Wer als Soldat auch nur ein paar Wochen bei widrigem Wetter und eisiger Temperatur im Freien verbringen mußte, weiß, wovon ich spreche.
Wir alle waren nie im Krieg. Aber in meinem Fall waren diese Wochen in der Winterkampfschule in Balderschwang zu absolvieren, und die Nächte, die um kurz nach fünf begannen, waren so eisig, daß wir in Bewegung blieben, um nicht zu erstarren. (Im Ohr Fetzen des Skrewdriver-Lieds “The Snow fell”). Ski mit Steigfellen, Wintertarn, willenlose Stunden, und das alles war nur Übung. Kein Tod, keine Todesangst, absehbares Ende, zwei Wochen eben.
Entlang der Front im Donbaß liegen sich die Soldaten im zweiten Kriegswinter gegenüber, und wer die Bilder von den Unterständen sieht, in denen die Soldaten kauern, muß mitbedenken, daß es nicht um Arbeitstage mit abendlichem Saunagang geht, wie auf den Winterbaustellen im Freien. Es geht um Tage, Wochen und Monate ohne Ende.
Aber zu diesem Leid, zu diesen Szenarien, die an die Stellungsschilderungen Ernst Jüngers aus dem I. Weltkrieg erinnern und an die Kriegsbriefe aus Stalingrad, gesellt sich ein Grauen, das vor über hundert und vor achtzig Jahren noch nicht über den Schlachtfeldern kreiste.
In einem Vortrag über Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451, den ich vor Wochen in Wien hielt, hatte ich es angedeutet: das Grauen, das einen packt, wenn der Mensch von der Maschine verfolgt und zur Strecke gebracht wird. Ich bezog mich auf den “mechanischen Hund” im Roman, dessen Injektionsnadel den Staatsfeind zur Strecke bringt, nachdem die unfehlbare Nase ihn aufgespürt hat.
Als Beispiel unserer Zeit führte ich die Jagd an, die im Ukraine-Krieg mit bewaffneten Drohnen auf Bodentruppen gemacht wird. Im Netz gebe es hunderte Videos, die ahnungslose oder verzweifelt davonkriechende Soldaten zeige, deren Bewegungen aus der Luft gefilmt und deren Leben mit einer wie in einem Computerspiel abgeworfenen Granate beendet werde.
Ich stieß heute, als ich den Frontverlauf einmal wieder nachvollziehen wollte, auf einen Telegramkanal, der entsetzliche Videos bereitstellt. Ich kann mich nur an wenige Wahrnehmungsmomente in meinem Leben erinnern, in denen ich innerlich vor Entsetzen so erstarrte wie heute Abend.
Das eine Mal liegt über vierzig Jahre zurück – als mir nämlich ein Antikriegsbuch aus dem Bestand meines Großvaters in die Hände fiel. In diesem Buch waren Gesichter Kriegsversehrter aus dem I. Weltkrieg abgebildet, durch die Geschosse gefahren waren und die aus großen Augen ohne Nase und Kiefer und aus Mündern ohne Stirn, aber mit gräßlichen Zähnen bestanden. Die Erschütterung wirkte über Tage.
Das zweite Mal ergriff mich diese Erstarrung, als ich begann, in der Dokumentation zu lesen, die das deutsche Bundesarchiv mit Augenzeugenberichten über die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten gefüllt hatte. Ich schaffte den Band über Böhmen zur Hälfte, die anderen Teile stehen unangetastet im Bücherschrank. Ausweglosigkeit und Leid sind so entsetzlich, daß jede weitere Lektüre zumindest mein Gemüt auf lebensverändernde Weise berühren würde.
Vielleicht ein Drittes: die Hebung eines Massengrabs in Bosnien, der ich als junger Offizier beiwohnte; und ein Viertes: der von einem Mob totgeprügelte Mann in einer Kleinstadt im Süden Kameruns, dem man Hexerei nachgesagt hatte. Als ich dem Geschrei nachging, anlangte und ihn als den Anlaß der Zusammenrottung zwischen den Gaffern erspähte, tasteten er noch mit einem verrenkten Finger nach etwas im nassen Lehm, bevor ihm ein grober Betonklotz auf den Kopf gerollt wurde.
Und heute: Das Filmchen einer ukrainischen Drohneneinheit, das mit einer rührseligen russischen Melodie anhebt und dann in einen Gitarren-Trash umkippt, während man von oben einzelne russische Soldaten heranzoomt, die bereits verwundet und hilflos in einem zersplitterten Waldstück liegen, unter Ästen, mit offenen Brüchen, in sich gekrümmt, embryonal, bedürftig, schutzlos.
Während die Drohne zoomt, fallen Granaten gezielt auf und dicht neben diese Männer. Die Genfer Konvention ist einen Dreck wert, und wenn im Staatsfunk von Lieferschwierigkeiten für Drohnenbauteile an der polnisch-ukrainischen Grenze die Rede ist, dann sprechen wir über Ersatzteile für Kampfmittel, aus denen solche Filme entstehen.
Der letzte russische Soldat, der erledigt wird, liegt verwundet unter Geäst. Die Drohne läßt ihre Granate dicht vor seinen Rumpf fallen. Dann zoomt die Kamera auf eine entsetzliche Wunde und auf einen stummen Schrei und eine tastende Hand, die versucht, das zerfetzte Auge, den abgerissenen Kiefer und den Knochenbrei dorthin zurückzuschieben, wo einmal ein Gesicht war, rundlich, schon etwas älter.
Das heile Auge sucht den Himmel ab, dann stirbt dieser Mensch.
Ich möchte, daß sich jeder martialisch gestimmte junge Mann dieses Video anschaut, jeder Kriegstheoretiker auch und natürlich jede grüne Kriegstreiberseele, die von einer von ihr so nicht vorgesehenen Kriegsmüdigkeit der Deutschen faselt und weitere “Anstrengungen” fordert.
(Man möchte dort Zelte errichten und mit großen weißen Bannern und roten Kreuzen in solche Wälder gehen, um jeden, der nicht mehr kann, ins Warme zu holen und ins Leben zu retten. Ich bete nun den großen orthodoxen Abendhymnos für beide Seiten – wohl auch für mich, um die Erstarrung zu lösen.)
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(Ergänzungen, Fundstücke und kritische Anmerkungen richten Sie bitte an [email protected]. Ich werde ausbreiten, was sich ansammelt.)
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Dienstag, 28. November
Randnotiz 1: Der schwule türkischstämmige Exmoslem Ali Utlu und die jesidische Gattin des AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Sichert, Ronai Chaker, behaupten seit Tagen auf allen ihnen zur Verfügung stehenden Kanälen, daß wir “Schnellrodaer” nur heterosexuelle, nationalistische Deutsche ohne Migrationshintergrund in der AfD sehen wollten und alle anderen Anwärter zu verhindern wüßten.
An dieser Unterstellung stimmt vor allem eines nicht: Keiner von uns ist Parteimitglied und dort in Lohn und Brot, wo es um die Aufnahme neuer Mitglieder geht. Keiner von uns kann etwas “verhindern”.
Herr Utlu veröffentlichte zuletzt eine Karikatur, auf der ein ihn würgendes Schnellroda seinen Traum von der AfD-Mitgliedschaft zerplatzen läßt. Er will nun eine eigene Internet-Seite gründen, um auf ihr den angeblichen Haß aus unserer Richtung gegen ihn zu dokumentieren.
Frau Chaker-Sichert wiederum schrieb gestern über einen unserer Autoren:
Lichtmesz ist für mich im übrigen ein lupenreiner Antisemit, denn er hat sich in einer Diskussion mit mir, vor Jahren schon hinter die Hamas gestellt und deren Vorgehen befürwortet.
Ich riet Lichtmesz ab, juristisch vorzugehen. Man bietet Bühnen und verliert Zeit.
Aber über diesen Haß hätten wir sehr gern ein sehr gründliches Gespräch mit sowohl Frau Chaker-Sichert als auch Herrn Utlu geführt, um zu ergründen, wie ernst es ihnen mit der deutschen Sache sei und warum sie davon ausgingen, daß wir jeden, der es wirklich ernst meine, auf seine Herkunft abklopften und in sein Schlafzimmer spähten, um dann den Daumen zu senken oder zu heben.
Ich habe Frau Chaker-Sichert vor einigen Wochen und Herrn Utlu vor fünf Tagen Gesprächsanfragen zukommen lassen und beiden jeweils freigestellt, ob solch ein Gespräch öffentlich oder im stillen Kämmerlein geführt werden solle. Im Falle von Frau Chaker erfolgte die Anfrage auch über ihren Gatten.
Wie stets ging es mir, uns darum, aus dem Schwarz-Weiß des Gezeters die Abschattierung der politischen Realität abzuleiten. Weder Herr Utlu noch Frau Chaker-Sichert haben geantwortet.
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Randnotiz 2: Der Jungeuropa-Verlag hat heute die Fortsetzung des skurrilen Prozesses um seinen Namen erlebt. Der Europa Verlag klagte vor einem Jahr, weil er Verwechslungsgefahr und damit einen Vorteil für die Jungeuropäer wähnte, denen das hunderte, wenn nicht tausende Leser quasi ins Fangnetz spülen würde.
Schon in erster Instanz entschieden die Richter, daß von einer Verwechslungsgefahr keine Rede sein könne. Diese Einschätzung wurde heute bestätigt, die Urteilsverkündung ist am 15. Dezember.
Dem Jungeuropa-Verlag zu diesem juristischen Erfolg zu gratulieren, wäre so, als klopfte man jemandem auf die Schulter, der die Zigarette richtig herum im Mundwinkel hat … (Na klar, Jungs: Glückwunsch!)
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Freitag, 24. November
Der ungarische Staatspräsident Viktor Orbán hat zum 90. Geburtstag der Schweizer Weltwoche den Festvortrag gehalten. Ich empfehle ihn, denn Orbán spricht klar und schnörkellos und kommt von der Kritik an Europa und am westlichen Modell her auf den politischen Ansatz seines eigenen Landes zu sprechen.
Die Kernaussagen der Bestandsaufnahme lauten: Europa habe seine strategische Souveränität seit langem eingebüßt; in Brüssel werde keine europäische Politik gemacht, sondern die Herrschaft der Bürokraten über die Politik vorgeführt; die hinter Demokratiedurchsetzung und Staatsbefreiung verborgene US-Außenpolitik werde mittlerweile weltweit als das durchschaut, was sie sei: knallharte Interessenspolitik; Europa und namentlich Deutschland werde als Vasall eines Hegemons auf Abstieg verarmen, wenn es sich nicht befreie.
Gegenmaßnahmen skizziert Orbán als Konzept der Selbstrettung der Nation. Das halte ich für entscheidend: Orbán, der mit dem feinen Witz des geübten Redners und an Goldwaagen gewöhnten Politikers spricht, ist grundehrlich, wenn er das Gewicht Ungarns als zu leicht dafür beschreibt, in Europa aufzutrumpfen.
Orbán stellt kurz das “Work-First-Modell” vor, das nachweislich als unattraktiv für Einwanderer, also vor allem: für Asylbewerber gilt. Staatliche Absicherung gebe es nur für diejenigen, die arbeiteten. Er bezeichnet dieses Modell sogar als “kalt” im Vergleich zu dem, was etwa Deutschland macht. Das ist es: auf die Robustheit der eigenen Leute bauen, um die Beutemacher von außen abzuwehren.
Außerdem streicht Orbán die ungarische Familienpolitik heraus, von der er – wiederum sehr ehrlich – sagt, daß sie noch keine demographische Wende herbeigeführt habe, aber immerhin das für Familien attraktivste Modell Europas sei, bereits Früchte trage und damit die Chance für eine Stabilisierung des Volks aus eigener Kraft biete.
Ich will das noch einmal betonen: Analyse auf europäischer, Maßnahmen auf nationaler Ebene. Wer nachlesen möchte, wie Ungarn dieses politische Projekt zivilgesellschaftlich abzusichern versucht, kann zum Bändchen Nationaler Block von Márton Békés greifen. Orbans Rede gibt es hier zu sehen.
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Im Verlag ist das Weihnachtsgeschäft angelaufen. (Wir berechnen bis Ende des Jahres 1.50 € für Sendungen im Inland und liefern ab 70 € portofrei.) Es ist Jahr für Jahr schön zu sehen, wie das Buch doch Teil der Geschenkkultur bleibt, obwohl ihm vom mobilen Geschnipsel und Geglotze so sehr zugesetzt wird.
Bei uns rechtzeitig eingetroffen sind Nachdrucke der Essay-Reihe Kaplaken. Ich liste die Nachdrucke mal auf, es sind Sammlerstücke darunter und länger vergriffenes. 65 Bändchen sind insgesamt lieferbar, und es gibt immer wieder Leser, die uns gerade erst entdeckt haben, sozusagen aus dem Mainstream herüberstolpernd, und die Gesamtabnahme zeichnen. (Recht haben sie! Die Reihe Kaplaken ist doch so etwas wie das Kernholz der Szene …).
Hier also das, was nun wieder erhältlich ist:
Bd 79 – Stefan Scheil: Der deutsche Donner
Bd 67 – Armin Mohler: Der faschistische Stil
Bd 70 – Sophie Liebnitz: Antiordnung
Bd 53 – Thor v. Waldstein: Macht und Öffentlichkeit
Bd 47 – Martin Sellner, Walter Spatz: Gelassen in den Widerstand
Bd 41 – Jean Raspail: Der letzte Franzose
Bd 29 – Henry de Montherlant: Nutzloses Dienen
Bd 15 – Karlheinz Weißmann: Post-Demokratie
Hier sind alle 65 lieferbaren Bändchen aufgelistet - so viele waren es noch nie. Und: Stefan Scheils Viererpaket “II. Weltkrieg” ist auch wieder vollständig lieferbar.
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Samstag, 18. November
Also: Wie war das gestern vor und auf der Rampe (Treppe) der Universität Wien? Wir mußten uns prügeln, dann gab’s die Kundgebung und für den Abzug wurde eigens für uns eine Straßenbahn requiriert, eine “Bim”. Irgendwie und immer wieder irre, das Ganze. Dabei ging es doch bloß um ein Buch.
Die Versuchsanordnung habe ich vor zwei Wochen beschrieben: Der Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) hatte zu einem öffentlichen Vortrag in einen der Hörsäle der Universität eingeladen. Ich sollte über den Roman Fahrenheit 451 von Ray Bradbury sprechen. Das Recht zu solchen Veranstaltungen hat der RFS, aber es wurde ihm verwehrt, und eine juristische Durchsetzung mißlang.
Die bisher noch nicht öffentlich agierende Gruppe namens “Aktion 451” meldete daraufhin eine Kundgebung auf der Treppe zum Haupteingang der Universität an. Kositza und ich kamen mit ein paar Leuten kurz vor drei an – da war auf beiden Seiten schon Antifa versammelt, und als sie uns sahen, begann’s zu summen wie in einem Wespennest.
Beim Überqueren der Straße zur Treppe hin wurden wir angegriffen, sehr plötzlich und massiv. Das letzte Mal, daß mir so etwas passierte, ist fast zehn Jahre her. Damals waren wir auf dem Weg zum Leipziger Ableger von PEGIDA. Die Polizei hatte den Opernplatz abgeriegelt und uns nur schmale Durchgänge eingeräumt, die mitten durch Pulks vermummter Antifa führten. Man wurde mit Schlägen eingedeckt, während man durchlief.
Gestern war es direkter, und gut ist es, mit den richtigen Jungs unterwegs zu sein, wenn so etwas passiert. Die Polizei war völlig überrascht, aber bis sie eingriff, hatten wir uns schon Luft verschafft, nichts abgekriegt, aber ausgeteilt. (Schön zu sehen, wie sich junge Männer in Dreschflegel verwandeln, wenn es sein muß.)
Danach die Kundgebung war gut organisiert, ich sagte auch ein paar Worte, kaum zu Fahrenheit 451, mehr zu den Umständen. Ich verstehe ja nicht, wie die Universität und die Linke an sich immer wieder so blöd sein können, den Wirbel und die Aufmerksamkeit durch ihren Hygienefimmel erst zu erzeugen.
Denn: Fahrenheit 451 ist kein rechtes Buch. Es ist auch kein linkes Buch. Es ist kulturkritisch, steht in der Tradition hilfloser Technik- und Gesellschaftskritik und kann vereinnahmt und als Chiffre besetzt werden. Das haben wir zwei Jahrzehnte lang gemacht, aber erst seit gestern ist es ganz klar, daß die Ziffer 451 und Feuerwehrmann Montag als Gestalt, als Typ, nun uns gehören.
Wäre ich im Besitz der Veranstaltungsmacht, hätte ich mich zugelassen und ein Podium gefordert, um mir die Deutungshoheit über Fahrenheit 451 zu entreißen. Aber der Schatten ist zu breit, die Linke und die Mitte können nicht mehr über ihn springen.
Den Vortrag hielt ich dann später in den Räumen der Österreichischen Landsmannschaft. Er ist aufgezeichnet worden, wir veröffentlichen ihn bald. Das wird diejenigen nicht beeindrucken, denen egal ist, worüber wir reden, Hauptsache wir reden nicht. Aber es wird die Vereinnahmung verstärken und der Aktion 451 ein wenig Theorie liefern.
Der Abzug von der Treppe und die Verlegung zur Landsmannschaft war dann noch ein Spektakel. Die Polizei räumte das akademische Proletariat beiseite, damit wir zur Straßenbahn kämen. Die wurde extra aufgehalten, und während wir durch die Stadt zuppelten, eskortierte die Polizei im Laufschritt. Surreal, so etwas, aber in der Situation ganz logisch und plastisch und absurd. Aber auch: ein Erlebnis.
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Dienstag, 14. November
Heute kommt Band 5 der Antaios-Romanreihe aus dem Druck. Er ist Abonnenten der Gesamtreihe vorbehalten, das war von vornherein abgemacht, davon rücken wir nicht ab.
Die ersten vier Bände der Reihe sind sehr gut aufgenommen worden, kaum kritisch, oft begeistert. Jedenfalls hat sich bestätigt, was schon frühere belletristische und exklusive Verlagsprojekte einbrachten (Reihe Mäander!): Es schreiben ganz andere Leser ihre Eindrücke und Fragen auf als diejenigen, die im Blog kommentieren oder auf unser politisches Programm reagieren. Es ist, als stieße man mit solchen Büchern auf einen Kern der Leserschaft vor, der zu den Stillen im Lande gehört (wie Jochen Klepper das einmal ausdrückte).
Autor und Titel des fünften Bandes verraten wir nicht. Das ist eine der sprichwörtlichen Katzen im Sack, bloß kann ich sagen, daß es bei uns keine triefnasigen und schieläugigen Tierchen gibt. Es gehört schlicht zu den Verlegerfreuden, um das Vertrauen der Leser auf das Verlegerhändchen zu wissen.
Die berührendsten Briefe erhielt ich zu Hasemanns Gefangenschaftsroman Nasses Brot. Die Lektüre ist zäh wie die endlos langsam verstreichende Zeit in einem Viehwagon auf der Fahrt nach Osten, auf einer klirrend kalten Baustelle in der Steppe und im Durchgangslager auf dem Weg in die Heimat, auf dem noch an den letzten Stationen ohne Begründung Gefangene aus dem Zug gefischt und zurück ins Endlose geschickt werden.
Wir haben von den Gesamtabnahmen der Roman-Reihe noch etwa 100 Pakete zu vergeben. Im Weihnachtsprospekt, der nebenan gerade versandfertig gemacht wird, sind diese Pakete noch einmal und abschließend im Angebot.
Hier kann man eines davon bestellen.
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Zweimal Björn Höcke, einmal er selbst, das andere Mal diejenigen über ihn, die ihn nicht kennen, aber so tun, als wüßten sie Bescheid.
Vorab aber Folgendes: Ich gehöre zu denen, die Höcke am besten kennen. Wir haben über unser politisches Denken, die Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten und die Kritik an Hinterzimmer, Eskapismus, politischer Melancholie und substanzloser Karriereabsicht bereits gesprochen und gestritten, als wir alle noch in kleinen Zirkeln unter der großen Bleidecke saßen und Dehnungsübungen machten.
Es war im Oktober 2013, als ich mit einigen meiner Kinder an den Fuß des Hansteins fuhr, um am Auftakt zur 100-Jahr-Feier des damals richtungsweisenden jugend- und reformbewegten Meißnertreffens teilzunehmen. Die Nacht verbrachte ich mit der Jüngsten, die mir beim Wandern noch auf den Schultern saß, bei Höcke in Bornhagen.
Als es im Hause ruhig war, setzten wir uns zum Bier zusammen, um über die noch sehr junge Partei und über Höckes Engagement darin zu sprechen, das ihn bereits an die Landesspitze Thüringens gebracht hatte. Er war voller Optimismus und berichtete von Versammlungen, Zustrom und ersten Richtungsentscheidungen.
Ich war skeptisch, fast spöttisch, denn unser beider Erfahrung mit den vielen Kleinst- und Splitterparteien von rechts war ernüchternd. Wir hatten deren Gehversuche schriftlich und in Gesprächen beschrieben und analysiert, uns aber nie beteiligt. “Die Freiheit” war zuletzt schon als junges Pflänzchen verdorrt, und wir streiften sie nur, weil die Empfehlung ihrer Bundesspitze, der AfD beizutreten, entweder kurz bevorstand oder schon erfolgt war (ich weiß es nicht mehr).
Spät in der Nacht jedenfalls hatte mich Höcke mit seiner Zuversicht doch unsicher gemacht. Im Unterschied zu allen anderen Parteigründungen war die AfD nicht von rechts, sondern aus der enttäuschten und alarmierten Mitte der CDU heraus initiiert worden. Nur ein einziges Mal hatte es etwas Derartiges bisher gegeben: Der Hamburger Richter Ronald Schill war auf Anhieb mit einer eigenen Liste in die Bürgerschaft eingezogen, weil auch er den Duft desjenigen verströmte, dessen politische Herkunft kein abgebrannter Rand war.
Höcke beendete damals unser Gespräch mit den Worten, daß wir mal sehen müßten, inwieweit die Herrschaften aus der Mitte für genuin rechte Themen offen wären. (Der Rest ist bekannt – samt Bernd Luckes politischem Salto Mortale.)
Wenn ich darüber nachdenke, wie sehr das liberalkonservative AfD-Lager uns und vor allem Höcke die Schuld zuschob, daß man die für ihren politischen Mut bekannte bürgerliche Mitte verloren und eines der hoffnungsvollsten Parteiprojekte aller Zeiten an den Rand des Abgrunds und darüber hinaus geschoben hätte!
Höcke gehörte zu denjenigen, die sich unter dem Eindruck dieser Kritik aus den vermeintlich eigenen Reihen nicht zu Landsknechtsnaturen wandelten und sengend durch die Partei zogen. (Solche Kandidaten gab es.) Was seine parteiinternen Gegner unterschätzten und bis heute unterschätzen, ist die Macht der Begegnung und die Überzeugungskraft der Persönlichkeit.
Ich habe Parteiveranstaltungen erlebt, die feilschenden Basaren glichen, bis zur Rücksichtslosigkeit laut und geschwätzig, obwohl vorn einer am Pult stand und sprach – und die zu Räumen wurden, in denen man noch den Letzten zur Ruhe zischte, weil Höcke ans Mikrofon trat.
Ich kenne etliche Parteileute, die, aufgeladen nicht nur von der Lückenpresse, sondern von den eigenen Leuten, in Höcke den dumpfen, rücksichtslosen Sprücheklopfer sahen – und im Gespräch ihr Feindbild nicht fanden, sondern in einer Mischung aus Verwirrung und Erleichterung kein schlechtes Wort mehr über diesen Mann hören wollten, sondern seinen Weg akzeptierten.
Warum notiere ich das alles noch einmal, wo ich es schon hier und da beschrieben und in ungezählten Gesprächen innerhalb und außerhalb der AfD erzählt habe? Der Anlaß ist bald zwei Wochen alt. Ich hörte beim Holzschichten im Kontrafunk die Sonntagsrunde mit Burkhard Müller-Ulrich und seinen Gästen, und es ging um Höcke. (Hier nachhören.)
Zu Gast war erstens Vera Lengsfeld. Sie lag mir schon vor sieben Jahren, als ich sie in Sondershausen besuchte, damit in den Ohren, daß in Thüringen eine feine Regierung aus CDU und AfD sofort möglich sei, wenn Höcke zurückträte und den Weg frei machte für einen Konservativliberalen in der AfD. Aber schon damals begriff sie nicht, daß sich inmitten der Lawine aus Krisen, Dysfunktionalität, Überfremdung und Vasallenglück die feinsinnige Unterscheidung zwischen der Volksfront von Judäa und der Judäischen Volksfront als irrelevant erweisen müsse, und zwar mit jedem Tag mehr. Sie begriffs wirklich nicht, das habe ich jetzt gehört, denn im Kontrafunk wiederholte sie ihren alten Sermon, obwohl die AfD auch rund um Sondershausen bei über 30 Prozent steht.
Dann Ingo Langner, fleischgewordene BRD, bis weit in die 2000er Jahre mitten im Kulturbetrieb (dafür muß man sich ja fast schon verantworten, finde ich) und nun neuer Chefredakteur bei CATO, dem Magazin fürs Wartezimmer. Er äußerte sich am schäbigsten über Höcke und gab dabei zu, diesen Mann erstens gar nicht persönlich zu kennen, zweitens dessen Gesprächsband Nie zweimal in denselben Fluß gar nicht gelesen, sondern drittens sein Wissen über Höcke einer Rezension dieses Buches aus der Feder Dieter Steins entnommen zu haben. Das nenne ich Augenhöhe!
Peter J. Brenner zuletzt: Autor unter anderem bei Tumult, bekannt durch das Abfassen von Offenen Briefen an Redaktionen, deren Weg er als Abonnent oder Mitglied nicht mehr teilen wollte, namentlich FAZ (2020) und wbg (2019). Er sieht Höcke “die zwölf Jahre” bewirtschaften, kanns aber nicht belegen, und in der Sonntagsrunde gab er seinem unguten Gefühl darüber Ausdruck.
Burkhard Müller-Ulrich war irgendwie konsterniert. Dieses Gerede vom Hörensagen her und im Dialekt der WerteUnion – das gefiel ihm nicht. Aber diese Leute finden ja Gehör.
Jedoch: Ich will jetzt mal behaupten, daß die kaum wahrnehmbare Argumentationslinie von den Dreien kaum zu halten sein wird. Es wird sogar ganz schön schwierig, wenn ich jetzt mal Höcke zitiere, ohne ihn gefragt zu haben, ob ich das darf. Aber es paßt halt so gut, und er äußerte es neulich, als wir endlich wieder einmal ein paar Stunden wandern konnten. “Götz”, sagte er, “das ist alles nicht schön, aber wir kennen das ja, oder? Und jeder will sein Süppchen kochen. Aber am Ende gehören die eben doch alle zu uns. Und wir brauchen jeden, wirklich jeden, so groß ist die Aufgabe.”
So ist es, und wer das begriffen hat, weiß, wie es klingt, wenn man Engstirnigen und Korinthenkackern den Maßstab erklärt: Unser Volk und unsere Demokratie müssen gerettet werden, und das ist keine Butterfahrt.
Deshalb, und weil es wichtig ist, zu sehen, wie einer antwortet, wenn er mal nachdenken darf, bevor er antworten muß, empfehle ich als zweites das große Interview, das der sehr gut vorbereitete Martin Müller-Mertens für Auf1 mit Höcke geführt hat. Hier ist es.
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(Ergänzungen, Fundstücke und kritische Anmerkungen richten Sie bitte an [email protected]. Ich werde ausbreiten, was sich ansammelt. Jedoch geht es nicht um übliches Kommentariat, sondern um Fortschreibung. Wir werden sehen, wie das klappt.)
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Montag, 6. November
Der Druckausgabe der Sezession liegt in unregelmäßigen Abständen das Literaturheft Phonophor bei. Es enthält Kurzprosa aus der Leserschaft. Wir riefen Anfang vergangenen Jahres erstmals zur Beteiligung auf. Idee und Name gehen auf eine Initiative des Sezession-Autors Dirk Alt zurück: Der “Phonophor” ist eine Art Smartphone. Er taucht in Ernst Jüngers Roman Eumeswil bereits auf und wird indifferent als Statussymbol, insgesamt aber als problematisch beschrieben.
Was mich freut, ist, daß unser Phonophor, Ausgabe 4, nun an zwei unterschiedlichen Stellen ausführlich gewürdigt worden ist. Die Publizistin Beate Broßmann hat für das Blog der Zeitschrift Tumult rezensiert, Philip Stein und Volker Zierke besprechen Ausgabe 4 im Jungeuropa-Podcast.
Auch Ellen Kositza und ich haben den Phonophor erwähnt, als wir die 116. Sezession in einem kurzen Video vorstellten. Dabei ist neben meiner Projekten grundsätzlich entgegengebrachten Skepsis die Freude über die Kontinuität und Qualität dieser Beilage zu kurz gekommen. Leser fragten, ob ich den Phonophor wieder einstellen wolle. Aber nein, im Gegenteil! Wie schon oft, sind wir auch auf diesem Feld Pioniere und machen, was fehlte.
Um ein weiteres Mißverständnis auszuräumen: Der 4. Phonophor wird jeder 116. Sezession beigelegt, egal ob im Abonnement oder als Einzelheft erworben – jedoch nur, solange der Vorrat reicht. (Er ist auf 25 Hefte geschrumpft.) Bestellen kann man hier.
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Der Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) aus Wien hat mich zu einem Vortrag an die Universität eingeladen. Man hat das Recht auf öffentliche Veranstaltungen in Hörsälen, wenn man im Hochschulparlament vertreten ist, und dieses Recht will der RFS am 17. November wahrnehmen. Zwar hat die Universitätsleitung den Vertrag für diese Veranstaltung umgehend gekündigt, nachdem bekannt wurde, daß ich dort vortragen solle. Aber gegen diese Kündigung wird nun geklagt.
Ich werde am 17. auf jeden Fall pünktlich an der Universität sein und den vereinbarten Vortrag über das Buch Fahrenheit 451 von Ray Bradbury in der Tasche haben. Feuerwehrmann Montag ist eine unserer Ikonen, denn er steht fast allein neben der belämmerten Masse und gegen ihre Dompteure, die das Lesen verboten und fast alle Bücher verbrannt haben. Er steht aber nicht ganz allein, denn man erkennt einander am Hunger auf andere Kost als die, die durch die Gitterstäbe gereicht wird. Man tastet einander ab, man faßt Vertrauen, man sieht eine Lebenstür.
Unsere Szene hat für Dystopien viel übrig, sie ist hellhörig, hat das geschulte Gehör derer, die aufgewacht sind und die Schritte der Wärter studieren. Legen wir uns wieder hin oder klopfen wir die Wände ab? Lesen wir, daß es anders sein könnte oder liefern wir die Bücher an diejenigen ab, die selbst die Erinnerung an sie noch tilgen möchten? Begreifen wir unser Leben als goldenen Käfig oder sehen wir die Stäbe nicht mehr?
Es gibt unter Umständen kein Recht auf den anderen Ton an der Universität, so naiv bin ich nicht. Aber es wird dringend Zeit für einen anderen Ton, und wir erheben Anspruch darauf. Wenn es also die Möglichkeit gibt, sich Zutritt zu verschaffen und Platz zu nehmen, dann sollten wir sie ergreifen.
Dabei sind sie bloß Mimosen und haben sich Hygienevorschriften unterworfen, die das Leben und Lesen zu einer aseptischen Sache machen.
Wir hingegen müssen nicht voreinander rechtfertigen, mit wem wir sprechen, was wir lesen, wem wir zuhören und von wem wir lernen wollen. Noch nie mußte ich zu jemandem sagen, er solle ein Gespräch, das wir führten, so behandeln, als habe es nie stattgefunden.
Aber wie oft schon sagten mir die verängstigten, verzweifelten, ratlosen, zynischen, vor allem aber vermeintlichen Gegner, mit denen ich mich traf, um Rede und Antwort zu stehen, daß das soziale Höllentor geöffnet würde, käme ans Licht, mit wem sie sich gerade austauschten.
Denen, die nun die Tür zum Hörsaal vernageln wollen, muß man die Angst nehmen. Leute: Es handelt sich um einen Vortrag. Es wird um einen der Klassiker über die Selbstermächtigung gehen, nach Büchern zu greifen, sie nicht zu verbrennen, sondern zu retten und ihren Inhalt so zu verinnerlichen, als sei man selbst dieses Buch.
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Dienstag, 31. Oktober
Zum ersten Mal in meinem Leben auf einer Galopp-Rennbahn: Halle/Saale, Volksfeststimmung, Gulasch und Bier, sieben Rennen. Was faszinierte, wie bei Jägern: die ganz eigene Sprache, die in den Ankündigungen und Siegerinterviews eben nicht gepflegt, sondern einfach verwendet wurde.
Da gaben Pferde ihr Lebensdebüt, als begänne das Leben erst, wenn man die Rennbahn betritt. Von Ausgleichsrennen und Handicaps war die Rede, und beides hat mit Gewichten zu tun, die den Pferden angehängt wurden, damit auch andere eine Chance bekämen. Ein Mann knurrte was von Blendern, die seine Dreierwette versaut hätten. Dabei hing der Gaul samt seinem Jockey mit den gestreiften Farben bloß im Lot und konnte nicht vorbei.
Einige Besucher machten auf Stil, also Tweed und Karo und Frauen mit Sonntagsreitermode plus hohen Stiefeln und Sektglas. An den Wettkassen endlose Schlangen, und ein paar Männer mit Feldstecher und Notizblöcken setzten nicht aus Jux. Ich sprach einen an, aber das Mißtrauen war grob.
An den Biertischen und auf der Tribüne lauschte ich den Gesprächen: nicht ein politisches Wort. Aber ein paar Handschläge.
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Gespräch mit einem Sicherheitsexperten aus Österreich. Er war für die UN-Friedenstruppe auf den Golanhöhen an der syrischen Grenze und hat den Abzug der österreichischen Einheiten von dort im Jahr 2013 mitgemacht. Er ist mit einer Israelin verheiratet, lebt in Wien und ist oft in Tel Aviv – Sicherheitsberatung für Import und Export.
Wir trafen uns in Leipzig. Seine Antwort auf meine Frage, ob Israel überrascht worden sei am 7. Oktober, verblüffte mich in ihrer Direktheit. Er sagte erstens, es sei völlig ausgeschlossen, daß Israel im Vorfeld keine Kenntnis von diesem Angriff gehabt habe, also wirklich völlig ausgeschlossen. Man habe es aus verschiedenen Gründen geschehen lassen.
Da sind innenpolitische Gründe zum einen, also Ablenkung von innerisraelischer Spannung, und zum anderen außenpolitische Gründe, nämlich die Legitimation für einen manifesten Gegenschlag, für den es wieder einmal an der Zeit gewesen sei.
Jedoch, zweitens: Israel habe die eigene Grenzsicherung überschätzt und sei von der Wucht und der Brutalität der Angreifer am Boden überrumpelt worden. Man habe falsch kalkuliert, weil man nur wenige habe einweihen können, also im Grunde kaum jemanden von denen, die den ersten Wellenbrecher zu bilden gehabt hätten.
Die Lage sei, drittens, militärisch für Israel gut, aber psychologisch schlecht. Militärisch: Er selbst kenne keine Armee, die am Formalen weniger interessiert und zugleich so konsequent auf Effektivität ausgerichtet sei. Ich vermutete, daß dies der Zustand sei, wenn Waffe und Bereitschaft nicht hinter Kasernenmauern abgetrennt, sondern lebensgegenwärtig seien. Er bestätigte und fügte hinzu, daß aus diesem Grund die Hisbollah nicht wirklich eingreife: Man würde nicht das wenige an guten Waffen und Leuten opfern, das besser sei als die Hamas, aber immer noch um Welten schlechter als Israel.
Problematisch sei der Häuserkampf, das Aufräumen in den kilometerlangen Katakomben unter dem Schutt, den die Luftwaffe produziert habe. Eine alte Lehre aus dem 1. Weltkrieg schon: daß die Stellung unter einem einmal in sich zusammengebrochenen Haus sicherer sei als alles andere. Solche Höhlensysteme auszuräumen, das bedeute: Einer ist vorneweg, da gäbe es keine Alternative, und wenn der nicht mehr sei, dann eben der zweite, dann der dritte. Selbst die wirklich guten Einheiten kämen dabei an ihre Belastungsgrenze.
Psychologisch sei Israel trotz überwältigender Lobbyarbeit bereits im Hintertreffen: Die Hamas spiele das Spiel mit den Geiseln sehr geschickt, und die mehr als abschätzigen und rücksichtslosen Äußerungen höchstrangiger israelischer Politiker und Militärangehöriger seien ein mediales Desaster. Aber das sei nicht einzuhegen: Das sei ehrlich so gemeint, formal schnoddrig und im Front-Slang derer, die wissen, was sie können, wer der Feind ist und was dieser Feind täte, wenn er nur könnte.
Aber viertens: 350 000 eingezogene, von der Arbeit abgezogene Reservisten, zigtausend aus dem Land geflüchtete Arbeitskräfte, und eben keine Lehmhütten plus drei Ziegen, sondern eine moderne Dienstleistungsgesellschaft. Jeder Tag ist ein ökonomisches Desaster für Israel, jeder Verlust reißt eine gravierende Lücke, nicht nur menschlich.
Eine Lösung sei nicht in Sicht. Die Sanduhr werde umgedreht, wie in der Sauna. Irgendwann, vielleicht in sieben, vielleicht in zehn Jahren riesele dann das letzte Körnchen, und dann krache es wieder. Aber nun sei man ja erst einmal mittendrin.
Solche Gespräche – was sind sie? Bestätigungen des Geahnten, ergänzte Aspekte, Einübung in eine fremde Mentalität. Vor allem: Berichte aus der Ferne, zu denen man sich nicht verhalten muß. Wie ich schon schrieb (und der Sicherheitsberater, der meinen Beitrag gelesen hatte, bestätigte diese Sichtweise fast schon emotional): Israel braucht uns nicht.
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Samstag , 29. Oktober
1999 erreichte der damalige Außenminister Joschka Fischer auf dem Sonderparteitag der Grünen im Mai die Zustimmung seiner Partei zum Angriff der Nato auf Serbien und zum Einmarsch in den Kosovo. Er argumentierte damals auf der metapolitisch jahrzehntelang vorbereiteten Grundlage, daß es nie wieder zu Faschismus und zu Auschwitz kommen dürfe.
Metapolitische Vorbereitung bedeutete in diesem Fall, daß diese Begriffe losgelöst von ihrer historischen Einbettung in eine Epoche zu Chiffren geworden waren. Ihre Wirkung beruhte nicht auf Nachvollziehbarkeit eines statthaften Vergleichs, sondern auf schockierender Überwältigung und der Nichthinterfragbarkeit eines Glaubenssatzes.
Nur von der zivilreligiösen Aufladung solcher kollektiver deutscher Schuld her ist zu erklären, wie der dissidente Journalist Julian Reichelt mit dem Verweis auf die Bombardierung deutscher Städte die Bombardierung des Gaza-Streifens durch Israel rechtfertigt. Am 25. Oktober kommentierte Reichelt im Sender NIUS:
Briten und Amerikaner hielten es für geboten und moralisch vertretbar, den Willen der deutschen Zivilbevölkerung durch Flächenbombardements von Städten zu brechen. Sie nahmen den Tod hunderttausender Zivilisten nicht nur in Kauf, sie verursachten ihn ganz bewusst, weil sie der (richtigen) Überzeugung waren, dass es ein befreites und friedliches Europa nur geben könne, wenn Deutschland in jeder Hinsicht gebrochen wäre.
Reichelt steht mit dieser Argumentation nicht nur jenseits roter Linien, die das Kriegsvölkerrecht markiert (wobei gleich angemerkt sei, daß sich derjenige, der kann, was er will, um dieses Recht noch nie groß scherte); er übernahm diesen Offenbarungseid vom ehemaligen israelischen Premierminister Naftali Bennett, der bereits am 13. Oktober die Frage eines Journalisten nach zivilen Opfern im Gaza-Streifen mit den Worten zurückwies:
Fragen Sie mich ernsthaft weiter nach palästinensischen Zivilisten? Haben Sie nicht gesehen, was los ist? Wir bekämpfen Nazis.
Und weiter:
Als Großbritannien im Zweiten Weltkrieg die Nazis bekämpft hat, hat auch keiner gefragt, was in Dresden los ist. Die Nazis haben London angegriffen und ihr habt Dresden angegriffen. Deshalb: Schande über Sie, wenn Sie mit diesem falschen Narrativ weitermachen.
Ich bin mir nicht sicher, wie wirkungsvoll diese Absicherungschiffren heute noch sind und ob nicht “Dresden” als Wort doch einen anderen Beiklang hat als den, der Reichelt und Bennett im Ohr sitzen mag. Florenz und Elbe und “Wie liegt die Stadt so wüst” klingen mit.
Alte Hebel, die so spielend angesetzt werden konnten und funktionierten, sind jedoch langlebiges Gerät. Und so hat gestern der israelische Außenminister Eli Cohen die (wiederum nicht bindende) Resolution der UN-Vollversammlung, diesen Aufruf zur Schonung der Zivilbevölkerung und zu einem Ende der Kämpfe, mit denselben Verweisen zurückgewiesen.
Wir lehnen den verabscheuungswürdigen Ruf der UN-Generalversammlung nach einem Waffenstillstand entschieden ab. Israel beabsichtigt, die Hamas zu eliminieren.
Denn so sei die Welt auch mit den Nazis und der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verfahren. Deshalb sei die Resolution ein „dunkler Tag für die UN und für die Menschheit“, der mit Schande in die Geschichte eingehen werde. (Deutschland enthielt sich.)
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Las gestern im neuen Heft der noch wenig bekannten Zeitschrift CRISIS, einem erst im Vorjahr gegründeten “Journal für christliche Kultur”. Verantwortlicher Redakteur ist Gregor Fernbach, der auch den Verlag Hagia Sophia betreibt. Dort wird unter anderem das Werk des russischen Philosophen Iwan Iljin gepflegt.
Unsere Leser haben vor allem nach seiner zentralen Schrift Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse gegriffen, und natürlich ist in der neuen Ausgabe ein Beitrag über die Gedankenführung dieses Buches enthalten. Denn CRISIS 6 beschäftigt sich mit dem Thema “Krieg”.
So war mir unter anderem die Vertiefung der Glaubensspaltung in der Ukraine nicht bewußt, obwohl ich früher in Dörfern war, in denen neben der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK) auch eine griechisch-katholische Kirche stand. Diese vor allem westukrainische Abspaltung rührt aus dem Jahr 1596, in dem sich dieser Teil der alten Kiewer Rus dem polnisch-litauischen Bund unterwarf und kirchlich Konstantinopel verließ und Rom anerkannte. Die Liturgie blieb orthodox.
2018 kam es zu einem zweiten Schisma, nämlich zur Gründung eines eigenständigen, vom russischen Patriarchat unabhängigen orthodoxen Kirchentums der Ukraine. Die bei Rußland verbliebene Orthodoxie (die UOK) löste sich 2022 ebenfalls von Moskau – ein taktischer Schritt, der jedoch nichts austrug: Seit Dezember ist sie faktisch verboten, bekam sofort die Nutzungsrechte im weltberühmten Kiewer Höhlenkloster entzogen und wird seit Juni auch aus den letzten, ihr verbliebenen Klausen und Kirchen vertrieben.
Im CRISIS-Heft schreiben Matthias Matussek und die Journalistin Nina Byzantinia über diese Vorgänge. Letztere spielt mit ihrem Versuch, der katholisch-griechischen Kirche eine intensive Kontaktschuld zum Dritten Reich nachzuweisen, mit dem Feuer. Man muß nicht tief graben, um Verstrickungen auf allen Seiten zu finden.
Dezidiert ist der Beitrag Benjamin Kaisers, der von England aus mitarbeitet und seinen Beitrag “Der geistige Kampf” mit den Sätzen beginnt, daß ein totaler Krieg tobe, von dem jeder einzelne betroffen sei: Es sei ein Krieg, in dem die eine Seite machtvoll behaupte, daß der Mensch sein könne und solle wie Gott, während die andere Seite in diesem geistigen Kampf die heiligen Zeichen aufgerichtet halte oder wieder aufrichte – und zwar zunächst und vor allem in sich selbst.
Seien noch der lange, grundlegende Beitrag des mir bisher nicht bekannten Publizisten Wolfgang Vasicek erwähnt, der den “Krieg als Ereignis” und seine “Eingrenzung und Entgrenzung” sehr kenntnisreich und lektüregesättigt behandelt, außerdem das Editorial, das die Tradition einer “Segnung der Waffen” ausleuchtet, und das Interview mit Ulrike Guérot, das von Redakteurin Beile Ratut geführt wird.
CRISIS verfolgt einen konsequent christlichen, vor allem orthodoxen und west-kritischen Kurs. Das ist im deutschsprachigen Raum eine Lücke, und sie wird nun gefüllt. Heft 6 ist soeben erschienen, umfaßt 88 Seiten, kostet 12.50 € und kann hier bestellt werden. Auch ein Abonnement kann man dort zeichnen.