Alles hier ist alt, älter als die Menschen denken können, älter als die Tiere, sogar älter als die Bäume.
Wenn hier jemand sein Schwert zieht, dann tut er das nicht als zusammengestelltes Individuum in einer zufällig generierten 3D-Szenerie aus Wäldern, Burgen und Felsen, sondern als winziges Zahnrad in einer jahrtausendealten Erzählung.
In seinen Adern fließt nicht nur Blut, sondern »die Kampfeswut seiner Väter«; er reitet nicht wie ein dahergelaufenes Abziehbild eines Ritters in Schaumstoffrüstung, sondern »wie ein Gott von einst, wie Oromë der Große in der Schlacht der Valar, als die Welt jung war«. Oromë, das ist der Hornbläser, der Jagdgott, der Herr der Wälder, ein Valar, an den sich heute niemand mehr erinnert, nicht einmal die Menschen in Mittelerde, und seine Erwähnung in Der Herr der Ringe, als Théoden, König von Rohan, in die Schlacht von Gondor reitet, ist nicht mehr als ein dumpfes Echo des langvergangenen Ruhms der göttlichen Heiligkeit. Eine Heiligkeit, die diese Welt nicht mehr kennt.
Es ist das Bezeichnende, das zutiefst Melancholische, daß absolut nichts in der Welt von Mittelerde, dem Schauplatz des Herrn der Ringe, zufällig ist. Kein Name eines Orts oder einer Person wurde der Sprachmelodie oder der Einprägsamkeit halber gewählt; sie alle leiten sich aus einer von J. R. R. Tolkien mehr oder weniger erfundenen Sprache ab, sie alle haben Bedeutung, die über die grobe Beschreibung dessen, was gerade passiert, hinausgeht. Der Hornbläser, der große Jäger Oromë, wir kennen ihn nicht, der Leser weiß nichts über ihn, aber wenn Théoden im fünften Kapitel des fünften Buches in die Schlacht reitet, die seinen Tod besiegeln wird, dann denken wir automatisch an Herakles, wir denken an Achill, Siegfried, Hektor und Apollon, die großen Helden und Götter, die mit einem letzten Gang ihre Taten besiegeln – »Schwert-Tag, Blut-Tag, ehe die Sonne steigt!«
Man braucht das umfangreiche und alles erklärende Silmarillion nicht gelesen zu haben, um zu verstehen, daß Mittelerde alt ist, sehr alt. Denn man merkt es in jeder Zeile, man spürt es bei der Beschreibung der Bäume, die ihr eigenes Leben abseits der Menschen und Elben und Zwerge führen, man sieht es den Ruinen an, die von längst Verschwundenem künden, und man hört es in den Liedern, die Bilbo und Aragorn singen, die uns, die Leser, in eine Welt hineinversetzen, die sich gar nicht so sehr von der unseren unterscheidet. Eigentlich gar nicht.
Die Innenstadt von Stuttgart wird zwar nicht von Elben oder Ents oder Hobbits bevölkert, aber überall – ja, sogar in Stuttgart! – finden sich Relikte einer längst vergangenen Zeit. Staunend stehen die Menschen vor den bröckligen Sandsteinen des Alten Schlosses, dessen Grundmauern noch aus Stauferzeiten stammen müssen, errichtet von Herrschern, deren Leichname schon längst verfault sind, aber deren Taten unser Staunen heute erst möglich machen und deren Wälle noch immer stehen. Die Menschen graben bronzezeitliche Schwerter und Ringe und Löffel aus und tragen sie in Museen, die davon künden, daß vor uns unsere Eltern lebten und vor ihnen ihre Eltern; und deren Eltern davor.
So gibt es eine lange Reihe der Menschen gleichen Bluts, das den Staunenden und Lesenden mit einem Menschen verbindet, der vor 2000 Jahren beschloß, hier am Rande der Schwäbischen Alb sein Feld zu bestellen. Nur daß wir seinen Namen vergessen haben. Aber sie sind immer noch da, als Geister, die uns beobachten, als Elben aus vormythischer Zeit, Giganten auf den Schultern von Giganten.
Ein dutzendmal kann man herunterbrechen, was »rechts sein« wirklich bedeutet. Hundertmal kann man diskutieren, ob »rechts« nun wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, ob es eine schweigende Mehrheit gibt, die »ohnehin« so wie wir über Masseneinwanderung, Inflation und Wirtschaftskriege denkt. Tausendmal wird besprochen, ob das, was wir tun, überhaupt einen Sinn habe. Selten vergegenwärtigt, doch subkutan da: daß das, was wir tun, sinnvoll oder nicht, nicht nur unser Kampf ist, sondern nur die letzte Windung in einer langen Kette, begründet von unseren Vorvätern, die sich zweifellos ähnliche Fragen gestellt haben müssen. Fragen, Konflikte und Kriege, die unsere Söhne wieder beantworten und ausfechten werden, aufs neue.
Sich selbst dagegen als komplett isoliertes Wesen zu sehen, als jemand, der unabhängig vom Schicksal seiner Familie und seines Volkes vor sich hinlebt, nur getrieben vom Verlangen, sich selbst – und damit meint man: seinen Selbstdarstellungstrieb – zu verwirklichen, das ist eine Lebensweise, die man sich vor 150 Jahren nicht leisten konnte, geschweige denn vor 2000 Jahren. Die Vorstellung, daß diese Wälder, Berge, Dörfer, Kirchen und Städte unseres Landes gar nichts mit uns zu tun hätten, ja, in dem Moment, wo wir nicht an sie denken, gar nicht existierten, ist eine moderne Idee; eine moderne Lüge, möchte man meinen. Sie stehen uns nicht beliebig zur Verfügung, sie haben nicht auf uns gewartet, und sie lassen sich auch nicht nach modernen Wünschen und Vorstellungen benutzen; als Tourismusmagnet, als postmoderne Erholungszone oder als hippes Trademark für die PR-Kampagne einer Staatskanzlei.
Das Ganze ist schließlich Selbstbetrug; ein Selbstbetrug, bei dem Menschen, von Boomer bis Zoomer, glauben, ihren Lebenssinn in ihren eigenen Taten und ihrer dargebrachten Arbeitsleistung für ein gleichgültiges Kapital gefunden zu haben. Unsere Gesellschaft mag zwar bis vor kurzem immer wohlhabender geworden sein: Ihre Selbsterfüllung hat sie nicht gefunden. Und wo bei den älteren Jahrgängen die Erkenntnis darüber in Trotz umschlägt, da umfängt die Jüngeren die Melancholie, die Lederjacke eines Vereins, auf dessen Libero-Position J. R. R. Tolkien spielt, weil dieses Gefühl der »wilden Schwermut« (Ernst Jünger) so untrennbar mit seinem Werk verbunden ist. Tolkien ohne Vergegenwärtigung des Vergangenen, ohne leises Wehklagen über den leisen Verfall gibt es nicht.
Versteht man die Essenz des Werkes nicht, dann passiert so etwas wie Die Ringe der Macht, die jüngste Amazon-Adaption des Tolkienschen Œuvres, tatsächlich ein Animationsgewitter mit zufällig generiert wirkenden Schaumstoffrüstungen und einer multikulturell zusammengewürfelten Besetzung, die den Zuschauer genauso hoffnungslos unverortet und heimatlos zurückläßt, wie es die postmodernen Innenstädte unseres Landes tun. Die Ringe der Macht, das ist eine Einkaufsmall, bei der ein schlauer Architekt beschloß, die geometrische Glasfassade durch Holzimitat aus Kunststoff zu ersetzen.
Natürlich ist das schlecht, und das muß man so empfinden, sogar, wenn man die Bücher nicht gelesen hat – nicht, weil die erzählte Geschichte in der Amazon-Serie langweilig wäre, sondern weil der Kern der Vorlage, das nicht Zufällige, das Sinnhafte, das tief Bedeutungsvolle kurzerhand über Bord geworfen wurde für eine generische Fantasy-Welt, die nichts mehr kann außer peinlichem Bombast und scheinidyllischen Bildern. Die gute Nachricht ist: So wie Tolkien seine Welt beschreibt, so ist die unsere auch. Unsere Welt ist voller Mythen, Geschichten und sinnstiftendem Leben.
Viele wissen es nicht mehr, aber sie können es fühlen, ganz besonders, wenn man Tolkien liest und dann mit offenen Augen durch die Welt geht. Denn etwas stimmt auch nicht mit unserer Welt, und jemand, der nur den Anblick des Stuttgarter Schloßplatzes und die Namen auf dem Klingelschild seines häßlichen West-Plattenbaus kennt, der will vielleicht gar nicht begreifen, was es ist, das nicht stimmt. Tolkien zeigt, was fehlt.
Und instinktiv begreift man doch, man kann sofort einen dünnen Faden spinnen, der aus Mittelerde nach Stuttgart, Karlsruhe, Düsseldorf oder Leipzig führt. Die Menschen der Vergangenheit, die Menschen der Nebra-Himmelsscheibe, der Stauferburgen und Hohenzollern-Plätze, sie wußten, woher sie kamen, welchen Platz sie in der Welt hatten, sie nahmen die Mythen und Erzählungen an und machten sie zu ihrer Lebensrealität.
Uns fehlen diese Erzählungen, und man merkt dies erst, wenn man seinen Kopf tief in die Bücher steckt, vielleicht schon, wenn man sich die Der Herr der Ringe-Filme von Peter Jackson ansieht. Man liest von den glorreichen Zeiten. Man zittert, wie alle zittern, »die den Klang hörten«, den Klang von Helms großem Horn. Selbstverständlich wird man durch Fantasy-Literatur nicht automatisch rechtsradikal politisiert, und wer jetzt die AfD wählt, tut dies meist, weil ihn die Corona-Politik so schockiert zurückgelassen hat, weil die Überfremdung in unseren Innenstädten jedes erträgliche Maß übersteigt, weil den Kindern Homo-Propaganda eingeimpft werden soll und weil Heizungsterrorismus auch den letzten Bürgerlichen aufwiegelt.
Dennoch sind das lediglich die Symptome des Verfalls, und zu viele Bürger unseres schönen Landes verschließen auch davor noch die Augen, weil dies alles ihre Lebensrealität geworden ist und ein anderes Deutschland gar nicht mehr denkbar oder machbar ist. Masseneinwanderung ist normal, Krieg gegen Rußland geopolitisches Schicksal, rücksichtsloser Kapitalismus menschlicher Urzustand – und doch lesen wir davon nichts in Homers Epen, Tolkien verliert kein Wort über die ökonomischen Gründe, die Mordor in den Krieg zwangen, und keine Selbstzweifel erfüllen die Aragorns und Théodens der Bücher, wenn sie in die Schlacht reiten. Wenn die »Ritter des Hauses von Eorl dem Jungen«, dem großen Urahnen der wilden Rohan-Reiter, sich in einem Akt der Verzweiflung gegen die anbrandenden Horden der Dunkelheit werfen, dann mit einem »Helm ist auferstanden und zieht wieder in den Krieg. Helm für König Théoden!«
Klar, den Hobbits und Menschen wird ganz schummrig angesichts des großen Übels, der überwältigenden Bedrohung aus Mordor, der Dunkelheit, die sich alles bemächtigen wird. Schließlich sind die Ruinen des Turms von Amon Sûl und die »schweigenden Hüter eines längst verschwundenen Königreichs«, die riesenhaften Statuen der Argonath an den Ufern des Anduins, Zeugen der Vergänglichkeit allen Seins, der Beweis, daß Krisen, Kriege und Sauron letztlich auch nur Symptome des Unvermeidlichen sind, des Niedergangs, in dem nicht nur Mittelerde, sondern auch unsere Welt begriffen ist.
Von der fabelhaften Stadt Gondolin ist nichts übriggeblieben. Die Elben verlieren ihre Macht und verschwinden im Westen. Unsere Erfüllung, unser Königreich ist nicht auf dieser Welt zu finden; dennoch besteigt Aragorn, Elendils Erbe, den Thron Gondors. Der weiße Baum von Minas Tirith erblüht von neuem; König Théoden fällt in der Schlacht, doch das Band, das uns durch die Jahrtausende verbindet, ist wiederhergestellt. Und im Moment seines Todes noch, da beschwört der sterbende König das Bild der Vorfahren und der Abenddämmerung. »Ich gehe zu meinen Vätern. Und selbst in ihrer erlauchten Gesellschaft brauche ich mich jetzt nicht zu schämen. Ich fällte die schwarze Schlange. Ein grimmer Morgen, ein froher Tag, ein goldener Sonnenuntergang!« Dann fällt die Nacht über Mittelerde; und auf jeden Schatten folgt ein neuer Morgen.