einer mach­te den Vor­schlag, das Video jede Nacht in das Schlaf­zim­mer der Mut­ter des Sol­da­ten zu projezieren.

Auf 4chan wer­den stän­dig sol­che Bil­der und Vide­os ver­öf­fent­licht, und zwar von bei­den Sei­ten, also auch von Usern, die mit der rus­si­schen Sei­te sym­pa­thi­sie­ren. Von denen wer­den dann eben ent­spre­chend Vide­os und Bil­der von ver­letz­ten oder getö­te­ten ukrai­ni­schen Sol­da­ten gepostet.

Das bei Ernst Jün­ger so bedroh­lich wie magi­sche Spre­chen von “Räu­men” und “Zonen” (man den­ke nur an “Köp­pels­bleek” aus den Mar­mor­klip­pen) ist ins vom Gamer-Ses­sel aus Begeh­ba­re ausgeweitet.

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Sams­tag, 9. Dezember

Seit die kal­ten Novem­ber­re­gen ein­ge­setzt und die Frost­näch­te Ein­zug gehal­ten haben, den­ke ich viel an die Sol­da­ten in einem Krieg, der hin­ter dem Nah­ost-Kon­flikt zu einem zweit­ran­gi­gen Schau­platz gewor­den ist, aber mit grau­sa­mer Här­te geführt wird. Im Ukrai­ne-Krieg sind nun Käl­te und Näs­se ent­setz­li­che Gegner.

Wer als Sol­dat auch nur ein paar Wochen bei wid­ri­gem Wet­ter und eisi­ger Tem­pe­ra­tur im Frei­en ver­brin­gen muß­te, weiß, wovon ich spreche.

Wir alle waren nie im Krieg. Aber in mei­nem Fall waren die­se Wochen in der Win­ter­kampf­schu­le in Bal­der­schwang zu absol­vie­ren, und die Näch­te, die um kurz nach fünf began­nen, waren so eisig, daß wir in Bewe­gung blie­ben, um nicht zu erstar­ren. (Im Ohr Fet­zen des Skrew­dri­ver-Lieds “The Snow fell”). Ski mit Steig­fel­len, Win­ter­tarn, wil­len­lo­se Stun­den, und das alles war nur Übung. Kein Tod, kei­ne Todes­angst, abseh­ba­res Ende, zwei Wochen eben.

Ent­lang der Front im Don­bas lie­gen sich die Sol­da­ten im zwei­ten Kriegs­win­ter gegen­über, und wer die Bil­der von den Unter­stän­den sieht, in denen die Sol­da­ten kau­ern, muß mit­be­den­ken, daß es nicht um Arbeits­ta­ge mit abend­li­chem Sau­na­gang geht, wie auf den Win­ter­bau­stel­len im Frei­en. Es geht um Tage, Wochen und Mona­te ohne Ende.

Aber zu die­sem Leid, zu die­sen Sze­na­ri­en, die an die Stel­lungs­schil­de­run­gen Ernst Jün­gers aus dem I. Welt­krieg erin­nern und an die Kriegs­brie­fe aus Sta­lin­grad, gesellt sich ein Grau­en, das vor über hun­dert und vor acht­zig Jah­ren noch nicht über den Schlacht­fel­dern kreiste.

In einem Vor­trag über Ray Brad­bu­rys Roman Fah­ren­heit 451, den ich vor Wochen in Wien hielt, hat­te ich es ange­deu­tet: das Grau­en, das einen packt, wenn der Mensch von der Maschi­ne ver­folgt und zur Stre­cke gebracht wird. Ich bezog mich auf den “mecha­ni­schen Hund” im Roman, des­sen Injek­ti­ons­na­del den Staats­feind zur Stre­cke bringt, nach­dem die unfehl­ba­re Nase ihn auf­ge­spürt hat.

Als Bei­spiel unse­rer Zeit führ­te ich die Jagd an, die im Ukrai­ne-Krieg mit bewaff­ne­ten Droh­nen auf Boden­trup­pen gemacht wird. Im Netz gibt es hun­der­te Vide­os, die ahnungs­lo­se oder ver­zwei­felt davon­krie­chen­de Sol­da­ten zei­gen, deren Bewe­gun­gen aus der Luft gefilmt und deren Leben mit einer wie in einem Com­pu­ter­spiel abge­wor­fe­nen Gra­na­te been­det wird.

Ich stieß heu­te, als ich den Front­ver­lauf ein­mal wie­der nach­voll­zie­hen woll­te, auf einen Tele­gram­ka­nal, der sol­che ent­setz­li­chen Vide­os prä­sen­tiert. Ich kann mich nur an weni­ge Wahr­neh­mungs­mo­men­te in mei­nem Leben erin­nern, in denen ich inner­lich vor Ent­set­zen so erstarr­te wie heu­te Abend.

Das eine Mal liegt über vier­zig Jah­re zurück – als mir ein Anti­kriegs­buch aus dem Bestand mei­nes Groß­va­ters in die Hän­de fiel. In die­sem Buch waren Gesich­ter Kriegs­ver­sehr­ter aus dem I. Welt­krieg abge­bil­det, durch die Geschos­se gefah­ren waren und die aus gro­ßen Augen ohne Nase und Kie­fer und aus Mün­dern ohne Stirn, aber mit gräß­li­chen Zäh­nen bestan­den. Die Erschüt­te­rung wirk­te über Tage.

Das zwei­te Mal ergriff mich die­se Erstar­rung, als ich begann, in der Doku­men­ta­ti­on zu lesen, die das deut­sche Bun­des­ar­chiv mit Augen­zeu­gen­be­rich­ten über die Ver­trei­bung der Deut­schen aus den Ost­ge­bie­ten gefüllt hat­te. Ich schaff­te den Band über Böh­men zur Hälf­te, die ande­ren Tei­le ste­hen unan­ge­tas­tet im Bücher­schrank. Aus­weg­lo­sig­keit und Leid sind so ent­setz­lich, daß jede wei­te­re Lek­tü­re zumin­dest mein Gemüt auf lebens­ver­än­dern­de Wei­se berüh­ren würde.

Viel­leicht ein Drit­tes: die Hebung eines Mas­sen­grabs in Bos­ni­en, der ich als jun­ger Offi­zier bei­wohn­te; und ein Vier­tes: der von einem Mob tot­ge­prü­gel­te Mann in einer Klein­stadt im Süden Kame­runs, dem man Hexe­rei nach­ge­sagt hat­te. Als ich dem Geschrei nach­ging, anlang­te und ihn als den Anlaß der Zusam­men­rot­tung zwi­schen den Gaf­fern erspäh­te, tas­te­ten er noch mit einem ver­renk­ten Fin­ger nach etwas im nas­sen Lehm, bevor ihm ein gro­ber Beton­klotz auf den Kopf gerollt wurde.

Und heu­te: Das Film­chen einer ukrai­ni­schen Droh­nen­ein­heit, das mit einer rühr­se­li­gen rus­si­schen Melo­die anhebt und dann in einen Gitar­ren-Trash umkippt, wäh­rend man von oben ein­zel­ne rus­si­sche Sol­da­ten her­an­zoomt, die bereits ver­wun­det und hilf­los in einem zer­split­ter­ten Wald­stück lie­gen, unter Ästen, mit offe­nen Brü­chen, in sich gekrümmt, embryo­nal, bedürf­tig, schutzlos.

Wäh­rend die Droh­ne zoomt, fal­len Gra­na­ten gezielt auf und dicht neben die­se Män­ner. Die Gen­fer Kon­ven­ti­on ist einen Dreck wert, und wenn im Staats­funk von Lie­fer­schwie­rig­kei­ten für Droh­nen­bau­tei­le an der pol­nisch-ukrai­ni­schen Gren­ze die Rede ist, dann spre­chen wir über Ersatz­tei­le für Kampf­mit­tel, aus denen sol­che Fil­me entstehen.

Der letz­te rus­si­sche Sol­dat, der erle­digt wird, liegt ver­wun­det unter Geäst. Die Droh­ne läßt ihre Gra­na­te dicht vor sei­nen Rumpf fal­len. Dann zoomt die Kame­ra auf eine ent­setz­li­che Wun­de und auf einen stum­men Schrei und eine tas­ten­de Hand, die ver­sucht, das zer­fetz­te Auge, den abge­ris­se­nen Kie­fer und den Kno­chen­brei dort­hin zurück­zu­schie­ben, wo ein­mal ein Gesicht war, rund­lich, schon etwas älter.

Das hei­le Auge sucht den Him­mel ab, dann stirbt die­ser Mensch.

Ich möch­te, daß sich jeder mar­tia­lisch gestimm­te jun­ge Mann die­ses Video anschaut, jeder Kriegs­theo­re­ti­ker auch und natür­lich jede grü­ne Kriegs­trei­ber­see­le, die von einer von ihr so nicht vor­ge­se­he­nen Kriegs­mü­dig­keit der Deut­schen faselt und wei­te­re “Anstren­gun­gen” fordert.

(Man möch­te dort Zel­te errich­ten und mit gro­ßen wei­ßen Ban­nern und roten Kreu­zen in sol­che Wäl­der gehen, um jeden, der nicht mehr kann, ins War­me zu holen und ins Leben zu ret­ten. Ich bete nun den gro­ßen ortho­do­xen Abend­hym­nos für bei­de Sei­ten – wohl auch für mich, um die Erstar­rung zu lösen.)

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Diens­tag, 28. November

Rand­no­tiz 1: Der schwu­le tür­kisch­stäm­mi­ge Exmos­lem Ali Utlu und die jesi­di­sche Gat­tin des AfD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Mar­tin Sichert, Ronai Cha­ker, behaup­ten seit Tagen auf allen ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Kanä­len, daß wir “Schnell­ro­daer” nur hete­ro­se­xu­el­le, natio­na­lis­ti­sche Deut­sche ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund in der AfD sehen woll­ten und alle ande­ren Anwär­ter zu ver­hin­dern wüßten.

An die­ser Unter­stel­lung stimmt vor allem eines nicht: Kei­ner von uns ist Par­tei­mit­glied und dort in Lohn und Brot, wo es um die Auf­nah­me neu­er Mit­glie­der geht. Kei­ner von uns kann etwas “ver­hin­dern”.

Herr Utlu ver­öf­fent­lich­te zuletzt eine Kari­ka­tur, auf der ein ihn wür­gen­des Schnell­ro­da sei­nen Traum von der AfD-Mit­glied­schaft zer­plat­zen läßt. Er will nun eine eige­ne Inter­net-Sei­te grün­den, um auf ihr den angeb­li­chen Haß aus unse­rer Rich­tung gegen ihn zu dokumentieren.

Frau Cha­ker-Sichert wie­der­um schrieb ges­tern über einen unse­rer Autoren:

Licht­mesz ist für mich im übri­gen ein lupen­rei­ner Anti­se­mit, denn er hat sich in einer Dis­kus­si­on mit mir, vor Jah­ren schon hin­ter die Hamas gestellt und deren Vor­ge­hen befürwortet.

Ich riet Licht­mesz ab, juris­tisch vor­zu­ge­hen. Man bie­tet Büh­nen und ver­liert Zeit.

Aber über die­sen Haß hät­ten wir sehr gern ein sehr gründ­li­ches Gespräch mit sowohl Frau Cha­ker-Sichert als auch Herrn Utlu geführt, um zu ergrün­den, wie ernst es ihnen mit der deut­schen Sache sei und war­um sie davon aus­gin­gen, daß wir jeden, der es wirk­lich ernst mei­ne, auf sei­ne Her­kunft abklopf­ten und in sein Schlaf­zim­mer späh­ten, um dann den Dau­men zu sen­ken oder zu heben.

Ich habe Frau Cha­ker-Sichert vor eini­gen Wochen und Herrn Utlu vor fünf Tagen Gesprächs­an­fra­gen zukom­men las­sen und bei­den jeweils frei­ge­stellt, ob solch ein Gespräch öffent­lich oder im stil­len Käm­mer­lein geführt wer­den sol­le. Im Fal­le von Frau Cha­ker erfolg­te die Anfra­ge auch über ihren Gatten.

Wie stets ging es mir, uns dar­um, aus dem Schwarz-Weiß des Geze­ters die Abschat­tie­rung der poli­ti­schen Rea­li­tät abzu­lei­ten. Weder Herr Utlu noch Frau Cha­ker-Sichert haben geantwortet.

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Rand­no­tiz 2: Der Jun­g­eu­ro­pa-Ver­lag hat heu­te die Fort­set­zung des skur­ri­len Pro­zes­ses um sei­nen Namen erlebt. Der Euro­pa Ver­lag klag­te vor einem Jahr, weil er Ver­wechs­lungs­ge­fahr und damit einen Vor­teil für die Jun­g­eu­ro­pä­er wähn­te, denen das hun­der­te, wenn nicht tau­sen­de Leser qua­si ins Fang­netz spü­len würde.

Schon in ers­ter Instanz ent­schie­den die Rich­ter, daß von einer Ver­wechs­lungs­ge­fahr kei­ne Rede sein kön­ne. Die­se Ein­schät­zung wur­de heu­te bestä­tigt, die Urteils­ver­kün­dung ist am 15. Dezember.

Dem Jun­g­eu­ro­pa-Ver­lag zu die­sem juris­ti­schen Erfolg zu gra­tu­lie­ren, wäre so, als klopf­te man jeman­dem auf die Schul­ter, der die Ziga­ret­te rich­tig her­um im Mund­win­kel hat … (Na klar, Jungs: Glückwunsch!)

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Frei­tag, 24. November

Der unga­ri­sche Staats­prä­si­dent Vik­tor Orbán hat zum 90. Geburts­tag der Schwei­zer Welt­wo­che den Fest­vor­trag gehal­ten. Ich emp­feh­le ihn, denn Orbán spricht klar und schnör­kel­los und kommt von der Kri­tik an Euro­pa und am west­li­chen Modell her auf den poli­ti­schen Ansatz sei­nes eige­nen Lan­des zu sprechen.

Die Kern­aus­sa­gen der Bestands­auf­nah­me lau­ten: Euro­pa habe sei­ne stra­te­gi­sche Sou­ve­rä­ni­tät seit lan­gem ein­ge­büßt; in Brüs­sel wer­de kei­ne euro­päi­sche Poli­tik gemacht, son­dern die Herr­schaft der Büro­kra­ten über die Poli­tik vor­ge­führt; die hin­ter Demo­kra­tie­durch­set­zung und Staats­be­frei­ung ver­bor­ge­ne US-Außen­po­li­tik wer­de mitt­ler­wei­le welt­weit als das durch­schaut, was sie sei: knall­har­te Inter­es­sens­po­li­tik; Euro­pa und nament­lich Deutsch­land wer­de als Vasall eines Hege­mons auf Abstieg ver­ar­men, wenn es sich nicht befreie.

Gegen­maß­nah­men skiz­ziert Orbán als Kon­zept der Selbst­ret­tung der Nati­on. Das hal­te ich für ent­schei­dend: Orbán, der mit dem fei­nen Witz des geüb­ten Red­ners und an Gold­waa­gen gewöhn­ten Poli­ti­kers spricht, ist grund­ehr­lich, wenn er das Gewicht Ungarns als zu leicht dafür beschreibt, in Euro­pa aufzutrumpfen.

Es geht im zwei­ten Teil also aus­schließ­lich um den Ver­such Ungarns, mit dem, was auf­ge­bür­det wird, zurecht­zu­kom­men und die Fol­gen für Volk und Nati­on abzu­fe­dern. Orbán weiß um die Ver­füh­rungs­macht der auch in Ungarn omni­prä­sen­ten ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur­ho­heit, um ihre Prä­ge­kraft in der All­tags­kul­tur, dem Frei­zeit­ver­hal­ten und für die “Nar­ra­ti­ven” gera­de jün­ge­rer Generationen.

Orbán stellt kurz das “Work-First-Modell” vor, das nach­weis­lich als unat­trak­tiv für Ein­wan­de­rer, also vor allem: für Asyl­be­wer­ber gilt. Staat­li­che Absi­che­rung gebe es nur für die­je­ni­gen, die arbei­te­ten. Er bezeich­net die­ses Modell sogar als “kalt” im Ver­gleich zu dem, was etwa Deutsch­land macht. Das ist es: auf die Robust­heit der eige­nen Leu­te bau­en, um die Beu­te­ma­cher von außen abzuwehren.

Außer­dem streicht Orbán die unga­ri­sche Fami­li­en­po­li­tik her­aus, von der er – wie­der­um sehr ehr­lich – sagt, daß sie noch kei­ne demo­gra­phi­sche Wen­de her­bei­ge­führt habe, aber immer­hin das für Fami­li­en attrak­tivs­te Modell Euro­pas sei, bereits Früch­te tra­ge und damit die Chan­ce für eine Sta­bi­li­sie­rung des Volks aus eige­ner Kraft biete.

Ich will das noch ein­mal beto­nen: Ana­ly­se auf euro­päi­scher, Maß­nah­men auf natio­na­ler Ebe­ne. Wer nach­le­sen möch­te, wie Ungarn die­ses poli­ti­sche Pro­jekt zivil­ge­sell­schaft­lich abzu­si­chern ver­sucht, kann zum Bänd­chen Natio­na­ler Block von Már­ton Békés grei­fen. Orb­ans Rede gibt es hier zu sehen.

Im Ver­lag ist das Weih­nachts­ge­schäft ange­lau­fen. (Wir berech­nen bis Ende des Jah­res 1.50 € für Sen­dun­gen im Inland und lie­fern ab 70 € por­to­frei.) Es ist Jahr für Jahr schön zu sehen, wie das Buch doch Teil der Geschenk­kul­tur bleibt, obwohl ihm vom mobi­len Geschnip­sel und Geglot­ze so sehr zuge­setzt wird.

Bei uns recht­zei­tig ein­ge­trof­fen sind Nach­dru­cke der Essay-Rei­he Kapla­ken. Ich lis­te die Nach­dru­cke mal auf, es sind Samm­ler­stü­cke dar­un­ter und län­ger ver­grif­fe­nes. 65 Bänd­chen sind ins­ge­samt lie­fer­bar, und es gibt immer wie­der Leser, die uns gera­de erst ent­deckt haben, sozu­sa­gen aus dem Main­stream her­über­stol­pernd, und die Gesamt­ab­nah­me zeich­nen. (Recht haben sie! Die Rei­he Kapla­ken ist doch so etwas wie das Kern­holz der Szene …).

Hier also das, was nun wie­der erhält­lich ist:

Bd 79 – Ste­fan Scheil: Der deut­sche Donner
Bd 67 – Armin Moh­ler: Der faschis­ti­sche Stil
Bd 70 – Sophie Lieb­nitz: Antiordnung
Bd 53 – Thor v. Wald­stein: Macht und Öffentlichkeit
Bd 47 – Mar­tin Sell­ner, Wal­ter Spatz: Gelas­sen in den Widerstand
Bd 41 – Jean Ras­pail: Der letz­te Franzose
Bd 29 – Hen­ry de Mon­t­her­lant: Nutz­lo­ses Dienen
Bd 15 – Karl­heinz Weiß­mann: Post-Demokratie

Hier sind alle 65 lie­fer­ba­ren Bänd­chen auf­ge­lis­tet - so vie­le waren es noch nie. Und: Ste­fan Scheils Vie­rer­pa­ket “II. Welt­krieg” ist auch wie­der voll­stän­dig lieferbar.

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Sams­tag, 18. November

Also: Wie war das ges­tern vor und auf der Ram­pe (Trep­pe) der Uni­ver­si­tät Wien? Wir muß­ten uns prü­geln, dann gab’s die Kund­ge­bung und für den Abzug wur­de eigens für uns eine Stra­ßen­bahn requi­riert, eine “Bim”. Irgend­wie und immer wie­der irre, das Gan­ze. Dabei ging es doch bloß um ein Buch.

Die Ver­suchs­an­ord­nung habe ich vor zwei Wochen beschrie­ben: Der Ring Frei­heit­li­cher Stu­den­ten (RFS) hat­te zu einem öffent­li­chen Vor­trag in einen der Hör­sä­le der Uni­ver­si­tät ein­ge­la­den. Ich soll­te über den Roman Fah­ren­heit 451 von Ray Brad­bu­ry spre­chen. Das Recht zu sol­chen Ver­an­stal­tun­gen hat der RFS, aber es wur­de ihm ver­wehrt, und eine juris­ti­sche Durch­set­zung mißlang.

Die bis­her noch nicht öffent­lich agie­ren­de Grup­pe namens “Akti­on 451” mel­de­te dar­auf­hin eine Kund­ge­bung auf der Trep­pe zum Haupt­ein­gang der Uni­ver­si­tät an. Kositza und ich kamen mit ein paar Leu­ten kurz vor drei an – da war auf bei­den Sei­ten schon Anti­fa ver­sam­melt, und als sie uns sahen, begann’s zu sum­men wie in einem Wespennest.

Beim Über­que­ren der Stra­ße zur Trep­pe hin wur­den wir ange­grif­fen, sehr plötz­lich und mas­siv. Das letz­te Mal, daß mir so etwas pas­sier­te, ist fast zehn Jah­re her. Damals waren wir auf dem Weg zum Leip­zi­ger Able­ger von PEGIDA. Die Poli­zei hat­te den Opern­platz abge­rie­gelt und uns nur schma­le Durch­gän­ge ein­ge­räumt, die mit­ten durch Pulks ver­mumm­ter Anti­fa führ­ten. Man wur­de mit Schlä­gen ein­ge­deckt, wäh­rend man durchlief.

Ges­tern war es direk­ter, und gut ist es, mit den rich­ti­gen Jungs unter­wegs zu sein, wenn so etwas pas­siert. Die Poli­zei war völ­lig über­rascht, aber bis sie ein­griff, hat­ten wir uns schon Luft ver­schafft, nichts abge­kriegt, aber aus­ge­teilt. (Schön zu sehen, wie sich jun­ge Män­ner in Dresch­fle­gel ver­wan­deln, wenn es sein muß.)

Danach die Kund­ge­bung war gut orga­ni­siert, ich sag­te auch ein paar Wor­te, kaum zu Fah­ren­heit 451, mehr zu den Umstän­den. Ich ver­ste­he ja nicht, wie die Uni­ver­si­tät und die Lin­ke an sich immer wie­der so blöd sein kön­nen, den Wir­bel und die Auf­merk­sam­keit durch ihren Hygie­ne­fim­mel erst zu erzeugen.

Denn: Fahren­heit 451 ist kein rech­tes Buch. Es ist auch kein lin­kes Buch. Es ist kul­tur­kri­tisch, steht in der Tra­di­ti­on hilf­lo­ser Tech­nik- und Gesell­schafts­kri­tik und kann ver­ein­nahmt und als Chif­fre besetzt wer­den. Das haben wir zwei Jahr­zehn­te lang gemacht, aber erst seit ges­tern ist es ganz klar, daß die Zif­fer 451 und Feu­er­wehr­mann Mon­tag als Gestalt, als Typ, nun uns gehören.

Wäre ich im Besitz der Ver­an­stal­tungs­macht, hät­te ich mich zuge­las­sen und ein Podi­um gefor­dert, um mir die Deu­tungs­ho­heit über Fah­ren­heit 451 zu ent­rei­ßen. Aber der Schat­ten ist zu breit, die Lin­ke und die Mit­te kön­nen nicht mehr über ihn springen.

Den Vor­trag hielt ich dann spä­ter in den Räu­men der Öster­rei­chi­schen Lands­mann­schaft. Er ist auf­ge­zeich­net wor­den, wir ver­öf­fent­li­chen ihn bald. Das wird die­je­ni­gen nicht beein­dru­cken, denen egal ist, wor­über wir reden, Haupt­sa­che wir reden nicht. Aber es wird die Ver­ein­nah­mung ver­stär­ken und der Akti­on 451 ein wenig Theo­rie liefern.

Der Abzug von der Trep­pe und die Ver­le­gung zur Lands­mann­schaft war dann noch ein Spek­ta­kel. Die Poli­zei räum­te das aka­de­mi­sche Pro­le­ta­ri­at bei­sei­te, damit wir zur Stra­ßen­bahn kämen. Die wur­de extra auf­ge­hal­ten, und wäh­rend wir durch die Stadt zup­pel­ten, eskor­tier­te die Poli­zei im Lauf­schritt. Sur­re­al, so etwas, aber in der Situa­ti­on ganz logisch und plas­tisch und absurd. Aber auch: ein Erlebnis.

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Diens­tag, 14. November

Heu­te kommt Band 5 der Antai­os-Roman­rei­he aus dem Druck. Er ist Abon­nen­ten der Gesamt­rei­he vor­be­hal­ten, das war von vorn­her­ein abge­macht, davon rücken wir nicht ab.

Die ers­ten vier Bän­de der Rei­he sind sehr gut auf­ge­nom­men wor­den, kaum kri­tisch, oft begeis­tert. Jeden­falls hat sich bestä­tigt, was schon frü­he­re bel­le­tris­ti­sche und exklu­si­ve Ver­lags­pro­jek­te ein­brach­ten (Rei­he Mäan­der!): Es schrei­ben ganz ande­re Leser ihre Ein­drü­cke und Fra­gen auf als die­je­ni­gen, die im Blog kom­men­tie­ren oder auf unser poli­ti­sches Pro­gramm reagie­ren. Es ist, als stie­ße man mit sol­chen Büchern auf einen Kern der Leser­schaft vor, der zu den Stil­len im Lan­de gehört (wie Jochen Klep­per das ein­mal ausdrückte).

Autor und Titel des fünf­ten Ban­des ver­ra­ten wir nicht. Das ist eine der sprich­wört­li­chen Kat­zen im Sack, bloß kann ich sagen, daß es bei uns kei­ne trief­na­si­gen und schiel­äu­gi­gen Tier­chen gibt. Es gehört schlicht zu den Ver­le­ger­freu­den, um das Ver­trau­en der Leser auf das Ver­le­ger­händ­chen zu wissen.

Die berüh­rends­ten Brie­fe erhielt ich zu Hase­manns Gefan­gen­schafts­ro­man Nas­ses Brot. Die Lek­tü­re ist zäh wie die end­los lang­sam ver­strei­chen­de Zeit in einem Vieh­wa­gon auf der Fahrt nach Osten, auf einer klir­rend kal­ten Bau­stel­le in der Step­pe und im Durch­gangs­la­ger auf dem Weg in die Hei­mat, auf dem noch an den letz­ten Sta­tio­nen ohne Begrün­dung Gefan­ge­ne aus dem Zug gefischt und zurück ins End­lo­se geschickt werden.

Leser schrie­ben von Tage­bü­chern ihrer Väter und Groß­vä­ter, schil­der­ten den Abbruch der Lek­tü­re und die Wie­der­auf­nah­me nach Tagen der inne­ren Kräf­ti­gung. Einer schrieb, ob es sein müs­se, sol­che Tore auf­zu­sto­ßen. Ich mei­ne: ja, und zwar dann, wenn jemand wie Hase­mann das Tor auf­stößt. Er schrieb ja nur drei Bücher, danach hat­te er etwas erle­digt. Leh­nert und ich wer­den über ihn eine Lite­ra­tur­sen­dung machen.

Wir haben von den Gesamt­ab­nah­men der Roman-Rei­he noch etwa 100 Pake­te zu ver­ge­ben. Im Weih­nachts­pro­spekt, der neben­an gera­de ver­sand­fer­tig gemacht wird, sind die­se Pake­te noch ein­mal und abschlie­ßend im Angebot.

Hier kann man eines davon bestellen.

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Zwei­mal Björn Höcke, ein­mal er selbst, das ande­re Mal die­je­ni­gen über ihn, die ihn nicht ken­nen, aber so tun, als wüß­ten sie Bescheid.

Vor­ab aber Fol­gen­des: Ich gehö­re zu denen, die Höcke am bes­ten ken­nen. Wir haben über unser poli­ti­sches Den­ken, die Suche nach Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten und die Kri­tik an Hin­ter­zim­mer, Eska­pis­mus, poli­ti­scher Melan­cho­lie und sub­stanz­lo­ser Kar­rie­re­ab­sicht bereits gespro­chen und gestrit­ten, als wir alle noch in klei­nen Zir­keln unter der gro­ßen Blei­de­cke saßen und Deh­nungs­übun­gen machten.

Es war im Okto­ber 2013, als ich mit eini­gen mei­ner Kin­der an den Fuß des Han­steins fuhr, um am Auf­takt zur 100-Jahr-Fei­er des damals rich­tungs­wei­sen­den jugend- und reform­be­weg­ten Meiß­ner­tref­fens teil­zu­neh­men. Die Nacht ver­brach­te ich mit der Jüngs­ten, die mir beim Wan­dern noch auf den Schul­tern saß, bei Höcke in Bornhagen.

Als es im Hau­se ruhig war, setz­ten wir uns zum Bier zusam­men, um über die noch sehr jun­ge Par­tei und über Höckes Enga­ge­ment dar­in zu spre­chen, das ihn bereits an die Lan­des­spit­ze Thü­rin­gens gebracht hat­te. Er war vol­ler Opti­mis­mus und berich­te­te von Ver­samm­lun­gen, Zustrom und ers­ten Richtungsentscheidungen.

Ich war skep­tisch, fast spöt­tisch, denn unser bei­der Erfah­rung mit den vie­len Kleinst- und Split­ter­par­tei­en von rechts war ernüch­ternd. Wir hat­ten deren Geh­ver­su­che schrift­lich und in Gesprä­chen beschrie­ben und ana­ly­siert, uns aber nie betei­ligt. “Die Frei­heit” war zuletzt schon als jun­ges Pflänz­chen ver­dorrt, und wir streif­ten sie nur, weil die Emp­feh­lung ihrer Bun­des­spit­ze, der AfD bei­zu­tre­ten, ent­we­der kurz bevor­stand oder schon erfolgt war (ich weiß es nicht mehr).

Spät in der Nacht jeden­falls hat­te mich Höcke mit sei­ner Zuver­sicht doch unsi­cher gemacht. Im Unter­schied zu allen ande­ren Par­tei­grün­dun­gen war die AfD nicht von rechts, son­dern aus der ent­täusch­ten und alar­mier­ten Mit­te der CDU her­aus initi­iert wor­den. Nur ein ein­zi­ges Mal hat­te es etwas Der­ar­ti­ges bis­her gege­ben: Der Ham­bur­ger Rich­ter Ronald Schill war auf Anhieb mit einer eige­nen Lis­te in die Bür­ger­schaft ein­ge­zo­gen, weil auch er den Duft des­je­ni­gen ver­ström­te, des­sen poli­ti­sche Her­kunft kein abge­brann­ter Rand war.

Höcke been­de­te damals unser Gespräch mit den Wor­ten, daß wir mal sehen müß­ten, inwie­weit die Herr­schaf­ten aus der Mit­te für genu­in rech­te The­men offen wären. (Der Rest ist bekannt – samt Bernd Luckes poli­ti­schem Sal­to Mortale.)

Wenn ich dar­über nach­den­ke, wie sehr das libe­ral­kon­ser­va­ti­ve AfD-Lager uns und vor allem Höcke die Schuld zuschob, daß man die für ihren poli­ti­schen Mut bekann­te bür­ger­li­che Mit­te ver­lo­ren und eines der hoff­nungs­volls­ten Par­tei­pro­jek­te aller Zei­ten an den Rand des Abgrunds und dar­über hin­aus gescho­ben hätte!

Höcke gehör­te zu den­je­ni­gen, die sich unter dem Ein­druck die­ser Kri­tik aus den ver­meint­lich eige­nen Rei­hen nicht zu Lands­knechts­na­tu­ren wan­del­ten und sen­gend durch die Par­tei zogen. (Sol­che Kan­di­da­ten gab es.) Was sei­ne par­tei­in­ter­nen Geg­ner unter­schätz­ten und bis heu­te unter­schät­zen, ist die Macht der Begeg­nung und die Über­zeu­gungs­kraft der Persönlichkeit.

Ich habe Par­tei­ver­an­stal­tun­gen erlebt, die feil­schen­den Basa­ren gli­chen, bis zur Rück­sichts­lo­sig­keit laut und geschwät­zig, obwohl vorn einer am Pult stand und sprach – und die zu Räu­men wur­den, in denen man noch den Letz­ten zur Ruhe zisch­te, weil Höcke ans Mikro­fon trat.

Ich ken­ne etli­che Par­tei­leu­te, die, auf­ge­la­den nicht nur von der Lücken­pres­se, son­dern von den eige­nen Leu­ten, in Höcke den dump­fen, rück­sichts­lo­sen Sprü­che­klop­fer sahen – und im Gespräch ihr Feind­bild nicht fan­den, son­dern in einer Mischung aus Ver­wir­rung und Erleich­te­rung kein schlech­tes Wort mehr über die­sen Mann hören woll­ten, son­dern sei­nen Weg akzeptierten.

War­um notie­re ich das alles noch ein­mal, wo ich es schon hier und da beschrie­ben und in unge­zähl­ten Gesprä­chen inner­halb und außer­halb der AfD erzählt habe? Der Anlaß ist bald zwei Wochen alt. Ich hör­te beim Holz­schich­ten im Kon­tra­funk die Sonn­tags­run­de mit Burk­hard Mül­ler-Ulrich und sei­nen Gäs­ten, und es ging um Höcke. (Hier nach­hö­ren.)

Zu Gast war ers­tens Vera Lengs­feld. Sie lag mir schon vor sie­ben Jah­ren, als ich sie in Son­ders­hau­sen besuch­te, damit in den Ohren, daß in Thü­rin­gen eine fei­ne Regie­rung aus CDU und AfD sofort mög­lich sei, wenn Höcke zurück­trä­te und den Weg frei mach­te für einen Kon­ser­va­tiv­li­be­ra­len in der AfD. Aber schon damals begriff sie nicht, daß sich inmit­ten der Lawi­ne aus Kri­sen, Dys­funk­tio­na­li­tät, Über­frem­dung und Vasal­len­glück die fein­sin­ni­ge Unter­schei­dung zwi­schen der Volks­front von Judäa und der Judäi­schen Volks­front als irrele­vant erwei­sen müs­se, und zwar mit jedem Tag mehr. Sie begriffs wirk­lich nicht, das habe ich jetzt gehört, denn im Kon­tra­funk wie­der­hol­te sie ihren alten Ser­mon, obwohl die AfD auch rund um Son­ders­hau­sen bei über 30 Pro­zent steht.

Dann Ingo Lang­ner, fleisch­ge­wor­de­ne BRD, bis weit in die 2000er Jah­re mit­ten im Kul­tur­be­trieb (dafür muß man sich ja fast schon ver­ant­wor­ten, fin­de ich) und nun neu­er Chef­re­dak­teur bei CATO, dem Maga­zin fürs War­te­zim­mer. Er äußer­te sich am schä­bigs­ten über Höcke und gab dabei zu, die­sen Mann ers­tens gar nicht per­sön­lich zu ken­nen, zwei­tens des­sen Gesprächs­band Nie zwei­mal in den­sel­ben Fluß gar nicht gele­sen, son­dern drit­tens sein Wis­sen über Höcke einer Rezen­si­on die­ses Buches aus der Feder Die­ter Steins ent­nom­men zu haben. Das nen­ne ich Augenhöhe!

Peter J. Bren­ner zuletzt: Autor unter ande­rem bei Tumult, bekannt durch das Abfas­sen von Offe­nen Brie­fen an Redak­tio­nen, deren Weg er als Abon­nent oder Mit­glied nicht mehr tei­len woll­te, nament­lich FAZ (2020) und wbg (2019). Er sieht Höcke “die zwölf Jah­re” bewirt­schaf­ten, kanns aber nicht bele­gen, und in der Sonn­tags­run­de gab er sei­nem ungu­ten Gefühl dar­über Ausdruck.

Burk­hard Mül­ler-Ulrich war irgend­wie kon­ster­niert. Die­ses Gere­de vom Hören­sa­gen her und im Dia­lekt der Wer­te­Uni­on – das gefiel ihm nicht. Aber die­se Leu­te fin­den ja Gehör.

Jedoch: Ich will jetzt mal behaup­ten, daß die kaum wahr­nehm­ba­re Argu­men­ta­ti­ons­li­nie von den Drei­en kaum zu hal­ten sein wird. Es wird sogar ganz schön schwie­rig, wenn ich jetzt mal Höcke zitie­re, ohne ihn gefragt zu haben, ob ich das darf. Aber es paßt halt so gut, und er äußer­te es neu­lich, als wir end­lich wie­der ein­mal ein paar Stun­den wan­dern konn­ten. “Götz”, sag­te er, “das ist alles nicht schön, aber wir ken­nen das ja, oder? Und jeder will sein Süpp­chen kochen. Aber am Ende gehö­ren die eben doch alle zu uns. Und wir brau­chen jeden, wirk­lich jeden, so groß ist die Aufgabe.”

So ist es, und wer das begrif­fen hat, weiß, wie es klingt, wenn man Eng­stir­ni­gen und Korin­then­ka­ckern den Maß­stab erklärt: Unser Volk und unse­re Demo­kra­tie müs­sen geret­tet wer­den, und das ist kei­ne Butterfahrt.

Des­halb, und weil es wich­tig ist, zu sehen, wie einer ant­wor­tet, wenn er mal nach­den­ken darf, bevor er ant­wor­ten muß, emp­feh­le ich als zwei­tes das gro­ße Inter­view, das der sehr gut vor­be­rei­te­te Mar­tin Mül­ler-Mer­tens für Auf1 mit Höcke geführt hat. Hier ist es.

(Ergän­zun­gen, Fund­stü­cke und kri­ti­sche Anmer­kun­gen rich­ten Sie bit­te an [email protected]. Ich wer­de aus­brei­ten, was sich ansam­melt. Jedoch geht es nicht um übli­ches Kom­men­ta­ri­at, son­dern um Fort­schrei­bung. Wir wer­den sehen, wie das klappt.)

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Mon­tag, 6. November

Der Druck­aus­ga­be der Sezes­si­on liegt in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den das Lite­ra­tur­heft Pho­no­phor bei. Es ent­hält Kurz­pro­sa aus der Leser­schaft. Wir rie­fen Anfang ver­gan­ge­nen Jah­res erst­mals zur Betei­li­gung auf. Idee und Name gehen auf eine Initia­ti­ve des Sezes­si­on-Autors Dirk Alt zurück: Der “Pho­no­phor” ist eine Art Smart­phone. Er taucht in Ernst Jün­gers Roman Eumes­wil bereits auf und wird indif­fe­rent als Sta­tus­sym­bol, ins­ge­samt aber als pro­ble­ma­tisch beschrieben.

Was mich freut, ist, daß unser Pho­no­phor, Aus­ga­be 4, nun an zwei unter­schied­li­chen Stel­len aus­führ­lich gewür­digt wor­den ist. Die Publi­zis­tin Bea­te Broß­mann hat für das Blog der Zeit­schrift Tumult rezen­siert, Phil­ip Stein und Vol­ker Zier­ke bespre­chen Aus­ga­be 4 im Jun­g­eu­ro­pa-Pod­cast.

Auch Ellen Kositza und ich haben den Pho­no­phor erwähnt, als wir die 116. Sezes­si­on in einem kur­zen Video vor­stell­ten. Dabei ist neben mei­ner Pro­jek­ten grund­sätz­lich ent­ge­gen­ge­brach­ten Skep­sis die Freu­de über die Kon­ti­nui­tät und Qua­li­tät die­ser Bei­la­ge zu kurz gekom­men. Leser frag­ten, ob ich den Pho­no­phor wie­der ein­stel­len wol­le. Aber nein, im Gegen­teil! Wie schon oft, sind wir auch auf die­sem Feld Pio­nie­re und machen, was fehlte.

Um ein wei­te­res Miß­ver­ständ­nis aus­zu­räu­men: Der 4. Pho­no­phor wird jeder 116. Sezes­si­on bei­gelegt, egal ob im Abon­ne­ment oder als Ein­zel­heft erwor­ben – jedoch nur, solan­ge der Vor­rat reicht. (Er ist auf 25 Hef­te geschrumpft.) Bestel­len kann man hier.

Der Ring Frei­heit­li­cher Stu­den­ten (RFS) aus Wien hat mich zu einem Vor­trag an die Uni­ver­si­tät ein­ge­la­den. Man hat das Recht auf öffent­li­che Ver­an­stal­tun­gen in Hör­sä­len, wenn man im Hoch­schul­par­la­ment ver­tre­ten ist, und die­ses Recht will der RFS am 17. Novem­ber wahr­neh­men. Zwar hat die Uni­ver­si­täts­lei­tung den Ver­trag für die­se Ver­an­stal­tung umge­hend gekün­digt, nach­dem bekannt wur­de, daß ich dort vor­tra­gen sol­le. Aber gegen die­se Kün­di­gung wird nun geklagt.

Ich wer­de am 17. auf jeden Fall pünkt­lich an der Uni­ver­si­tät sein und den ver­ein­bar­ten Vor­trag über das Buch Fah­ren­heit 451 von Ray Brad­bu­ry in der Tasche haben. Feu­er­wehr­mann Mon­tag ist eine unse­rer Iko­nen, denn er steht fast allein neben der beläm­mer­ten Mas­se und gegen ihre Domp­teu­re, die das Lesen ver­bo­ten und fast alle Bücher ver­brannt haben. Er steht aber nicht ganz allein, denn man erkennt ein­an­der am Hun­ger auf ande­re Kost als die, die durch die Git­ter­stä­be gereicht wird. Man tas­tet ein­an­der ab, man faßt Ver­trau­en, man sieht eine Lebenstür.

Unse­re Sze­ne hat für Dys­to­pien viel übrig, sie ist hell­hö­rig, hat das geschul­te Gehör derer, die auf­ge­wacht sind und die Schrit­te der Wär­ter stu­die­ren. Legen wir uns wie­der hin oder klop­fen wir die Wän­de ab? Lesen wir, daß es anders sein könn­te oder lie­fern wir die Bücher an die­je­ni­gen ab, die selbst die Erin­ne­rung an sie noch til­gen möch­ten? Begrei­fen wir unser Leben als gol­de­nen Käfig oder sehen wir die Stä­be nicht mehr?

Es gibt unter Umstän­den kein Recht auf den ande­ren Ton an der Uni­ver­si­tät, so naiv bin ich nicht. Aber es wird drin­gend Zeit für einen ande­ren Ton, und wir erhe­ben Anspruch dar­auf. Wenn es also die Mög­lich­keit gibt, sich Zutritt zu ver­schaf­fen und Platz zu neh­men, dann soll­ten wir sie ergreifen.

Wir ergrei­fen sie übri­gens als die­je­ni­gen, die davon berich­ten wol­len, wie schön und befrei­end es ist, sich geis­tig nichts von vorn­her­ein ver­bie­ten zu müs­sen. Ich bemit­lei­de die Ver­tre­ter der Can­cel cul­tu­re. Ich bemit­lei­de sie wirk­lich, denn sie haben sich selbst so vie­les ver­bo­ten, haben sich selbst mit Auf­pas­sern umstellt, sind ein­an­der zu Auf­pas­sern gewor­den, weil sie sich in einem Minen­feld wähnen.

Dabei sind sie bloß Mimo­sen und haben sich Hygie­ne­vor­schrif­ten unter­wor­fen, die das Leben und Lesen zu einer asep­ti­schen Sache machen.

Wir hin­ge­gen müs­sen nicht vor­ein­an­der recht­fer­ti­gen, mit wem wir spre­chen, was wir lesen, wem wir zuhö­ren und von wem wir ler­nen wol­len. Noch nie muß­te ich zu jeman­dem sagen, er sol­le ein Gespräch, das wir führ­ten, so behan­deln, als habe es nie stattgefunden.

Aber wie oft schon sag­ten mir die ver­ängs­tig­ten, ver­zwei­fel­ten, rat­lo­sen, zyni­schen, vor allem aber ver­meint­li­chen Geg­ner, mit denen ich mich traf, um Rede und Ant­wort zu ste­hen, daß das sozia­le Höl­len­tor geöff­net wür­de, käme ans Licht, mit wem sie sich gera­de austauschten.

Denen, die nun die Tür zum Hör­saal ver­na­geln wol­len, muß man die Angst neh­men. Leu­te: Es han­delt sich um einen Vor­trag. Es wird um einen der Klas­si­ker über die Selbst­er­mäch­ti­gung gehen, nach Büchern zu grei­fen, sie nicht zu ver­bren­nen, son­dern zu ret­ten und ihren Inhalt so zu ver­in­ner­li­chen, als sei man selbst die­ses Buch.

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Diens­tag, 31. Oktober

Zum ers­ten Mal in mei­nem Leben auf einer Galopp-Renn­bahn: Halle/Saale, Volks­fest­stim­mung, Gulasch und Bier, sie­ben Ren­nen. Was fas­zi­nier­te, wie bei Jägern: die ganz eige­ne Spra­che, die in den Ankün­di­gun­gen und Sie­ger­inter­views eben nicht gepflegt, son­dern ein­fach ver­wen­det wurde.

Da gaben Pfer­de ihr Lebens­de­büt, als begän­ne das Leben erst, wenn man die Renn­bahn betritt. Von Aus­gleichs­ren­nen und Han­di­caps war die Rede, und bei­des hat mit Gewich­ten zu tun, die den Pfer­den ange­hängt wur­den, damit auch ande­re eine Chan­ce bekä­men. Ein Mann knurr­te was von Blen­dern, die sei­ne Drei­er­wet­te ver­saut hät­ten. Dabei hing der Gaul samt sei­nem Jockey mit den gestreif­ten Far­ben bloß im Lot und konn­te nicht vorbei.

Eini­ge Besu­cher mach­ten auf Stil, also Tweed und Karo und Frau­en mit Sonn­tags­rei­ter­mo­de plus hohen Stie­feln und Sekt­glas. An den Wett­kas­sen end­lo­se Schlan­gen, und ein paar Män­ner mit Feld­ste­cher und Notiz­blö­cken setz­ten nicht aus Jux. Ich sprach einen an, aber das Miß­trau­en war grob.

An den Bier­ti­schen und auf der Tri­bü­ne lausch­te ich den Gesprä­chen: nicht ein poli­ti­sches Wort. Aber ein paar Handschläge.

Gespräch mit einem Sicher­heits­exper­ten aus Öster­reich. Er war für die UN-Frie­dens­trup­pe auf den Golan­hö­hen an der syri­schen Gren­ze und hat den Abzug der öster­rei­chi­schen Ein­hei­ten von dort im Jahr 2013 mit­ge­macht. Er ist mit einer Israe­lin ver­hei­ra­tet, lebt in Wien und ist oft in Tel Aviv – Sicher­heits­be­ra­tung für Import und Export.

Wir tra­fen uns in Leip­zig. Sei­ne Ant­wort auf mei­ne Fra­ge, ob Isra­el über­rascht wor­den sei am 7. Okto­ber, ver­blüff­te mich in ihrer Direkt­heit. Er sag­te ers­tens, es sei völ­lig aus­ge­schlos­sen, daß Isra­el im Vor­feld kei­ne Kennt­nis von die­sem Angriff gehabt habe, also wirk­lich völ­lig aus­ge­schlos­sen. Man habe es aus ver­schie­de­nen Grün­den gesche­hen lassen.

Da sind innen­po­li­ti­sche Grün­de zum einen, also Ablen­kung von inner­is­rae­li­scher Span­nung, und zum ande­ren außen­po­li­ti­sche Grün­de, näm­lich die Legi­ti­ma­ti­on für einen mani­fes­ten Gegen­schlag, für den es wie­der ein­mal an der Zeit gewe­sen sei.

Jedoch, zwei­tens: Isra­el habe die eige­ne Grenz­si­che­rung über­schätzt und sei von der Wucht und der Bru­ta­li­tät der Angrei­fer am Boden über­rum­pelt wor­den. Man habe falsch kal­ku­liert, weil man nur weni­ge habe ein­wei­hen kön­nen, also im Grun­de kaum jeman­den von denen, die den ers­ten Wel­len­bre­cher zu bil­den gehabt hätten.

Die Lage sei, drit­tens, mili­tä­risch für Isra­el gut, aber psy­cho­lo­gisch schlecht. Mili­tä­risch: Er selbst ken­ne kei­ne Armee, die am For­ma­len weni­ger inter­es­siert und zugleich so kon­se­quent auf Effek­ti­vi­tät aus­ge­rich­tet sei. Ich ver­mu­te­te, daß dies der Zustand sei, wenn Waf­fe und Bereit­schaft nicht hin­ter Kaser­nen­mau­ern abge­trennt, son­dern lebens­ge­gen­wär­tig sei­en. Er bestä­tig­te und füg­te hin­zu, daß aus die­sem Grund die His­bol­lah nicht wirk­lich ein­grei­fe: Man wür­de nicht das weni­ge an guten Waf­fen und Leu­ten opfern, das bes­ser sei als die Hamas, aber immer noch um Wel­ten schlech­ter als Israel.

Pro­ble­ma­tisch sei der Häu­ser­kampf, das Auf­räu­men in den kilo­me­ter­lan­gen Kata­kom­ben unter dem Schutt, den die Luft­waf­fe pro­du­ziert habe. Eine alte Leh­re aus dem 1. Welt­krieg schon: daß die Stel­lung unter einem ein­mal in sich zusam­men­ge­bro­che­nen Haus siche­rer sei als alles ande­re. Sol­che Höh­len­sys­te­me aus­zu­räu­men, das bedeu­te: Einer ist vor­ne­weg, da gäbe es kei­ne Alter­na­ti­ve, und wenn der nicht mehr sei, dann eben der zwei­te, dann der drit­te. Selbst die wirk­lich guten Ein­hei­ten kämen dabei an ihre Belastungsgrenze.

Psy­cho­lo­gisch sei Isra­el trotz über­wäl­ti­gen­der Lob­by­ar­beit bereits im Hin­ter­tref­fen: Die Hamas spie­le das Spiel mit den Gei­seln sehr geschickt, und die mehr als abschät­zi­gen und rück­sichts­lo­sen Äuße­run­gen höchst­ran­gi­ger israe­li­scher Poli­ti­ker und Mili­tär­an­ge­hö­ri­ger sei­en ein media­les Desas­ter. Aber das sei nicht ein­zu­he­gen: Das sei ehr­lich so gemeint, for­mal schnodd­rig und im Front-Slang derer, die wis­sen, was sie kön­nen, wer der Feind ist und was die­ser Feind täte, wenn er nur könnte.

Aber vier­tens: 350 000 ein­ge­zo­ge­ne, von der Arbeit abge­zo­ge­ne Reser­vis­ten, zig­tau­send aus dem Land geflüch­te­te Arbeits­kräf­te, und eben kei­ne Lehm­hüt­ten plus drei Zie­gen, son­dern eine moder­ne Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft. Jeder Tag ist ein öko­no­mi­sches Desas­ter für Isra­el, jeder Ver­lust reißt eine gra­vie­ren­de Lücke, nicht nur menschlich.

Eine Lösung sei nicht in Sicht. Die Sand­uhr wer­de umge­dreht, wie in der Sau­na. Irgend­wann, viel­leicht in sie­ben, viel­leicht in zehn Jah­ren rie­se­le dann das letz­te Körn­chen, und dann kra­che es wie­der. Aber nun sei man ja erst ein­mal mittendrin.

Sol­che Gesprä­che – was sind sie? Bestä­ti­gun­gen des Geahn­ten, ergänz­te Aspek­te, Ein­übung in eine frem­de Men­ta­li­tät. Vor allem: Berich­te aus der Fer­ne, zu denen man sich nicht ver­hal­ten muß. Wie ich schon schrieb (und der Sicher­heits­be­ra­ter, der mei­nen Bei­trag gele­sen hat­te, bestä­tig­te die­se Sicht­wei­se fast schon emo­tio­nal): Isra­el braucht uns nicht.

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Sams­tag , 29. Oktober

1999 erreich­te der dama­li­ge Außen­mi­nis­ter Josch­ka Fischer auf dem Son­der­par­tei­tag der Grü­nen im Mai die Zustim­mung sei­ner Par­tei zum Angriff der Nato auf Ser­bi­en und zum Ein­marsch in den Koso­vo. Er argu­men­tier­te damals auf der meta­po­li­tisch jahr­zehn­te­lang vor­be­rei­te­ten Grund­la­ge, daß es nie wie­der zu Faschis­mus und zu Ausch­witz kom­men dürfe.

Meta­po­li­ti­sche Vor­be­rei­tung bedeu­te­te in die­sem Fall, daß die­se Begrif­fe los­ge­löst von ihrer his­to­ri­schen Ein­bet­tung in eine Epo­che zu Chif­fren gewor­den waren. Ihre Wir­kung beruh­te nicht auf Nach­voll­zieh­bar­keit eines statt­haf­ten Ver­gleichs, son­dern auf scho­ckie­ren­der Über­wäl­ti­gung und der Nicht­hin­ter­frag­bar­keit eines Glaubenssatzes.

Nur von der zivil­re­li­giö­sen Auf­la­dung sol­cher kol­lek­ti­ver deut­scher Schuld her ist zu erklä­ren, wie der dis­si­den­te Jour­na­list Juli­an Rei­chelt mit dem Ver­weis auf die Bom­bar­die­rung deut­scher Städ­te die Bom­bar­die­rung des Gaza-Strei­fens durch Isra­el recht­fer­tigt. Am 25. Okto­ber kom­men­tier­te Rei­chelt im Sen­der NIUS:

Bri­ten und Ame­ri­ka­ner hiel­ten es für gebo­ten und mora­lisch ver­tret­bar, den Wil­len der deut­schen Zivil­be­völ­ke­rung durch Flä­chen­bom­bar­de­ments von Städ­ten zu bre­chen. Sie nah­men den Tod hun­dert­tau­sen­der Zivi­lis­ten nicht nur in Kauf, sie ver­ur­sach­ten ihn ganz bewusst, weil sie der (rich­ti­gen) Über­zeu­gung waren, dass es ein befrei­tes und fried­li­ches Euro­pa nur geben kön­ne, wenn Deutsch­land in jeder Hin­sicht gebro­chen wäre.

Rei­chelt steht mit die­ser Argu­men­ta­ti­on nicht nur jen­seits roter Lini­en, die das Kriegs­völ­ker­recht mar­kiert (wobei gleich ange­merkt sei, daß sich der­je­ni­ge, der kann, was er will, um die­ses Recht noch nie groß scher­te); er über­nahm die­sen Offen­ba­rungs­eid vom ehe­ma­li­gen israe­li­schen Pre­mier­mi­nis­ter Naf­ta­li Ben­nett, der bereits am 13. Okto­ber die Fra­ge eines Jour­na­lis­ten nach zivi­len Opfern im Gaza-Strei­fen mit den Wor­ten zurückwies:

Fra­gen Sie mich ernst­haft wei­ter nach paläs­ti­nen­si­schen Zivi­lis­ten? Haben Sie nicht gese­hen, was los ist? Wir bekämp­fen Nazis.

Und wei­ter:

Als Groß­bri­tan­ni­en im Zwei­ten Welt­krieg die Nazis bekämpft hat, hat auch kei­ner gefragt, was in Dres­den los ist. Die Nazis haben Lon­don ange­grif­fen und ihr habt Dres­den ange­grif­fen. Des­halb: Schan­de über Sie, wenn Sie mit die­sem fal­schen Nar­ra­tiv weitermachen.

Ich bin mir nicht sicher, wie wir­kungs­voll die­se Absi­che­rungs­chif­fren heu­te noch sind und ob nicht “Dres­den” als Wort doch einen ande­ren Bei­klang hat als den, der Rei­chelt und Ben­nett im Ohr sit­zen mag. Flo­renz und Elbe und “Wie liegt die Stadt so wüst” klin­gen mit.

Alte Hebel, die so spie­lend ange­setzt wer­den konn­ten und funk­tio­nier­ten, sind jedoch lang­le­bi­ges Gerät. Und so hat ges­tern der israe­li­sche Außen­mi­nis­ter Eli Cohen die (wie­der­um nicht bin­den­de) Reso­lu­ti­on der UN-Voll­ver­samm­lung, die­sen Auf­ruf zur Scho­nung der Zivil­be­völ­ke­rung und zu einem Ende der Kämp­fe, mit den­sel­ben Ver­wei­sen zurückgewiesen.

Wir leh­nen den ver­ab­scheu­ungs­wür­di­gen Ruf der UN-Gene­ral­ver­samm­lung nach einem Waf­fen­still­stand ent­schie­den ab. Isra­el beab­sich­tigt, die Hamas zu eliminieren.

Denn so sei die Welt auch mit den Nazis und der Ter­ror­mi­liz Isla­mi­scher Staat (IS) ver­fah­ren. Des­halb sei die Reso­lu­ti­on ein „dunk­ler Tag für die UN und für die Mensch­heit“, der mit Schan­de in die Geschich­te ein­ge­hen wer­de. (Deutsch­land ent­hielt sich.)

Las ges­tern im neu­en Heft der noch wenig bekann­ten Zeit­schrift CRISIS, einem erst im Vor­jahr gegrün­de­ten “Jour­nal für christ­li­che Kul­tur”. Ver­ant­wort­li­cher Redak­teur ist Gre­gor Fern­bach, der auch den Ver­lag Hagia Sophia betreibt. Dort wird unter ande­rem das Werk des rus­si­schen Phi­lo­so­phen Iwan Iljin gepflegt.

Unse­re Leser haben vor allem nach sei­ner zen­tra­len Schrift Über den gewalt­sa­men Wider­stand gegen das Böse gegrif­fen, und natür­lich ist in der neu­en Aus­ga­be ein Bei­trag über die Gedan­ken­füh­rung die­ses Buches ent­hal­ten. Denn CRISIS 6 beschäf­tigt sich mit dem The­ma “Krieg”.

Das Heft ist in mehr­fa­cher Hin­sicht inter­es­sant. Ich mag es, wenn nicht kom­men­tiert, son­dern zusam­men­ge­tra­gen wird, wenn man etwas lernt und erfährt.

So war mir unter ande­rem die Ver­tie­fung der Glau­bens­spal­tung in der Ukrai­ne nicht bewußt, obwohl ich frü­her in Dör­fern war, in denen neben der Ukrai­nisch-Ortho­do­xen Kir­che (UOK) auch eine grie­chisch-katho­li­sche Kir­che stand. Die­se vor allem west­ukrai­ni­sche Abspal­tung rührt aus dem Jahr 1596, in dem sich die­ser Teil der alten Kie­wer Rus dem pol­nisch-litaui­schen Bund unter­warf und kirch­lich Kon­stan­ti­no­pel ver­ließ und Rom aner­kann­te. Die Lit­ur­gie blieb orthodox.

2018 kam es zu einem zwei­ten Schis­ma, näm­lich zur Grün­dung eines eigen­stän­di­gen, vom rus­si­schen Patri­ar­chat unab­hän­gi­gen ortho­do­xen Kir­chen­tums der Ukrai­ne. Die bei Ruß­land ver­blie­be­ne Ortho­do­xie (die UOK) lös­te sich 2022 eben­falls von Mos­kau – ein tak­ti­scher Schritt, der jedoch nichts aus­trug: Seit Dezem­ber ist sie fak­tisch ver­bo­ten, bekam sofort die Nut­zungs­rech­te im welt­be­rühm­ten Kie­wer Höh­len­klos­ter ent­zo­gen und wird seit Juni auch aus den letz­ten, ihr ver­blie­be­nen Klau­sen und Kir­chen vertrieben.

Im CRI­SIS-Heft schrei­ben Mat­thi­as Matus­sek und die Jour­na­lis­tin Nina Byzan­ti­nia über die­se Vor­gän­ge. Letz­te­re spielt mit ihrem Ver­such, der katho­lisch-grie­chi­schen Kir­che eine inten­si­ve Kon­takt­schuld zum Drit­ten Reich nach­zu­wei­sen, mit dem Feu­er. Man muß nicht tief gra­ben, um Ver­stri­ckun­gen auf allen Sei­ten zu finden.

Dezi­diert ist der Bei­trag Ben­ja­min Kai­sers, der von Eng­land aus mit­ar­bei­tet und sei­nen Bei­trag “Der geis­ti­ge Kampf” mit den Sät­zen beginnt, daß ein tota­ler Krieg tobe, von dem jeder ein­zel­ne betrof­fen sei: Es sei ein Krieg, in dem die eine Sei­te macht­voll behaup­te, daß der Mensch sein kön­ne und sol­le wie Gott, wäh­rend die ande­re Sei­te in die­sem geis­ti­gen Kampf die hei­li­gen Zei­chen auf­ge­rich­tet hal­te oder wie­der auf­rich­te – und zwar zunächst und vor allem in sich selbst.

Sei­en noch der lan­ge, grund­le­gen­de Bei­trag des mir bis­her nicht bekann­ten Publi­zis­ten Wolf­gang Vasicek erwähnt, der den “Krieg als Ereig­nis” und sei­ne “Ein­gren­zung und Ent­gren­zung” sehr kennt­nis­reich und lek­tü­re­ge­sät­tigt behan­delt, außer­dem das Edi­to­ri­al, das die Tra­di­ti­on einer “Seg­nung der Waf­fen” aus­leuch­tet, und das Inter­view mit Ulri­ke Gué­rot, das von Redak­teu­rin Bei­le Ratut geführt wird.

CRISIS ver­folgt einen kon­se­quent christ­li­chen, vor allem ortho­do­xen und west-kri­ti­schen Kurs. Das ist im deutsch­spra­chi­gen Raum eine Lücke, und sie wird nun gefüllt. Heft 6 ist soeben erschie­nen, umfaßt 88 Sei­ten, kos­tet 12.50 € und kann hier bestellt wer­den. Auch ein Abon­ne­ment kann man dort zeichnen.

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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