Dieser Verein firmiert einstweilen als Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit (BSW), später soll der egomanisch wirkende Name modifiziert werden. Was ist vom BSW zu halten, welche Rolle spielt es im Hinblick auf die AfD und wie sollte man sich als authentische Opposition zum BSW verhalten? Dazu gleich einige Stichpunkte.
Doch zunächst eines vorweg: Das Thema Sahra Wagenknecht ist nicht neu. In der Sezession, bei Antaios, im Podcast »Lagebesprechung« – seit mindestens sechs Jahren werden Wagenknechts Positionen und Begriffe von unserer Seite aus kritisch beleuchtet.
Es ist also begründbar, in dieser »Sammelstelle« nicht bei Null anzufangen. Wer zunächst noch inhaltlicher Einstiege in den Wagenknecht-Kosmos bedarf, findet sie zum Beispiel in meiner siebenteiligen Serie »Wagenknecht, die soziale Frage und wir« auf Sezession im Netz (hier Teil 1), er findet sie aber auch bei Daniel Fiß, ebenfalls SiN, oder erneut bei mir, zur Querfront-Wagenknecht-Debatte.
Als einen von vielen Podcasts zu Wagenknecht empfehle ich »Ist Wagenknecht eine von uns?« von Ein Prozent und »Kramers klare Kante« aus vergangener Woche. Schließlich ist noch Blick nach links zu nennen, ein kaplaken-Band, der sich intensiv mit Wagenknecht und ihren innerlinken Gegnern beschäftigt, aber auch mit der Frage, was »Neue Rechte« und »Wagenknecht-Linke« trennt und eint.
Niemand kann also – cum grano salis – sagen, er hätte von nichts gewußt. Wer sich mit Wagenknecht beschäftigen möchte, von rechts, mit festem Standpunkt, aber ehrlichem Erkenntnisinteresse, hätte also seit fünf, sechs Jahren zahlreiche patriotische Medien konsumieren können; das faktenfreie Gepolter, wie es sich derzeit in Teilen der AfD-nahen Blase, angefeuert durch die üblichen Verdächtigen aus Berlin, breit macht, ist demzufolge nicht nur peinlich, sondern auch vermeidbar gewesen.
Nun aber zu den drei eingangs aufgeworfenen Fragen: 1. Was ist vom BSW zu halten, 2. welche Rolle spielt es im Hinblick auf die AfD und, 3., wie sollte man sich als authentische Opposition zum BSW verhalten?
1. Was ist vom BSW zu halten?
Die Pressekonferenz am 23. Oktober war fad. Wagenknecht saß dort in der Bundespressekonferenz mit ihren engsten Getreuen – zwei Parteiweggefährten und zwei Unternehmern – und verkündete nicht nur die Entstehung des BSW, sondern auch die Beweggründe. Einsetzen möchte man sich für die hart arbeitenden Menschen im Land, die von der Berliner Polit-Blase vergessen werden.
Jemand, der fleißig ist und strampelt, aber nicht voran kommt, beispielsweise in der Provinz lebt und sich vom Establishment ignoriert fühlt, ist so etwas wie der Prototyp des möglichen BSW-Wählers, folgt man Wagenknecht und ihren Kompagnons. Man möchte Arbeiter, Angestellte und kleine Unternehmer adressieren, die arbeitenden Schichten aller Klassen als das tragende Gerüst einer arbeitsteiligen Gesellschaft, deren monatliches Einkommen härter besteuert wird als das Vermögen der Superreichen.
Nur: Das tun auch andere. Und: Wagenknecht wählt als PR-Maschine und als »Unternehmerin ihrer selbst« das spießig-biedere Ambiente der Bundespressekonferenz. Wenn es ihr um den Industriearbeiter, die Pflegerin und den Solo-Selbständigen geht, der aufgrund der (zweifellos) verfehlten Ampel-Mißwirtschaft darbt – wieso sucht sie nicht das Bad in der Menge? Wieso gründet man die Partei nicht in einer alten Fabrik, vor speziellem Publikum, als Anti-Partei zu den Parteien des Establishments?
Wieso verkündet man dort nicht in einem neuen Stil: Wir sind die Stimme der Ausgeschlossenen, der Nicht-Repräsentierten, jener Menschen mithin, die weder woke-grünes Habeck-Programm noch Blackrock-liberales Merz-Programm als Alternative erspähen, denen aber die AfD – tatsächlich oder vermeintlich – zu »angebräunt« ist?
Ich denke, daß Wagenknecht für so ein triviales Gedankenspiel die Phantasie fehlt. Ihre Mannschaft um Christian Leye ist politisch geschult, netzwerkerisch erfahren, organisatorisch bemüht. Aber es fehlt die reale Anbindung an das »Unten«, von dem man so gerne spricht. So ein schnödes Detail wie die Auswahl der Vereinsgründungslokalität verrät bereits allgemeine Tendenzen über das »Von oben«-Projekt BSW, dem es an tragenden (Sub-)Milieus, organischen Politikern, weltanschaulicher Kohärenz und Massenverwurzelung gleichermaßen fehlt.
Das BSW wird auf das Bündnis »Aufstehen« zurückgreifen müssen, das schon einmal als Kopfgeburt ohne Praxiswirkung folgerichtig scheiterte, und als neuer Verein neue Menschen ansprechen müssen. Aber gelingt das? Bisher nicht. Die Kerntruppe ist eher jener Wagenknecht-loyale Minderheitsflügel in der Linken, der alle entscheidenden Abstimmungen in der Partei Die Linke verlor. Eine Gemeinschaft in der Niederlage – Aufbruch sieht anders aus.
Aufbruch vermittelt hätte ein strömungsübergreifendes Projekt, das ein Momentum nutzen kann. Aber weder waren externe Persönlichkeiten involviert, noch ist derzeit ein besonderes Momentum aufzufinden. Im Gegenteil: Die Vereinsgründung als Vorstufe zur Parteigründung war eine monatelange Hängepartie. Das war nicht dynamisch, sondern langatmig und selbst für Sympathisanten zermürbend.
Die Mühen der Ebenen, die jetzt folgen werden – von Satzungsarbeit bis Kreisparteitage –, können im Falle einer Euphorie besser angegangen werden. Doch Euphorie sieht anders aus; der Auftritt auf der Bundespressekonferenz wirkte eher wie ein mühsam einstudierter Verlautbarungsauftritt vor der versammelten, überaus kritischen und doch multiplizierenden Hauptstadtjournaille.
Daniel Fiß faßt es bei den Kollegen vom Freilich Magazin so zusammen:
Der gesamte „Pitch“ des Projekts ist kommunikativ eher schwach ausgefallen. Die Webseite ist optisch solide, aber kein Kracher. Das Werbevideo ist eine Aneinanderreihung von eingekauftem Stock-Material mit schlechter Aussteuerung des „Sprecher-Hintergrundmusik“ Verhältnisses. Keine Dynamik, kein Pep, keine Aufbruchsstimmung. So ähnlich war dann auch die Pressekonferenz. Einschläfernde Monotonie der verschiedenen Sprecher und viel rhetorische Zurückhaltung.
Apropos »Zurückhaltung«: Was sieht das BSW bisher programmatisch vor? Nun, das bisher nur in Stichpunkten bekannte Programm entspricht Kurzzusammenfassungen der letzten Wagenknecht-Bücher und ist vieles, aber nicht, wie ein Bundestagsabgeordneter der AfD faktenfrei schwadronierte, »altkommunistisch planwirtschaftlich«: Für die Interessen der Mehrheit, gegen Konzernprivilegien, für Entlastung der unteren und mittleren Schichten, gegen woke Raserei, für mehr Diskussion und Meinungsvielfalt, gegen die Klimahysterie, für rationalen Zugang in der Energiedebatte, gegen aggressives Westlertum, für Ausgleich mit Rußland, gegen restlos offene Grenzen, für eine Umkehr in der Migrationsfrage usw.
Ein sichtlich entspannter AfD-Parteichef Tino Chrupalla kommentierte diese ersten programmatischen Eckpunkte des BSW bei ZDF Heute (23.10., 19 Uhr) folgerichtig so:
Von den Inhalten her habe ich mich gewundert, es ist fast eins zu eins AfD.
2. Welche Rolle spielt das BSW im Hinblick auf die AfD?
Die programmatische Nähe – jedenfalls auf den ersten Blick – ist unverkennbar, wenngleich ein echtes, ausgearbeitetes und detailliertes BSW-»Manifest« o. ä. noch gar nicht vorliegt. Auch die Nähe bei der Zielgruppenansprache – Arbeiter bis kleine Unternehmer – ist ähnlich, von der Nähe bei der »Anti-«Frage (gegen Grüne, gegen Scholz, gegen Wokismus, gegen Transfanatismus usw.) ganz zu schweigen.
Wie zu erwarten war, folgte dennoch die massive Breitseite gegen die AfD als Mitbewerber. Vom »rechten Rand« war die Rede, von »rechtsextremen« Anklängen bei der AfD, von der Notwendigkeit, die Wähler zurückzuholen usw. Das ist alles Fleisch vom Fleische des Etablierten; es bricht nicht aus, spitzt auch nicht zu, knüpft einfach an.
Das mag attraktiv für jene Minderheit sein, die die AfD mit Bauchschmerzen wählt, aber eigentlich Protest anders, nämlich sozialpopulistisch, artikulieren möchte. Für eine Mehrheit potentiell aufgeschlossener Wähler scheint mir das wenig attraktiv; es riecht zu sehr nach Fortsetzung der Mainstream-Politik unter neuer Flagge.
Eben dies ist es auch, wenn man – voreilig und ohne jede Not – eine Kooperation mit der AfD ausschließt und damit selbst Teil jenes Meinungskartells werden möchte, gegen das man verbal immer wieder ins Felde zieht. Auch das läßt Konsequenz und Selbstvertrauen ebenso vermissen wie auch das notwendige Moment einer neuen Anti-Partei in der Parteienwelt, die mit Konventionen der Herrschenden bricht, gänzlich fehlt.
Zu viel bleibt Stückwerk, zu viel ist auch personellen Rückbindungen geschuldet. Denn selbst wenn Wagenknecht als Person, als Public Intellectual und als Stimme mindestens des »ostdeutschen Volkes« gilt – ihr Umfeld ist altlinks und scheint mir inhaltlich und strategisch zu unbeweglich.
Gewiß: Das BSW steht sinnbildlich für jenes »Dealignment« in der Parteienpolitik, das der belgische Historiker Anton Jäger in seinem Essay Hyperpolitik als »gnadenlos fortschreitende Auflösung aller Parteibindungen« beschreibt. Daß Akteure wie Sevim Dağdelen und Klaus Ernst »ihre« Linkspartei verlassen haben, steht für sich. Die Linke geht den italienischen Weg: Ausdifferenzierung als Vorstufe zur sukzessiven elektoralen Selbstauslöschung.
Doch zu bedenken ist: Eine Abspaltung eines Minderheitsflügels von einem Mehrheitsflügel ist keine Parteispaltung, und ein Projekt, das keine »Linke 2.0« sein möchte, wie es kategorisch auf der Pressekonferenz hieß, aber doch bisher fast ausschließlich auf altlinke Personenzusammenhänge und neben Wagenknecht auf neun weitere Ex-Linke-Bundestagsabgeordnete (indes: bisher 0 Landtagsabgeordnete bundesweit!) beschränkt ist, riecht jedenfalls personell schon einmal verdächtig nach jener Neuauflage einer Linkspartei ohne Wokismus und grüne Ideologiefragmente, die man eigentlich zu vermeiden trachtet.
Erwähnenswert hierbei als Nebenbeobachtung, daß man mit den verbliebenen Linke-MdBs weiterhin eine Fraktionsgemeinschaft im Bundestag bilden möchte: ein entsprechender Antrag von Wagenknecht ging bei der Fraktion ein. Vordergründig möchte man die 108 Mitarbeiter der Gesamtfraktion schützen, doch das wird spätestens dann nicht mehr möglich sein, wenn das BSW von Vereinsform in Parteistrukturen überführt wird (also Anfang 2024).
Diese Linke 2.0‑Kritik heißt im Umkehrschluß freilich nicht, daß das BSW als eine linke Binnenangelegenheit ohne Auswirkungen auf die AfD-Realitäten zu ignorieren wäre. Denn die Überschneidungen in der potentiellen Wählerschaft sind nicht von der Hand zu weisen. Umfragen, die sich dem möglichen Erfolg einer Liste Wagenknecht widmeten, kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Mal 2 Prozent, mal 20 Prozent, gestern plötzlich 12 Prozent – das ist Kaffeesatzleserei, weil Wahlabsichten nicht Wahlentscheidungen an einem bestimmten Stichtag darstellen.
Und dennoch muß die AfD mit einer Konstante aus den divergierenden Meinungsumfragen umgehen: Nämlich mit jener, wonach AfD-Wähler eine Parteigründung Wagenknechts am stärksten begrüßen oder sogar offen mit einer Unterstützung liebäugeln.
Der Sozialwissenschaftler Carsten Braband hat verschiedenste Datensätze zusammengetragen; folgt man seinen Zahlen, würden 41 Prozent der Wagenknecht-Wähler aus der bisherigen AfD-Wählerschaft kommen, aber nur 15 Prozent von der Restlinkspartei. Damit muß man arbeiten.
Mit der Politikwissenschaftlerin Sarah Wagner sekundiert eine weitere Forscherin Braband, indem sie in der Politischen Vierteljahresschrift (3/2023) darauf hinweist, daß eine Wagenknechtpartei »die Kluft zwischen der Linken und der AfD zu überbrücken« in der Lage wäre; sie verbände »wirtschaftlich linke Positionen« mit »kulturell rechten Vorlieben«, was verdächtig nah an die »Gewinnerformel« Timo Lochockis aus dem Cicero kommt, auf die ich in der 115. Sezession mit dem Aufhänger Rassemblement National (RN) hinwies:
Hier hält der RN just an der »Gewinnerformel« fest, von der Timo Lochocki im Cicero berichtete: »eher links« in sozialen und wirtschaftlichen Fragen, »eher rechts« in kulturellen und identitätspolitischen Fragen. Marine Le Pen ist zudem nach Ansicht Lochockis »konsequent« darin, sich als »Anwalt der ›kleinen Leute‹« zu präsentieren, unter die sie sich fortlaufend publikumswirksam begibt, weil sie Ideen von rechts und links (unter Dominanz der rechten Grundpositionierung) zusammenbringt und damit besagte Gewinnerformel als wirkmächtiges Alleinstellungsmerkmal für sich beanspruchen kann.
Diese Formel, zeigt sich Lochocki so überzeugt wie verängstigt, wäre auch in Deutschland die erfolgversprechendste Art, Parteipolitik zu treiben. Aufgrund der »aufziehenden gesellschaftlichen Stürme« – er nennt Inflation, Krieg, Abstiegsängste, Energieknappheit; man ergänze die Migrationsproblematik – sei es nur eine Frage der Zeit, bis Kräfte von den politischen Rändern die Gewinnerformel zu ihrem Programm machen.
Die gute Nachricht ist: Teile der AfD haben damit längst begonnen, und man kann nur hoffen, daß die aktuelle Euphoriewelle nicht dafür sorgt, daß die Verantwortlichen, berauscht von Umfragezahlen, vergessen, ihre Hausaufgaben zu machen.
Dieses Plädoyer aus dem August 2023 hat meines Erachtens durch die BSW-Gründung an Bedeutung sogar zugenommen, was uns direkt zur Frage 3 dieses kursorischen Streifzugs zur BSW-Problematik führt.
3. Wie sollte man sich als authentische Opposition zum BSW verhalten?
Der bereits erwähnte Tino Chrupalla hat gezeigt, wie es geht, Beatrix von Storch hat bewiesen, wie es nicht geht, könnte man schematisierend sagen.
Chrupalla lächelnd und souverän beim ZDF:
Es gibt schon eine Partei für den gesunden Menschenverstand. Das ist die AfD. Von daher ist es (= das BSW) ein weiterer politischer Mitbewerber, aber ich habe jetzt keine Angstperlen auf der Stirn.
So sollte ein selbstbewußter Umgang im Zeichen einer produktiven Konkurrenz ausfallen: Man selbst ist stark, zunehmend flächendeckend verankert und zukunftsorientiert. Gelassen in die neue Situation gehen als Devise für das, was kommen mag.
Wie es nicht geht, zeigt ein klassischer Storch-Tweet, der sogar in Sachen Migration falsch ist, wie nicht nur der real existierende Sozialismus anno dazumals, sondern auch das heutige sozialdemokratisch regierte Dänemark zeigen:
#Wagenknecht|s #BSW ist eine kommunistische Partei: Mehr Steuern, mehr Regulierung, mehr Verstaatlichung. Deutschland braucht das Gegenteil, nämlich wirtschaftliche Freiheit. Zudem: Zuwanderung haben hart Linke noch niemals in der Geschichte begrenzen wollen.
Wer Wagenknecht anhand von Klischees aus der BILD-Zeitung und aus Büchern von 1999 mißt, wird zu derartigen Aussagen kommen müssen. Wer jedoch ihre Bücher der letzten Jahre konsultiert, wird zwar ausreichend Stellen zum Widerspruch, indes freilich weder »Kommunismus« noch Zuwanderungsapologien finden.
Das Problem mit derlei verkürzter Phrasendrescherei, die das Wutgen in der liberalkonservativen Bubble anspricht, ist, daß Realitätschecks potentieller Wähler in der Regel anders ausfallen dürften. Es ist beinahe wie im Fall der legendären AfD-Pauschaldiffamierungen: Indem man die AfD ätzend als »Nazis«, »dumm« und »extremistisch« abtat, half man ihr – Solidarisierungseffekte folgten, weil die falsche Herangehensweise der Gegner zu offensichtlich war.
Ähnliches muß für unseren Umgang mit Sahra Wagenknecht gelten. Wer sie wie ein wildgewordener Neocon anfällt, muß damit rechnen, das Gegenteil zu erreichen: Solidarisierung mit ihr, weil die Kluft zwischen Beleidigung und tatsächlichen Sachverhalten zu offenkundig ist.
Leitet sich daraus eine Umarmungsstrategie in Bezug auf Wagenknecht und das BSW ab? Mitnichten. Man muß Wagenknechts Partei stellen, man kann sie problemlos stellen! Aber eben ohne Schaum vor dem Mund und ohne einen so stumpfen wie anachronistischen »Antikommunismus« zu reproduzieren, der schon 1991 von den Ereignissen überholt wurde und seinen heutigen Träger als in der Regel unpolitischen und emotional aufgewallten Liberalkonservativen entlarvt.
Es bietet sich dagegen an, die Migrationsfrage als bisherigem »Unique Selling Point« der AfD auch hier ins Visier zu nehmen. Wagenknecht plädiert in ihren Schriften für eine landsmännische Parteilichkeit, für strikte Migrationsbegrenzungen, für einen starken (und damit personell beschränkten) Sozialstaat, für ein Ende des Traums offener Grenzen, für Hilfe vor Ort. Doch wie will sie das durchsetzen? Sie kann es nicht, es bleiben Absichtserklärungen.
Ihre mögliche Spitzenkandidatin für Europa, Ulrike Guérot, träumt ja derweil von Neu-Aleppo und Neu-Kabul auf europäischem Boden als Verwirklichung konkreter Hilfe für Flüchtlinge. Und Sevim Dağdelen und Amira Mohamed Ali – Wagenknechts wichtigstes Gespann neben Leye und Lafontaine – lehnen Abschiebungen rigoros ab. Läßt sich das auf Dauer vereinbaren? Nein, das wird Angriffspunkte en masse produzieren. Eine Migrationswende in der deutschen Politik wird es nicht durch Wagenknecht geben, sondern durch die AfD.
Bisher wurde das Team Wagenknecht zudem zusammengeschweißt durch die Ablehnungsfronde aller anderen. Nun sind sie aber selbst eine Formation, die Widersprüche aushalten muß. Können die Protagonisten das? (Ähnliches gilt übrigens für die Restlinkspartei: Dort schien es lange so: Wagenknechts Truppe ist das Problem, danach geht es aufwärts! Doch das Feindbild Wagenknecht ist jetzt ausgetreten, die inneren Widersprüche zwischen den verbliebenen Flügeln haben keinen Sündenbock mehr, der sie im Negativen vereint usw. usf.)
Apropos Amira Mohamed Ali, bis vor kurzem Fraktionschefin der Linksfraktion im Bundestag, gestern neben Wagenknecht Stimme des neuen BSW. Ihr Abstimmungsverhalten spricht Bände; findige Rechtstwitter-Ikonen haben es längst ausfindig gemacht und popularisiert; kluge AfD-Politiker derweil aufgegriffen und adäquat kommentiert.
Man muß die BSW-Leute also inhaltlich stellen: So, wie man auch CDU- oder FDP-Konkurrenten inhaltlich stellt. Eingewendet wird gerne, es handle sich dabei aber um »Kommunisten«. Bei Twitter raunte es, immerhin wäre Wagenknecht – auch heute noch – für Eingriffe des Staates in die Wirtschaft, was mit einer sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar wäre.
Nun stellt sich heraus, daß es mit der »sozialen (!) Marktwirtschaft« bei einigen AfD-Protagonisten nicht besonders weit her ist, sie vielmehr dem Bild einer ungezügelten freien Wirtschaft angloamerikanischen Zuschnitts anhängen, die jedoch im Programm von Kalkar 2020 so nicht festgeschrieben ist, im Gegenteil. In der ersten Zeile der Präambel des Programms heißt es:
Die AfD bekennt sich zum Sozialstaat, zur sozialen Marktwirtschaft und zur Solidarität und gegenseitigen Hilfe innerhalb unseres Volkes.
Damit läßt sich arbeiten. Jedenfalls dann, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß soziale Marktwirtschaft eher Röpke, Müller-Armack und Eucken bedeutet als Rand, Mises und Hayek.
Selbstverständlich sind staatliche Eingriffe in die DNA der sozialen Marktwirtschaft eingeschrieben. Wem der Verweis auf die oben genannten Vordenker (und andere) zu weit hergeholt scheint, greife eben zu einem barrierefreien Einführungstext. Dort heißt es:
Die Preisbildung findet bei vielen Gütern nicht unter den Bedingungen des freien Marktes statt, sondern wird durch den Staat beeinflusst. Dieser Eingriff des Staates in einer sozialen Marktwirtschaft dient dem Schutz der Nachfrager und/oder der Anbieter und sorgt dafür, dass der Marktpreis, der nicht “gerecht” bzw. “sozial” sein kann, dadurch “gerecht” und “sozial” wird.
Würde sich z. B. für ein lebenswichtiges Medikament ein Preis herausbilden, den ärmere Konsumenten nicht entrichten könnten, wäre das vielleicht schon Grund genug, den Markt zu regulieren.
Der Staat kann indirekt oder direkt in die Preisbildung und damit das Marktgeschehen eingreifen.
Man verstehe mich nicht falsch: Natürlich kann man derlei »Ordoliberalismus« (den Wagenknecht linker interpretiert als andere) ablehnen, nur verläßt man dann eben den Boden des AfD-Programms von Kalkar und den Boden der bundesdeutschen Selbstverpflichtung auf die soziale Marktwirtschaft zur selben Zeit. Ob das politisch ratsam ist, inhaltlich wie strategisch, während ein BSW Sozial- und Rechtspopulismus neu zu verknüpfen wagt, wäre zu bezweifeln.
Und »Kommunismus« erblickt in den ehernen Grundlagen einer sozialen Marktwirtschaft, auf die sich auch Wagenknecht offensiv bezieht, nur derjenige Akteur, für den alles »Kommunismus« ist, wo ein »Wir« oder ein gemeinschaftsbejahendes Weltbild neben das »Ich« und ökonomische Partikularinteressen gestellt wird.
Das kann man so handhaben, nur hat man dann wenig mit volksverbundener Politik, viel indes mit pseudoelitärer Klientelpolitik und liberalen Ressentiments zu tun. Exakt dies aber wäre angesichts dessen, daß die Wagenknecht-Partei im Superwahljahr 2024 als Rammbock gegen die möglichen AfD-Siege instrumentalisiert werden wird, so ziemlich das schädlichste, was AfD-Politiker anrichten könnten.
Es ist daher Zeit für knallharte Gegneranalysen, die auf Dummheiten und Plattitüden verzichten und in der Lage sind, Haupt- und Nebengegner (Ampel plus Union versus BSW) zu unterscheiden. Wer noch nicht einmal dieses Einmaleins politischer Lageanalyse beherrscht, wirft die gesamte patriotische Opposition um Jahre zurück. Doch das können wir uns in der anhaltenden Konvergenz der Krisen, in der sich ungeahnte Fenster für Partei und Vorfeld öffneten, nicht leisten.
Loki
Es ist unwichtig, ob man den "Verein BSW" als egomanisch, ob man die Äußerung Chrupallas als unaufgeregt und clever, das Verhalten von Frau von Storch als ungelungen bezeichnen will. Fest steht, mit Wagenknecht zieht ein Gesicht der Linken, wie auch der letzte kleine Teil an Intellekt dieser politischen Strömung, einen neuen Kreis auf dem politischen Parkett unseres Landes. Der Zeitraum ist gut gewählt, fast Drehbuchreif. Es steht zu vermuten, dass unter den Schlagworten "Menschlichkeit, Solidarität etc.pp." 5 bis 7% der Wählerstimmen von der AfD abgezogen werden. Das allein, ist Zielstellung der Wagenknechtschen Aufspaltung. Die AfD ist gut beraten den Vorgang nicht zu unterschätzen!