Die Gründung wiederum vollzog sich am 8. Januar, als in ganz Deutschland – mit dem »klassischen« Schwerpunkt Sachsen – Landwirte für ihre Interessen auf die Straßen gingen, und zwar mit beeindruckender Unterstützung all jener, die ähnliche Motive (Ampelablehnung, allgemeines Protestbedürfnis, Inflationsängste usf.) aufbrachten oder zumindest Solidarität mit den Landwirten als Kerngruppe des Aktionstags üben wollten.
Das BSW gibt – Ende 2023 als Verein wie Anfang 2024 als Partei – an, für die classes populaires anzutreten. Das sind im französischen Jargon der Politik jene »Volksklassen«, die aus Bauern, kleinen Selbstständigen, Arbeitern aller Gehaltsklassen, Angestellten usw. bestehen: eine Mischung aus traditioneller Arbeiterklasse und den Mittelschichten (ohne gehobenes Bürgertum).
Salopp gesagt sind das in Bayern wie in Sachsen, in Niedersachsen wie in Thüringen just jene Teile der Gesellschaft, die am 8. Januar (und vielerorts auch in den Folgetagen) auf die Straße gingen, sich an Blockaden übten oder anderweitig wahrnehmbaren legalen Widerstand gegen eine als übergriffig wahrgenommene polit-mediale Kaste leisteten, die sich also spürbar selbst dazu ermächtigten, als jene Aktionseinheit in Erscheinung zu treten, die sie ansonsten gar nicht verkörpern, da sie im Regelfall politisch nicht aktiv sind.
Am Tag dieser organischen Selbstfindung, der größten Volksproteste seit vielen Jahren, an dem sich die potentielle Zielgruppe des BSW versammelte, suchten Wagenknecht und Gefolgschaft nicht die Nähe zu den protestierenden Menschen, sondern saßen in der drögen Bundespressekonferenz und spulten recht farblos (weil erwartbar und ohne überraschende Momente) ihr Pflichtprogramm ab.
Gewiß: Die Pressekonferenz war länger schon angesetzt, der Termin stand fest. Dennoch: Öffnet sich ein Gelegenheitsfenster aufgrund einer dynamischen Gemengelage, muß eine politische Gruppierung mit Gespür für die »Volksklassen« eigentlich spontan reagieren und sich – beispielsweise – aktiv ins Getümmel werfen; Zeit für Erklärungen, was man als Partei anstrebt, wie man behutsam aufwachsen möchte, wer das Spitzenpersonal für Europa sein wird etc. wäre auch danach noch vorhanden gewesen.
Warum ich mich an dieser »Petitesse« aufhalte, liegt daran: Es steht sinnbildlich dafür, daß just jene BSW-Kreise, die sich als volksnah und bürgerorientiert begreifen, beides nicht sind. Vielmehr handelt es sich bei Wagenknecht, Christian Leye und vor allem auch Fabio de Masi, der im Juni die BSW-Europaliste anführen soll, um politische Intellektuelle, deren Lebensrealität und Lebensumstände wenig mit dem gemein haben, was den durchschnittlichen Protestler, den das BSW als Zielgruppe begreift, vom (oft: langfristigen) Unbehagen zum (oft: erstmaligen) Aufbegehren führte.
Fraglos kann man auch anderen Kreisen eine gewisse obligatorische Volksferne vorwerfen, und auch vor der eigenen Türe, bei der Alternative für Deutschland, gäbe es beim Personal der Partei entsprechende Kritik zu äußern. Doch geht es hier erstens um das BSW, und zweitens bewies ein markanter Teil der AfD, daß man in den vergangenen Jahren viel dazulernen konnte.
Das BSW hingegen begriff und begreift bei aller (oder wegen aller?) Intellektualität nicht die Dimension eines »populistischen Moments« (Alain de Benoist), der Verhältnisse – temporär! – zum Tanzen bringen kann und dadurch auch die Handlungserfordernisse politischer Formationen – temporär! – verändert. Wer diese Einsicht nicht verinnerlicht, wird der AfD im Zeichen einer produktiven Konkurrenz kein Bein stellen können.
Anderer Ansicht sind mit Sebastian Friedrich und Ingar Solty zwei recht bekannte linke Publizisten. Im schicken sozialistischen Hochglanzmagazin Jacobin (Nr. 15, Winter 2023), das nun mit einer 10.000er Auflage erstmals vom reinen Abonnentenformat an die Kioske ging, vermessen sie unter dem Leitmotiv »Das Wagenknecht-Paradox« das Gelände und kommen auf die Formel, daß das BSW »vor allem der AfD schaden könnte«.
Sie machen diese These daran fest, daß es sich bei der aktuellen Situation »um einen sogenannten populistischen Moment« handle. (Das voran gesetzte Wort »sogenannten« vermeidet wohl die Notwendigkeit, auf den Urheber, siehe oben, hinzuweisen).
Dieser Moment, erläutern Friedrich und Solty,
zeichnet sich dadurch aus, dass sich drei Hauptentwicklungen überschneiden: eine ökonomische Krise, eine politische Krise und wachsendes Misstrauen in signifikanten Teilen der Bevölkerung gegenüber den etablierten Parteien.
Dieses Überlappen von Krisenerscheinungen, das als Konvergenz der Krisen zu begreifen und einzuordnen wäre, ist Wasser auf den Mühlen einer Anti-Establishment-Formation, ob diese nun als AfD oder BSW daherkommt. Dieser Befund ist ebenso korrekt wie die anschließende Erwägung, wonach eine fortlaufende Diffamierung der Anti-Establishment-Partei dazu führt, daß man sie erst recht stark macht. Als Insel des Widerspruchs in einem Meer aus Konformität hat die AfD seit Jahren von diesem Prozeß profitiert und tut es immer noch.
Nun kommt also das BSW ins Spiel und damit eine zweite Wahloption für jene, die den hegemonialen Kräften eins auswischen möchten – und wenn es nur an einem Wahltag ist. Durchaus berechtigt schreiben die Autoren, daß Wagenknecht von vielen Menschen als »authentisch« wahrgenommen wird, als Kämpferin gegen die uniformen Haltungen des Mainstreams in Fragen der Migration, von Corona oder auch bezüglich Rußland.
Wagenknecht, und auch hier pflichte ich den Genossen Friedrich und Solty bei, profitiert zudem vom jahrelang einstudierten Nimbus des Widerspenstigen. Immer wieder begehrte sie gegen die eigene Führung der Linkspartei auf, immer wieder eckte sie an und inszenierte sich als Stimme des Volkes gegen das Geschwätz der Eliten:
Die Bevölkerung ist der Parteisoldaten überdrüssig und liebt von jeher Persönlichkeiten, die sich auch gegen ihre eigenen Parteien profilierten,
führen die Jacobin-Analysten aus, unterschlagen dabei aber jene Kleinigkeit, die darin zu finden ist, daß Wagenknecht nun ihre eigene Parteiführung bildet. Gegen sich selbst läßt es sich schlecht rebellieren.
Anschließend reproduzieren die Autoren die tatsächlich naheliegende Option, wonach Wagenknecht nicht als »links« wahrgenommen wird, besondere Resonanz auch in AfD-nahen Milieus finden kann und »gesellschaftspolitisch konservativ tönt«. Daraus leiten sie die These ab, daß das BSW »eine größere Konkurrenz für Rechte als für Linke« sei.
Das Problem an Quartalsmagazinen ist ihr Redaktionsschluß: So konnten Friedrich und Solty aktuelle Datenerfassungen und entsprechende Detailuntersuchungen nicht in die ihre integrieren und nehmen an,
dass die LINKE kaum Stimmen an BSW verlieren würde, da ihre Wählermilieus sich zu sehr unterscheiden.
Nun: Die neuesten Umfragen aus Sachsen, Thüringen und Brandenburg sehen das BSW zwar in Reichweite der Fünfprozenthürde (in allen drei Ländern: 4 Prozent), aber in keinem der Länder ist dieser durchaus realistische 0‑auf-4-Aufwuchs mit erheblichen Verlusten für die AfD verbunden, sehr wohl aber für die Restlinkspartei, die in Thüringen (17 %) ihren Ministerpräsidenten, in Brandenburg und Sachsen (jeweils 6 %) derweil sogar ihren Fraktionsstatus zu verlieren droht. (In Thüringen droht indes durchaus eine Allparteienkoalition inklusive BSW, um MP Höcke zu verhindern.)
Aufgrund dieser mangelhaften empirischen Untermauerung ihrer These kommen Friedrich und Solty zum Fazit, daß der Aufstieg der AfD »gebremst, vielleicht sogar gestoppt« werden könne, würde sich eine neue Wagenknecht-Partei im populistischen Moment in die Bresche werfen.
Ich sehe das anders: Der Aufstieg der AfD kann in Wahrheit nur »gebremst, vielleicht sogar gestoppt« werden, wenn man die AfD nicht gelegentlich vor sich selbst und ihrer Hybris schützt. Letztere hat freilich wenig mit dem BSW und viel mit einem Mangel an standortgebundenem Denken und weltanschaulicher Reife zu tun, was beides zwingend vonnöten wäre, um aus dem populistischen Moment heraus eine nachhaltige Perspektive des politischen Wandels zu generieren.
Dr Stoermer
Nichts kann stoppen was kommt.