PROFESSOR MICHAEL MEYEN: Vergleiche mit der DDR haben mindestens zwei Haken. Damals wußte jeder, wer die Öffentlichkeit kontrolliert. Radio, Fernsehen und Presse gehörten entweder dem Staat oder einer der Parteien. Niemand hat dort Pluralismus erwartet oder gar Objektivität. Silke Hasselmann war ein Sprachrohr der Macht. Schon deshalb war so eine Anspielung ein No-Go. Wenn sich Steffen Hebestreit in der Bundespressekonferenz über Olaf Scholz lustig machen würde, wäre er seinen Job auch sofort los. Hasselmann hat es trotzdem riskiert und ist so in die Geschichtsbücher gekommen.
SEZESSION: Und der zweite Haken?
MEYEN: Das Internet. Heute kann jeder immer und überall die Regierungsversion herausfordern oder wenigstens konkurrierende Sichtweisen aufrufen. Das ging in der DDR nur begrenzt, über das Westfernsehen. Sie fragen jetzt bestimmt gleich nach der Zensurmaschine, die alles aus dem Netz fischt, was die Bürger nicht sehen sollen.
Das führt direkt zur Cancel Culture, die ja auf Personen zielt und auf kleinere Öffentlichkeiten. Sachbücher, Demos, Vorträge, Konzerte. Leitmedien und Plattformen sind weitgehend eingehegt. Dort bekommen Sie keine Reichweite und damit keine Relevanz, wenn Sie den Raum des Sagbaren verlassen. Die Mechanismen sind andere, aber das Ergebnis unterscheidet sich nicht groß von der DDR. Die Ideologie hat den Herrschenden damals erlaubt, auch auf alle anderen Öffentlichkeiten zuzugreifen. Diktatur des Proletariats, Kampf gegen den Klassenfeind: Damit ließ sich fast alles rechtfertigen.
Für Verbote und offene Zensur müßte man heute die Ideologie anpassen. Bis dahin wird gecancelt und weiterhin erzählt, daß wir Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit haben.
SEZESSION: Sie bezeichnen sich in einem Artikel der Zeitschrift Tumult als »Zeitzeugen für einen umgekehrten Totalitarismus«.
Was ist das eigentlich – ein »umgekehrter Totalitarismus«?
MEYEN: Das ist ein Begriff, den Sheldon Wolin in den USA nach 9/11 geprägt hat, als Regierung und Nachrichtenkanäle Fake News verbreitet haben, um den »War on Terror« zu befeuern und schließlich in den Irak einmarschieren zu können. Wolin hat schon vor 20 Jahren Parallelen zu Nazideutschland und zur Sowjetunion gesehen und ein System beschrieben, in dem Staat und Konzerne zusammengehen und alle anderen Formen der Macht unterwerfen, Kirchen, Wissenschaft, Technik, Kultur.
Diese neue Supermacht braucht kein Charisma und muß die Massen auch nicht mobilisieren. Deshalb umgekehrter Totalitarismus. Für die Kontrolle genügt es, die Menschen permanent zu beschäftigen, abhängig zu machen und in Angst zu halten. Der Terrorismus, die Viren, jetzt das Klima. Da bleibt einem gar nichts anderes übrig, als die Füße stillzuhalten und auf Rettung von oben zu warten.
SEZESSION: Ist das eine Zuspitzung oder sehen Sie uns wirklich bereits dort angelangt? Dann könnten wir ein Interview wie dieses doch gar nicht führen, weil wir beide längst inhaftiert worden wären.
MEYEN: Der umgekehrte Totalitarismus braucht keine Lager. Es reicht, uns die große Bühne zu nehmen und damit jede Wirksamkeit. Was nicht in den Leitmedien erscheint, das existiert nicht. Immer noch, auch wenn inzwischen jeder dritte Erwachsene diese Kanäle meidet. Aber bei den Leitmedien können und müssen wir unterstellen, daß alle wissen, worüber man dort redet, und daß sich alle der Moral unterwerfen, die dabei mitgeliefert wird. Das Wort »alle« meint dabei nicht unbedingt uns beide oder die Leser dieser Zeitschrift, sondern diejenigen, die über unser Leben bestimmen. Minister, Landräte, CEOs, Intendanten, Schuldirektoren.
Wenn die Leitmedien uns markieren, dann braucht es ein dickes Fell, um uns einzuladen, und eine Unabhängigkeit, die kaum noch jemand hat. Die Cancel Culture funktioniert deshalb viel besser als jedes Gefängnis, weil sie hilft, den Schein zu wahren. Die Kritiker laufen ja noch frei herum und haben sogar eigene Zeitschriften.
SEZESSION: Totalitäre Systeme haben die volle Klaviatur ihrer Mechanismen selten sofort voll ausgespielt, sondern scheibchenweise. Halten Sie Cancel Culture nur für eine Sprosse auf einer Leiter des Totalitarismus oder hat diese bereits endgültigen Charakter?
MEYEN: Prognosen sind immer schwierig. Im Rückblick kann man die Scheibchen schön sehen. Am Anfang ging es um die großen Redaktionen. Für die Süddeutsche kann man das zum Beispiel bei Birk Meinhardt nachlesen.
SEZESSION: Wie ich meine Zeitung verlor, erschienen 2020.
MEYEN: Genau. Meinhardt war eine Art Vorzeigejournalist und hatte nach zwei Egon-Erwin-Kisch-Preisen eigentlich Narrenfreiheit. In seinem Buch veröffentlicht er vier Texte, die trotzdem nicht erscheinen durften, weil sie an Tabus kratzen. Kapitalismus, Rechtsstaat, das Bündnis mit den USA. Einmal wird ihm gesagt, daß die Rechten seine Geschichte nutzen könnten. Also wird die Wahrheit beschwiegen und alles weggelassen, was nicht zur Haltung paßt. Meinhardt erinnert sich außerdem an einen Leserbriefredakteur, der am Telefon erzählte, daß der Chef der Außenpolitik keine Zuschriften im Blatt haben wolle, die das kritisieren, was die NATO im Kosovo macht.
SEZESSION: Meinhardt bleibt ein Einzelfall.
MEYEN: Für den Kosovokrieg ist das systematisch untersucht worden, von Kurt Gritsch, einem Historiker. Gritsch hat die großen Feuilletons analysiert und kann so zeigen, wie Zustimmung zur militärischen Intervention organisiert wurde. Inzwischen weiß man auch, welche Rolle PR-Agenturen dabei spielten.
Wenn Sie noch einen Einzelfall aus dieser Zeit wollen: Ulrich Wickert, damals »Mister ›Tagesthemen‹«. Wickert hatte nach 9/11 in einer Zeitschrift geschrieben, daß die Anschläge nicht auf westliche Werte zielten, sondern auf unsere Überheblichkeit und unseren Materialismus. Außerdem sagte er, daß der zweite Bush die gleichen Denkstrukturen habe wie Osama bin Laden. Was für ein Skandal! Sogar Angela Merkel, damals CDU-Vorsitzende, hat sich eingeschaltet. Wickert sei als Nachrichtenmoderator absolut nicht mehr tragbar. Er hat sich sofort entschuldigt, in den »Tagesthemen«, also auf der größten denkbaren Bühne. Das Signal ist beim kleinsten Redakteur angekommen.
SEZESSION: Also, die Leitmedien sind das erste Scheibchen.
MEYEN: Der Journalismus war bis in die nuller Jahre der zentrale Pfeiler in unserem Wahrheitsregime. Michel Foucault sagt, daß jede Gesellschaft so ein Regime brauche. Jede Gesellschaft braucht Techniken, von denen wir annehmen dürfen, daß sie Wahrheit produzieren, Menschen, die befugt sind, diese Wahrheiten dann zu verkünden, und Mittel, um Abweichler zu sanktionieren. Deshalb war Wickert so wichtig. Wer bezweifelte, was die »Tagesthemen« zu 9/11 sagten oder zum Kosovo, der kam dort einfach nicht vor.
Damit wir das schlucken, verspricht uns der Journalismus etwas, was niemals einzulösen ist: Objektivität, Neutralität, Unparteilichkeit. Diese Berufsideologie ist verräterisch. Sie verdeckt die Selektivität. Mit dem Internet war das vorbei. Jetzt konnte jeder ohne viel Mühe Stücke finden, die das Gegenteil behaupteten und mindestens genauso plausibel waren.
SEZESSION: Wann kommt Scheibchen zwei?
MEYEN: Ab 2010, 2011. Mit den Smartphones und dem Siegeszug der Plattformen. Man kann hier sehr schön das Zusammenspiel von Staaten und Konzernen studieren, das Sheldon Wolin beschreibt. Im März 2015 wird in Brüssel eine Task Force installiert, die alles bekämpft, was dem eigenen Ukraine-Narrativ widerspricht. 2017 kommt in Deutschland das Netz-DG, das aus Google und Co. Zensurmaschinen macht. 2018 unterschreiben die Netzgiganten einen »Verhaltenskodex gegen Desinformation« und berichten seitdem fleißig, was sie alles löschen und blockieren. Der Medienstaatsvertrag macht dann im November 2020 aus den Landesmedienanstalten Zensurstellen für alle Seiten der Gegenöffentlichkeit.
Das Ergebnis haben wir in den Corona-Jahren gesehen und können das inzwischen ja auch nachlesen, in den Twitter-Files zum Beispiel. Im nächsten Schritt geht es um die privaten Internetseiten, um Messaging-Dienste und um analoge Orte wie das Stadion, die Straße, die Universität oder das Sachbuch. Damit sind wir bei der Cancel Culture.
SEZESSION: In der DDR kamen Sanktionen wie Hasselmanns Mikrofonverbot von »oben«, also von der Regierung. Heute scheint mir dagegen die These G. Edward Griffins über einen »Revolutionären Parlamentarismus« aktueller denn je: Augenscheinlich von »unten« stellen Gruppen wie Schüler und Studenten Forderungen an die Politik, die – wenn auch zögerlich – reagieren muß, wie etwa auf die Forderungen von Fridays for Future. Auch Cancel Culture funktioniert offenbar so, mit Hörsaalbesetzungen und Forderungen des
Allgemeinen Studentenausschusses an die Hochschulleitung. Was sagen Ihre Erfahrung aus dem Unibetrieb dazu? Ist dem so?
MEYEN: Der Schein trügt. Cancel Culture geht von den Leitmedien aus und von den Institutionen, die der Parteienstaat genau für diesen Zweck geschaffen hat. Sie stützt sich auf ein intellektuelles Prekariat, das um bezahlte Posten in Redaktionen, Universitäten und NGOs buhlt, und auf eine Regierungspropaganda, die so tut, als ob Gleichberechtigung, Umweltschutz oder Antirassismus Avantgarde-Themen wären, entdeckt von wenigen Aufgeklärten, durchzusetzen gegen eine Mehrheit der Ewiggestrigen.
SEZESSION: Das müssen Sie erklären.
MEYEN: Heute geht nichts ohne öffentliche Zustimmung. Ich brauche positive Berichte in den Leitmedien oder wenigstens keine negativen. Das ist der Hebel, den jede Cancel Culture nutzt. Niemand interessiert sich für irgendeinen Studenten, für eine kleine Demo oder einen namenlosen Twitter-Nutzer, der irgendwen oder irgendwas nicht mag. Aber jeder hat Angst davor, daß ein Journalist daraus eine Geschichte macht und einen an den Pranger stellt. Oft rufen die Journalisten auch von sich aus an oder werden dazu von irgendwoher gedrängt, ganz ohne jeden Protest.
Die Angst vor öffentlicher Bloßstellung und Isolation führt dazu, daß man sich distanziert und Säle kündigt, Konten, Buchverträge. Letztlich reicht ein einziger Artikel, weil Wikipedia die Leitmedien als seriöse Quelle einstuft und bei Google ganz oben steht. Wenn ich jemanden einladen will und dort nachschaue, dann weiß ich, was mich erwartet.
SEZESSION: Sie haben auch von Regierungspropaganda gesprochen und von einem intellektuellen Prekariat.
MEYEN: Der Fisch stinkt vom Kopf. »Wir schaffen das«, »Klimanotstand«, #allesindenarm, Rußland ruinieren: Themen und Moral werden von oben vorgegeben und mit Geld unterfüttert. Forschungstöpfe, Stipendien, Stellen, manchmal sogar unbefristet. Man muß sich dazu nur die Forschungsprogramme anschauen, die unter Begriffen wie Demokratie, Migration oder Integration laufen, und die vielen Beauftragten, die überall installiert worden sind, wahlweise zuständig für Ausländer, Diskriminierung, Rassismus, Frauen, Queer, Lesben, Schwule, Behinderung, Antisemitismus, Antiziganismus, Klima, Nachhaltigkeit. Was macht so jemand den ganzen Tag?
SEZESSION: Mir scheint, das ist eine rhetorische Frage.
MEYEN: Sorry, ja. Solche Leute brauchen Leitmedienpräsenz oder wenigstens Plattformreichweite, um die eigene Existenz zu rechtfertigen. Viele Unternehmen fühlen sich fast automatisch genötigt nachzuziehen, auch wenn man das dort vielleicht gar nicht machen müßte. Dazu kommen Organisationen wie das Zentrum Liberale Moderne oder die Amadeu-Antonio-Stiftung, die die Regierungsnarrative mit Flak unterstützen. Der Wildwuchs an solchen Einrichtungen ist kaum noch zu überblicken. Man füttert das mit Steuergeldern und verkauft es unter dem Namen Zivilgesellschaft. Das ist schon geschickt gemacht. Ich muß aber noch ein Wort zur Plattformlogik sagen.
SEZESSION: Bitte.
MEYEN: Das alles funktioniert nur, weil die Moralisierung bei den üblichen Verdächtigen aus dem Silicon Valley eingebaut ist. Eins und null. Der Code der digitalen Welt. Wir oder sie. Ich muß dafür sein oder dagegen. Sonst bekomme ich keine Likes, keine Sichtbarkeit. Kanäle wie Twitter, Instagram oder Facebook lassen Maß und Mitte verschwinden und damit jede Differenzierung, alles Fragen, jedes Abwägen.
SEZESSION: Ich will noch einmal zurück zu den Studenten, die ja früher gegen einen autoritären Staat auf die Straße gegangen sind, zum Beispiel im Falle des Vietnamkriegs. Wie erklären Sie sich die Sehnsucht nach einem starken Staat, die heute bei vielen Protesten durchklingt?
MEYEN: Wir haben inzwischen eine Hochschulquote von fast 55 Prozent. Das heißt: Jeder zweite junge Mensch studiert. In den 1980ern war das nur jeder fünfte. Ich habe keine Zahlen zu Spitzenpositionen gefunden, vermute aber, daß sich die Vermehrung da in Grenzen hält. Man muß sich ja nur umschauen in den angesagten Großstadtvierteln. Man sieht dort Menschen, die oft keinen festen Job haben und gar nicht sehr viel Geld, immer auf dem Sprung zwischen zwei Aufträgen oder zwei Projekten. Menschen, die unter sich bleiben und ins Bodenlose fallen würden, wenn sie plötzlich von ihrer Hände Arbeit leben müßten oder gar ihr Digitalprofil verlieren würden.
Der Staat ist hier inzwischen die erste Anlaufstelle, wenn es ums Geldverdienen geht. Dazu kommt die Existenzangst, über die wir ja schon gesprochen haben. Gerade mit dem Klima hat man die jungen Leute gefangen. Sie können die Alten in den Skat drücken, weil die es ja angeblich auf dem Kerbholz haben, und müssen trotzdem auf den Staat setzen, weil das Ganze als Monster konstruiert wurde, vor dem der einzelne hilflos in den Staub sinkt. Corona war dafür die Blaupause.
SEZESSION: Ist es ein Ausdruck des umgekehrten Totalitarismus, daß die Anhänger des Systems Mechanismen wie die Cancel Culture auf die Spitze treiben, sich in ihrem Selbstbild allerdings als Opposition zum System sehen (Beispiel Antifa)?
MEYEN: Alles nur Rhetorik, die das Gewissen beruhigt. Man kann so weiter glauben, kritisch zu sein und für Gerechtigkeit zu kämpfen, obwohl man objektiv die Interessen von Konzernen bedient und hilft, die soziale Kluft zu vergrößern. Selbst der Begriff Cancel Culture wird ja verdreht und zu einem Machtmittel der alten Eliten erklärt, die einfach nicht begreifen wollen, daß ihre Zeit vorbei ist und jetzt endlich auch die mitreden können, die früher keiner hören wollte.
Das ist besonders perfide, weil es jede Debatte blockiert und verschleiert, daß Cancel Culture auf alles zielt, was die hegemonialen Narrative herausfordert und trotzdem durch die Fangnetze der Digitalzensur flutscht – weil es nicht im Internet spielt oder zu klein ist für die großen Dogmen. Cancel Culture reinigt das Gedächtnis der Gesellschaft im Sinne der Macht. Sie geht von denen aus, die gerade die Deutungshoheit haben. Deshalb ist sie nur von denen zu sehen, die nicht dazugehören.
SEZESSION: Sind Entwicklungen wie das Gender-Verbot in Sachsen-Anhalt der Beginn eines zurückschwingenden Pendels?
MEYEN: Schwer zu sagen. Der Osten tickt einfach anders. Die Regierungen wissen hier genau, daß die Menschen ein feines Sensorium haben für alle Erziehungsversuche und für alle Sprachvorgaben. Man sieht das auch an den Debatten um den Rundfunkbeitrag. Wer da nicht gegensteuert, kann die nächste Wahl gleich abschreiben
Artabanus
Gutes Interview. Erwähnenswert wäre noch das Phänomen der bezahlten Internet-Trolle, ebenfalls von der "Zivilgesellschaft" mit Steuergeldern gesponsert. Auf Twitter(X) zum Beispiel tummeln sich etliche anscheinend hauptberuflich dort Tätige, die sich ungefragt in Diskussionen einschalten um das Regierungsnarrativ zu verteidigen.