Tolkien, oder: in einer Welt voller Spuren

-- von Volker Zierke

PDF der Druckfassung aus Sezesssion 117/ Dezember 2023

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Alles hier ist alt, älter als die Men­schen den­ken kön­nen, älter als die Tie­re, sogar älter als die Bäume.

Wenn hier jemand sein Schwert zieht, dann tut er das nicht als zusam­men­ge­stell­tes Indi­vi­du­um in einer zufäl­lig gene­rier­ten 3D-Sze­ne­rie aus Wäl­dern, Bur­gen und Fel­sen, son­dern als win­zi­ges Zahn­rad in einer jahr­tau­sen­de­al­ten Erzählung.

In sei­nen Adern fließt nicht nur Blut, son­dern »die Kamp­fes­wut sei­ner Väter«; er rei­tet nicht wie ein daher­ge­lau­fe­nes Abzieh­bild eines Rit­ters in Schaum­stoff­rüs­tung, son­dern »wie ein Gott von einst, wie Oromë der Gro­ße in der Schlacht der Valar, als die Welt jung war«. Oromë, das ist der Horn­blä­ser, der Jagd­gott, der Herr der Wäl­der, ein Valar, an den sich heu­te nie­mand mehr erin­nert, nicht ein­mal die Men­schen in Mit­tel­er­de, und sei­ne Erwäh­nung in Der Herr der Rin­ge, als Thé­o­den, König von Rohan, in die Schlacht von Gon­dor rei­tet, ist nicht mehr als ein dump­fes Echo des lang­ver­gan­ge­nen Ruhms der gött­li­chen Hei­lig­keit. Eine Hei­lig­keit, die die­se Welt nicht mehr kennt.

Es ist das Bezeich­nen­de, das zutiefst Melan­cho­li­sche, daß abso­lut nichts in der Welt von Mit­tel­er­de, dem Schau­platz des Herrn der Rin­ge, zufäl­lig ist. Kein Name eines Orts oder einer Per­son wur­de der Sprach­me­lo­die oder der Ein­präg­sam­keit hal­ber gewählt; sie alle lei­ten sich aus einer von J. R. R. Tol­ki­en mehr oder weni­ger erfun­de­nen Spra­che ab, sie alle haben Bedeu­tung, die über die gro­be Beschrei­bung des­sen, was gera­de pas­siert, hin­aus­geht. Der Horn­blä­ser, der gro­ße Jäger Oromë, wir ken­nen ihn nicht, der Leser weiß nichts über ihn, aber wenn Thé­o­den im fünf­ten Kapi­tel des fünf­ten Buches in die Schlacht rei­tet, die sei­nen Tod besie­geln wird, dann den­ken wir auto­ma­tisch an Hera­kles, wir den­ken an Achill, Sieg­fried, Hek­tor und Apol­lon, die gro­ßen Hel­den und Göt­ter, die mit einem letz­ten Gang ihre Taten besie­geln – »Schwert-Tag, Blut-Tag, ehe die Son­ne steigt!«

Man braucht das umfang­rei­che und alles erklä­ren­de Sil­ma­ril­li­on nicht gele­sen zu haben, um zu ver­ste­hen, daß Mit­tel­er­de alt ist, sehr alt. Denn man merkt es in jeder Zei­le, man spürt es bei der Beschrei­bung der Bäu­me, die ihr eige­nes Leben abseits der Men­schen und Elben und Zwer­ge füh­ren, man sieht es den Rui­nen an, die von längst Ver­schwun­de­nem kün­den, und man hört es in den Lie­dern, die Bil­bo und Ara­gorn sin­gen, die uns, die Leser, in eine Welt hin­ein­ver­set­zen, die sich gar nicht so sehr von der unse­ren unter­schei­det. Eigent­lich gar nicht.

Die Innen­stadt von Stutt­gart wird zwar nicht von Elben oder Ents oder Hob­bits bevöl­kert, aber über­all – ja, sogar in Stutt­gart! – fin­den sich Relik­te einer längst ver­gan­ge­nen Zeit. Stau­nend ste­hen die Men­schen vor den bröck­li­gen Sand­stei­nen des Alten Schlos­ses, des­sen Grund­mau­ern noch aus Stau­fer­zei­ten stam­men müs­sen, errich­tet von Herr­schern, deren Leich­na­me schon längst ver­fault sind, aber deren Taten unser Stau­nen heu­te erst mög­lich machen und deren Wäl­le noch immer ste­hen. Die Men­schen gra­ben bron­ze­zeit­li­che Schwer­ter und Rin­ge und Löf­fel aus und tra­gen sie in Muse­en, die davon kün­den, daß vor uns unse­re Eltern leb­ten und vor ihnen ihre Eltern; und deren Eltern davor.

So gibt es eine lan­ge Rei­he der Men­schen glei­chen Bluts, das den Stau­nen­den und Lesen­den mit einem Men­schen ver­bin­det, der vor 2000 Jah­ren beschloß, hier am Ran­de der Schwä­bi­schen Alb sein Feld zu bestel­len. Nur daß wir sei­nen Namen ver­ges­sen haben. Aber sie sind immer noch da, als Geis­ter, die uns beob­ach­ten, als Elben aus vor­my­thi­scher Zeit, Gigan­ten auf den Schul­tern von Giganten.

Ein dut­zend­mal kann man her­un­ter­bre­chen, was »rechts sein« wirk­lich bedeu­tet. Hun­dert­mal kann man dis­ku­tie­ren, ob »rechts« nun wirk­lich in der Mit­te der Gesell­schaft ange­kom­men ist, ob es eine schwei­gen­de Mehr­heit gibt, die »ohne­hin« so wie wir über Mas­sen­ein­wan­de­rung, Infla­ti­on und Wirt­schafts­krie­ge denkt. Tau­send­mal wird bespro­chen, ob das, was wir tun, über­haupt einen Sinn habe. Sel­ten ver­ge­gen­wär­tigt, doch sub­ku­tan da: daß das, was wir tun, sinn­voll oder nicht, nicht nur unser Kampf ist, son­dern nur die letz­te Win­dung in einer lan­gen Ket­te, begrün­det von unse­ren Vor­vä­tern, die sich zwei­fel­los ähn­li­che Fra­gen gestellt haben müs­sen. Fra­gen, Kon­flik­te und Krie­ge, die unse­re Söh­ne wie­der beant­wor­ten und aus­fech­ten wer­den, aufs neue.

Sich selbst dage­gen als kom­plett iso­lier­tes Wesen zu sehen, als jemand, der unab­hän­gig vom Schick­sal sei­ner Fami­lie und sei­nes Vol­kes vor sich hin­lebt, nur getrie­ben vom Ver­lan­gen, sich selbst – und damit meint man: sei­nen Selbst­dar­stel­lungs­trieb – zu ver­wirk­li­chen, das ist eine Lebens­wei­se, die man sich vor 150 Jah­ren nicht leis­ten konn­te, geschwei­ge denn vor 2000 Jah­ren. Die Vor­stel­lung, daß die­se Wäl­der, Ber­ge, Dör­fer, Kir­chen und Städ­te unse­res Lan­des gar nichts mit uns zu tun hät­ten, ja, in dem Moment, wo wir nicht an sie den­ken, gar nicht exis­tier­ten, ist eine moder­ne Idee; eine moder­ne Lüge, möch­te man mei­nen. Sie ste­hen uns nicht belie­big zur Ver­fü­gung, sie haben nicht auf uns gewar­tet, und sie las­sen sich auch nicht nach moder­nen Wün­schen und Vor­stel­lun­gen benut­zen; als Tou­ris­mus­ma­gnet, als post­mo­der­ne Erho­lungs­zo­ne oder als hip­pes Trade­mark für die PR-Kam­pa­gne einer Staatskanzlei.

Das Gan­ze ist schließ­lich Selbst­be­trug; ein Selbst­be­trug, bei dem Men­schen, von Boo­mer bis Zoo­mer, glau­ben, ihren Lebens­sinn in ihren eige­nen Taten und ihrer dar­ge­brach­ten Arbeits­leis­tung für ein gleich­gül­ti­ges Kapi­tal gefun­den zu haben. Unse­re Gesell­schaft mag zwar bis vor kur­zem immer wohl­ha­ben­der gewor­den sein: Ihre Selbst­er­fül­lung hat sie nicht gefun­den. Und wo bei den älte­ren Jahr­gän­gen die Erkennt­nis dar­über in Trotz umschlägt, da umfängt die Jün­ge­ren die Melan­cho­lie, die Leder­ja­cke eines Ver­eins, auf des­sen Libe­ro-Posi­ti­on J. R. R. Tol­ki­en spielt, weil die­ses Gefühl der »wil­den Schwer­mut« (Ernst Jün­ger) so untrenn­bar mit sei­nem Werk ver­bun­den ist. Tol­ki­en ohne Ver­ge­gen­wär­ti­gung des Ver­gan­ge­nen, ohne lei­ses Weh­kla­gen über den lei­sen Ver­fall gibt es nicht.

Ver­steht man die Essenz des Wer­kes nicht, dann pas­siert so etwas wie Die Rin­ge der Macht, die jüngs­te Ama­zon-Adap­ti­on des Tol­ki­en­schen ­Œuvres, tat­säch­lich ein Ani­ma­ti­ons­ge­wit­ter mit zufäl­lig gene­riert wir­ken­den Schaum­stoff­rüs­tun­gen und einer mul­ti­kul­tu­rell zusam­men­ge­wür­fel­ten Beset­zung, die den Zuschau­er genau­so hoff­nungs­los unver­or­tet und hei­mat­los zurück­läßt, wie es die post­mo­der­nen Innen­städ­te unse­res Lan­des tun. Die Rin­ge der Macht, das ist eine Ein­kaufsmall, bei der ein schlau­er Archi­tekt beschloß, die geo­me­tri­sche Glas­fas­sa­de durch Holz­imi­tat aus Kunst­stoff zu ersetzen.

Natür­lich ist das schlecht, und das muß man so emp­fin­den, sogar, wenn man die Bücher nicht gele­sen hat – nicht, weil die erzähl­te Geschich­te in der Ama­zon-Serie lang­wei­lig wäre, son­dern weil der Kern der Vor­la­ge, das nicht Zufäl­li­ge, das Sinn­haf­te, das tief Bedeu­tungs­vol­le kur­zer­hand über Bord gewor­fen wur­de für eine gene­ri­sche Fan­ta­sy-Welt, die nichts mehr kann außer pein­li­chem Bom­bast und schein­idyl­li­schen Bil­dern. Die gute Nach­richt ist: So wie Tol­ki­en sei­ne Welt beschreibt, so ist die unse­re auch. Unse­re Welt ist vol­ler Mythen, Geschich­ten und sinn­stif­ten­dem Leben.

Vie­le wis­sen es nicht mehr, aber sie kön­nen es füh­len, ganz beson­ders, wenn man Tol­ki­en liest und dann mit offe­nen Augen durch die Welt geht. Denn etwas stimmt auch nicht mit unse­rer Welt, und jemand, der nur den Anblick des Stutt­gar­ter Schloß­plat­zes und die Namen auf dem Klin­gel­schild sei­nes häß­li­chen West-Plat­ten­baus kennt, der will viel­leicht gar nicht begrei­fen, was es ist, das nicht stimmt. Tol­ki­en zeigt, was fehlt.

Und instink­tiv begreift man doch, man kann sofort einen dün­nen Faden spin­nen, der aus Mit­tel­er­de nach Stutt­gart, Karls­ru­he, Düs­sel­dorf oder Leip­zig führt. Die Men­schen der Ver­gan­gen­heit, die Men­schen der Nebra-Him­mels­schei­be, der Stau­fer­bur­gen und Hohen­zol­lern-Plät­ze, sie wuß­ten, woher sie kamen, wel­chen Platz sie in der Welt hat­ten, sie nah­men die Mythen und Erzäh­lun­gen an und mach­ten sie zu ihrer Lebensrealität.

Uns feh­len die­se Erzäh­lun­gen, und man merkt dies erst, wenn man sei­nen Kopf tief in die Bücher steckt, viel­leicht schon, wenn man sich die Der Herr der Rin­ge-Fil­me von Peter Jack­son ansieht. Man liest von den glor­rei­chen Zei­ten. Man zit­tert, wie alle zit­tern, »die den Klang hör­ten«, den Klang von Helms gro­ßem Horn. Selbst­ver­ständ­lich wird man durch Fan­ta­sy-Lite­ra­tur nicht auto­ma­tisch rechts­ra­di­kal poli­ti­siert, und wer jetzt die AfD wählt, tut dies meist, weil ihn die Coro­na-Poli­tik so scho­ckiert zurück­ge­las­sen hat, weil die Über­frem­dung in unse­ren Innen­städ­ten jedes erträg­li­che Maß über­steigt, weil den Kin­dern Homo-Pro­pa­gan­da ein­ge­impft wer­den soll und weil Hei­zungs­ter­ro­ris­mus auch den letz­ten Bür­ger­li­chen aufwiegelt.

Den­noch sind das ledig­lich die Sym­pto­me des Ver­falls, und zu vie­le Bür­ger unse­res schö­nen Lan­des ver­schlie­ßen auch davor noch die Augen, weil dies alles ihre Lebens­rea­li­tät gewor­den ist und ein ande­res Deutsch­land gar nicht mehr denk­bar oder mach­bar ist. Mas­sen­ein­wan­de­rung ist nor­mal, Krieg gegen Ruß­land geo­po­li­ti­sches Schick­sal, rück­sichts­lo­ser Kapi­ta­lis­mus mensch­li­cher Urzu­stand – und doch lesen wir davon nichts in Homers Epen, Tol­ki­en ver­liert kein Wort über die öko­no­mi­schen Grün­de, die Mordor in den Krieg zwan­gen, und kei­ne Selbst­zwei­fel erfül­len die Ara­gorns und Thé­o­dens der Bücher, wenn sie in die Schlacht rei­ten. Wenn die »Rit­ter des Hau­ses von Eorl dem Jun­gen«, dem gro­ßen Urah­nen der wil­den Rohan-Rei­ter, sich in einem Akt der Ver­zweif­lung gegen die anbran­den­den Hor­den der Dun­kel­heit wer­fen, dann mit einem »Helm ist auf­er­stan­den und zieht wie­der in den Krieg. Helm für König Théoden!«

Klar, den Hob­bits und Men­schen wird ganz schumm­rig ange­sichts des gro­ßen Übels, der über­wäl­ti­gen­den Bedro­hung aus Mordor, der Dun­kel­heit, die sich alles bemäch­ti­gen wird. Schließ­lich sind die Rui­nen des Turms von Amon Sûl und die »schwei­gen­den Hüter eines längst ver­schwun­de­nen König­reichs«, die rie­sen­haf­ten Sta­tu­en der Argon­ath an den Ufern des Anduins, Zeu­gen der Ver­gäng­lich­keit allen Seins, der Beweis, daß Kri­sen, Krie­ge und Sau­ron letzt­lich auch nur Sym­pto­me des Unver­meid­li­chen sind, des Nie­der­gangs, in dem nicht nur Mit­tel­er­de, son­dern auch unse­re Welt begrif­fen ist.

Von der fabel­haf­ten Stadt Gon­do­lin ist nichts übrig­ge­blie­ben. Die Elben ver­lie­ren ihre Macht und ver­schwin­den im Wes­ten. Unse­re Erfül­lung, unser König­reich ist nicht auf die­ser Welt zu fin­den; den­noch besteigt Ara­gorn, Elen­dils Erbe, den Thron Gon­dors. Der wei­ße Baum von Minas Tirith erblüht von neu­em; König Thé­o­den fällt in der Schlacht, doch das Band, das uns durch die Jahr­tau­sen­de ver­bin­det, ist wie­der­her­ge­stellt. Und im Moment sei­nes Todes noch, da beschwört der ster­ben­de König das Bild der Vor­fah­ren und der Abend­däm­me­rung. »Ich gehe zu mei­nen Vätern. Und selbst in ihrer erlauch­ten Gesell­schaft brau­che ich mich jetzt nicht zu schä­men. Ich fäll­te die schwar­ze Schlan­ge. Ein grim­mer Mor­gen, ein fro­her Tag, ein gol­de­ner Son­nen­un­ter­gang!« Dann fällt die Nacht über Mit­tel­er­de; und auf jeden Schat­ten folgt ein neu­er Morgen.

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