“Ich erlebe die AfD nicht als unchristlich!”, sagt Pfarrer Michaelis

Martin Michaelis war als evangelischer Pfarrer in Gatersleben in Sachsen-Anhalt tätig. Weil er als parteiloser Kandidat für die AfD bei der Stadtratswahl in Quedlinburg kandidiert, entzog ihm kürzlich der evangelische Kirchenkreis Egeln den Pfarrauftrag für seinen Pfarrbereich. Bekannt wurde Michaelis wegen seiner Corona- und gesellschaftskritischen Reden bei Demonstrationen – dank BILD auch als „Querdenken-Pfarrer“, worüber er in Ausgabe 117 der Sezession sprach. Wie politisch die Kirche und wie kirchlich Politik sein sollte, und warum er als Parteiloser für die AfD kandidiert, darüber spricht Pfarrer Martin Michaelis in unserem heutigen Gespräch.

SEZESSION: Herr Michae­lis, Sie infor­mier­ten am 9. März den Kreis­kir­chen­rat über Ihre Kan­di­da­tur als Par­tei­lo­ser für die AfD bei der kom­men­den Stadt­rats­wahl in Qued­lin­burg. Nur weni­ge Tage spä­ter, am 15. März, klin­gel­ten zwei Her­ren an Ihrer Tür und über­reich­ten Ihrer Frau einen Beschluß des zustän­di­gen Kreis­kir­chen­rats: Ihre Beauf­tra­gung zum Pfarr­dienst wur­de mit sofor­ti­ger Wir­kung auf­ge­ho­ben. Rech­ne­ten Sie mit die­sem Besuch, oder traf es Sie kalt?

MICHAELIS: Es war mir ange­droht wor­den, denn ich hat­te bereits am 14. Febru­ar dem Super­in­ten­den­ten, einem der bei­den Her­ren, münd­lich und dem Per­so­nal­de­zer­nen­ten schrift­lich mit­ge­teilt, daß ich beab­sich­ti­ge, als Par­tei­lo­ser auf der Lis­te der AfD zu kan­di­die­ren. Noch am sel­ben Tag hat der Kreis­kir­chen­rat – ohne jedes Gespräch mit mir – den Beschluß gefaßt, mich im Fall einer Kan­di­da­tur kaltzustellen.

Ein­zu­kni­cken ist nicht gera­de eine mei­ner stärks­ten Bega­bun­gen, und wie man mit Bann­an­dro­hungs­bul­len umgeht, habe ich mir bei Mar­tin Luther abge­guckt. Ich war ledig­lich ein wenig gespannt, ob sie es wirk­lich machen, denn mit deut­scher Gesetz­ge­bung ist das nicht kompatibel.

SEZESSION: Einen Got­tes­dienst in Nach­ter­stedt durf­ten Sie noch am sel­ben Tag nicht mehr hal­ten. Wel­che Reak­tio­nen der Bür­ger und Got­tes­dienst­be­su­cher haben Sie seit­dem erreicht?

MICHAELIS: Es waren wel­che dort, die extra wegen mir ange­reist waren, denn ich soll­te im Posau­nen­chor mit­spie­len und die Pre­digt hal­ten. Als dann der Ersatz­pfar­rer von christ­li­cher Gemein­schaft und­so­wei­ter rede­te, fan­den die Besu­cher das der­art schein­hei­lig, daß sie die Kir­che ver­las­sen haben. Am Sonn­tag danach hat auch unge­fähr die Hälf­te der Gemein­de einen Got­tes­dienst ver­las­sen und ist flugs nach Qued­lin­burg zu uns gekom­men. In einem wei­te­ren Ort ist der Gemein­de­kir­chen­rat mit der Dienst­un­ter­sa­gung über­haupt nicht ein­ver­stan­den und hat sich beschwert, auch weil er bei der Ent­schei­dung schlicht über­gan­gen wur­de. Die Gemein­de möch­te mich gern behalten.

SEZESSION: Hat man Ihnen damit viel­leicht eine Ent­schei­dung abge­nom­men? Stadt­rat oder Got­tes­dienst? Oder hiel­ten Sie bei Ihrer Kan­di­da­tur bei­des für möglich?

MICHAELIS: Vor eine sol­che Wahl haben sie mich tat­säch­lich schrift­lich stel­len wol­len. Aber ich will ja nur an der Kom­mu­nal­wahl teil­neh­men, mehr nicht. Eine Wahl pro Jahr reicht. Also habe ich mich nicht vor die Wahl stel­len las­sen wol­len. Es ist kom­plet­ter Unsinn, denn das Pfarr­dienst­ge­setz erlaubt eine poli­ti­sche Betei­li­gung aus­drück­lich und die sons­ti­ge Rechts­la­ge auch.

Natür­lich geht bei­des zusam­men. Wo leben wir denn? Man muß nur strikt tren­nen kön­nen: Auf die Kan­zel gehö­ren kei­ne poli­ti­schen State­ments für irgend­ei­ne Par­tei, son­dern das Wort Got­tes, und im Rat­haus suchen wir der Stadt Bes­tes. Ganz ein­fach ist das. Man muß es nur wol­len – und können.

SEZESSION: Gelingt der Evan­ge­li­schen Kir­che die­se Tren­nung, wenn sie Lui­sa Neu­bau­er auf der Kan­zel im Ber­li­ner Dom eine Pre­digt hal­ten läßt?

MICHAELIS: Das ist nur ein Bei­spiel, aber genau: Da wird jemand mit einer grü­nen Agen­da auf die Kan­zel gelas­sen. Ein­mal abge­se­hen vom frag­wür­di­gen Inhalt steht in der Augs­bur­gi­schen Kon­fes­si­on (Con­fes­sio August­a­na, CA) Arti­kel 14, „daß nie­mand in der Kir­che öffent­lich leh­ren oder pre­di­gen oder die Sakra­men­te rei­chen soll ohne ord­nungs­ge­mä­ße Beru­fung“. Dazu gehört zuerst ein Theo­lo­gie­stu­di­um und eine kirch­li­che Aus­bil­dung. Bei­des hat Frau Neu­bau­er nicht, erst recht kei­ne Beru­fung, also kei­ne Ordination.

Im Sep­tem­ber 1530, in der Apo­lo­gie zur CA, führ­te Phil­ipp Melan­chthon dazu aus: „Die Rase­rei der Bischö­fe in die­ser Ange­le­gen­heit ist der Grund, war­um jene kir­chen­recht­li­che Ord­nung sich allent­hal­ben auf­löst, die wir sehr bei­be­hal­ten wol­len.“ Ich sehe also eher ein Pro­blem dar­in, daß die Kir­chen­lei­tun­gen die­se Tren­nung selbst nicht hin­be­kom­men, wenn sie den Men­schen zum Bei­spiel das Wahl­ver­hal­ten vor­schrei­ben wollen.

Jetzt pla­nen sie sogar für die kom­men­de Syn­ode eine Geset­zes­än­de­rung, wonach von Äuße­run­gen des Ver­fas­sungs­schut­zes abhän­gig gemacht wer­den soll, ob jemand für den Gemein­de­kir­chen­rat kan­di­die­ren darf. Das ist ja so, als ob man vor 1989 die Sta­si um Erlaub­nis gefragt hät­te. Dafür sind wir damals bestimmt nicht auf die Stra­ße gegan­gen. Unfaß­bar ist es für uns Ost­deut­sche, daß sich die Kir­che von einer staat­li­chen Behör­de abhän­gig macht – dazu von einer sol­chen – und damit ihre Gemein­de­glie­der bedrückt und aus­grenzt, anstatt sie zu schüt­zen, und das mit­tels Kirchengesetz!

SEZESSION: Pla­nen Sie, gegen die Ent­schei­dung des Kir­chen­ra­tes juris­tisch vorzugehen?

MICHAELIS: Alles zu sei­ner Zeit. Natür­lich haben wir auch das bedacht und hal­ten Plä­ne bereit. Für ein wenig juris­ti­sche Exper­ti­se machen wir es uns dem­nächst mal gemüt­lich, aber eigent­lich ist die Sach­la­ge glas­klar. Kirs­ten Fehrs, die amtie­ren­de Rats­vor­sit­zen­de der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land (EKD), hat sich auch zu mei­nem Fall geäu­ßert, natür­lich ohne mit mir zu spre­chen, und stell­te fest: “Wie sich das grund­sätz­lich im Kir­chen­dienst ver­hält, damit wer­den wir uns auch ein­ge­hend recht­lich beschäf­ti­gen müs­sen, das ist juris­tisch nicht ganz ein­fach”. Da stim­me ich ihr zu, denn so wird es wohl wer­den, also für sie. Ich fin­de es ganz ein­fach: ein­fach falsch.

SEZESSION: Die Besu­cher Ihrer Got­tes­diens­te sind auch poten­ti­el­le Wäh­ler – ver­mu­ten Sie Aus­wir­kun­gen auf die Ergeb­nis­se der kom­men­den Stadt­rats­wahl am 9. Juni, bei der Sie kandidieren?

MICHAELIS: Kir­chen­lei­ten­der­seits scheint man das sehr zu befürch­ten. Des­halb geben alle mög­li­chen Leu­te State­ments zu mei­ner Ent­schei­dung ab, auch wel­che, die mich noch nie gese­hen, geschwei­ge denn mit mir gespro­chen haben, wie eben die erwähn­te Rats­vor­sit­zen­de der EKD, um die Leu­te vor mir zu war­nen. Im Gespräch auf der Stra­ße habe ich den Ein­druck, daß vie­le das als Anre­gung neh­men, um über ihre Wahl­ent­schei­dung schon mal nachzudenken.

Eine so weit­rei­chen­de und erfolg­ver­spre­chen­de Wahl­kam­pa­gne in nahe­zu allen Medi­en hät­te ich natür­lich nie­mals allein hin­be­kom­men. Mar­tin Luther hat ein­mal geschrie­ben: „Wie treff­lich mir die Ver­fol­gung bis­her genützt hat, kann ich gar nicht erzäh­len, ohne dafür mei­nen Fein­den zu danken.“

SEZESSION: Wen­den sich denn auch die Bür­ger, die den Umgang mit Ihnen kri­ti­sie­ren, an die Kir­chen­lei­tung? Wis­sen Sie das?

MICHAELIS: Ja, das müs­sen eini­ge sein, denn manch­mal bekom­me ich deren Brie­fe auch zu lesen. Die Autoren sind zum Teil sehr auf­ge­bracht. Wenn ich die Kom­men­tar­spal­ten unter diver­sen Arti­keln lese, fürch­te ich aller­dings, daß noch ein ganz ande­res Wahl­ver­hal­ten beein­flußt wer­den könn­te, näm­lich ob man einen Kir­chen­aus­tritt voll­zieht oder nicht. Vie­le sind ent­setzt, wie sich die Kir­chen ver­hal­ten, unter ande­rem bei dem gan­zen Coro­nabe­trug, der sich jetzt offen anhand der jüngst ver­öf­fent­lich­ten RKI-Papie­re bele­gen läßt, aber eben auch in mei­nem Fall. Das fin­de ich beun­ru­hi­gend. Aber auch das scheint mich von der Kir­chen­lei­tung zu unter­schei­den, denn mit mei­ner Dienst­un­ter­sa­gung nimmt sie das bil­li­gend in Kauf.

SEZESSION: Ist das auch ein Grund für Ihre Kan­di­da­tur – das Ver­hal­ten der Kir­che zur Gesundheitspolitik?

MICHAELIS: Nun, über­haupt kan­di­die­re ich, weil ich mir in vie­len Jah­ren als Vor­sit­zen­der ver­schie­de­ner Pfarr­ver­tre­tungs­gre­mi­en vie­le Kom­pe­ten­zen aneig­nen durf­te. Kirch­li­cher­seits hat­te man dar­an seit 2022 kein Inter­es­se. Mein Vor­schlag, mich gründ­lich mit dem The­ma „Auf­ar­bei­tung der Coro­na­kri­se in der Kir­che“ zu befas­sen, wur­de abge­lehnt. (Das hät­te ich mir ja den­ken kön­nen, ich woll­te es aber wissen.)

Dem Gleich­nis Jesu von den anver­trau­ten Talen­ten (Mt. 25) habe ich ent­nom­men, daß man die Talen­te nicht ver­gra­ben darf. Also war ich offen für ein neu­es Betä­ti­gungs­feld, wo man die mei­ni­gen zu schät­zen weiß. Kaum hat­te sich etwas gefun­den, hat die Kir­che ihr Des­in­ter­es­se nun mit der Dienst­un­ter­sa­gung ein­drucks­voll bekräftigt.

SEZESSION: Nun wird Ihnen die Nähe zu einer Par­tei zum Vor­wurf gemacht – dabei kan­di­die­ren Sie als Par­tei­lo­ser. Wie­so eigent­lich? Und wie­so par­tei­los auf der Lis­te der AfD?

MICHAELIS: Par­tei­los bin ich und wer­de ich blei­ben, weil ich mir eine gewis­se Unab­hän­gig­keit bewah­ren will, wel­che für ande­re erkenn­bar sein soll. Das ist mir vor allem aus beruf­li­chen Grün­den wich­tig. Auf der Lis­te der AfD kan­di­die­re ich, weil ich das mit ande­ren Chris­ten zusam­men tun will. Zwei von ihnen gehö­ren auch zur Evan­ge­li­schen Kir­che in Mit­tel­deutsch­land, einen habe ich sogar selbst getauft. Ich möch­te mich in einer Situa­ti­on, in der die Kir­che ver­langt, man müs­se sich von der AfD fern­hal­ten oder sogar distan­zie­ren, bewußt an die Sei­te derer stel­len, die aus­ge­sto­ßen wer­den, min­des­tens aber vor den Kopf. Übri­gens ist der Anteil von Chris­ten, die auf unse­rer Lis­te kan­di­die­ren und auch der christ­li­chen AfD-Wäh­ler über dem Anteil der Chris­ten an der Bevöl­ke­rung in Deutschland.

SEZESSION: Der Lan­des­bi­schof der Evan­ge­li­schen Lan­des­kir­che in Würt­tem­berg, Ernst-Wil­helm Gohl, erklär­te kürz­lich, die AfD sei für „Chris­tin­nen und Chris­ten“ nicht wähl­bar und die­se müß­ten sich „dem Ungeist mutig ent­ge­gen­stel­len“. Was hal­ten Sie von Aus­sa­gen wie dieser?

MICHAELIS: Zuerst ein­mal waren das frü­her, als ich ein Kind war, immer nur „Chris­ten“. Da kann­te man noch Pau­lus, der schrieb (Gal 3,28): „Hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid alle­samt einer in Chris­tus Jesus.“ Na ja, viel­leicht fand ich das damals gut, weil ich mich als Kind für die Unter­schie­de nicht so sehr inter­es­sier­te, wie das Kin­dern heu­te auf­ge­nö­tigt wird. Also Ungeis­ter zum Ent­ge­gen­stel­len gibt’s mehr als genug.

SEZESSION: Und was hal­ten Sie von Wahl­emp­feh­lun­gen durch Gottesdiener?

MICHAELIS: Nach Arti­kel 7 der Augs­bur­gi­schen Kon­fes­si­on ist die Kir­che „die Ver­samm­lung aller Gläu­bi­gen, bei denen das Evan­ge­li­um rein gepre­digt und die hei­li­gen Sakra­men­te laut dem Evan­ge­li­um gereicht wer­den.“ Die Kir­che ist also zuerst die Gemein­de. Kir­chen­lei­tun­gen haben sol­che ableh­nen­den, poli­ti­schen Urtei­le nicht abzu­ge­ben, nicht zuletzt, weil „es genügt zur wah­ren Ein­heit der christ­li­chen Kir­che, daß das Evan­ge­li­um ein­träch­tig im rei­nen Ver­ständ­nis gepre­digt und die Sakra­men­te dem gött­li­chen Wort gemäß gereicht wer­den.“ Es bedarf nicht glei­cher Zere­mo­nien, erst recht nicht übers glei­che, meist lin­ke Knie gezo­ge­ner poli­ti­scher Auffassungen.

SEZESSION: Das The­ma mutet fast schon zu welt­lich an, oder? Es wirkt irgend­wie deplat­ziert für Men­schen, die das Wort Got­tes ver­kün­di­gen, Par­tei­emp­feh­lun­gen abzugeben.

MICHAELIS: Dar­über, daß Kir­chen­lei­tun­gen in die­ser rigo­ro­sen Wei­se in welt­li­che Din­ge ein­grei­fen, soll­ten zumin­dest wir Luthe­ri­schen seit 500 Jah­ren hin­aus sein. Die Äuße­rung Gohls zeigt, wie wenig die luthe­ri­schen Bekennt­nis­schrif­ten zur kri­ti­schen Prü­fung eige­nen Han­delns und viel­leicht Den­kens – da bin ich mir nicht immer sicher – ver­in­ner­licht sind. In CA 28 wird ganz klar eine Gren­ze gezo­gen: „Weil nun die Gewalt der Kir­che oder der Bischö­fe ewi­ge Güter gibt und allein durch das Pre­digt­amt aus­ge­übt und betrie­ben wird, behin­dert sie nicht im min­des­ten die Poli­zei (Staats­ord­nung) und das welt­li­che Regiment.“

SEZESSION: Also hält der Pro­tes­tan­tis­mus zum Ver­hält­nis zwi­schen Kir­che und Poli­tik eigent­lich doch kon­kre­te Ant­wor­ten bereit?

MICHAELIS: Natür­lich! Wenn in einer Demo­kra­tie das welt­li­che Regi­ment in geord­ne­ter Wei­se vom Volk aus­geht, bes­ser: aus­ge­hen soll, wozu auch Wah­len gehö­ren, steht es einer Kir­che oder einem Bischof nicht zu, auch nicht meh­re­ren zusam­men, Tei­le des Vol­kes mora­li­sie­rend zu behin­dern oder gar aus­schlie­ßen zu wol­len, weder bezo­gen auf deren Wahl­ver­hal­ten noch auf die Kan­di­da­tu­ren, wie jetzt in mei­nem Fall. Das ist also nicht nur ver­fas­sungs­wid­rig, es ist bekennt­nis­wid­rig, auch wenn sie das Gegen­teil behaupten.

Ganz am Ende wird die CA in Arti­kel 28 sogar sehr deut­lich und emp­fiehlt den Bischö­fen, „sie mögen beden­ken, wie sie es vor Gott ver­ant­wor­ten kön­nen, daß sie mit die­ser ihrer Här­te die Spal­tung (der Kir­che) ver­ur­sa­chen, was sie doch bil­li­ger­wei­se ver­hü­ten hel­fen soll­ten.“ Nach unse­rem Amts­ver­ständ­nis gibt es kei­ne kirch­li­che Hier­ar­chie, son­dern nach CA 28 „soll man auch Bischö­fen, die ordent­lich gewählt sind, nicht gehor­chen, wenn sie irren oder etwas gegen die hei­li­ge, gött­li­che Schrift leh­ren oder anord­nen.“ Neun Jah­re vor­her in Worms hat­te Luther gesagt: „Viel­mehr muß ein Christ für sich selbst prü­fen und urteilen.“

Also, was den­ken die sich, wer sie sind? Ja, und wer die ande­ren in ihren Augen zu sein haben?

SEZESSION: Erle­ben Sie die AfD als unchristlich?

MICHAELIS: Nein! Dann hät­te ich mei­nen Namen auf die­ser Lis­te nicht sehen wol­len. Das kann man kei­nes­wegs so pau­schal sagen. Es gibt sehr vie­le Posi­tio­nen, die sich auf eine lan­ge christ­li­che Tra­di­ti­on grün­den und beru­fen kön­nen und das aus­drück­lich wol­len. Ich fän­de es gut, wenn die Kir­chen­lei­tun­gen, ande­re inter­es­sier­te Chris­ten natür­lich glei­cher­ma­ßen, mit der AfD end­lich unvor­ein­ge­nom­men dar­über dis­ku­tie­ren wür­den. Dann könn­te auf Sei­ten der AfD im Pro­gramm viel­leicht etwas kor­ri­giert wer­den, falls man dabei etwas ent­de­cken soll­te, was mit dem christ­li­chen Glau­ben noch nicht gut zusammenpaßt.

Viel­leicht wür­de man auf kirch­li­cher Sei­te aber auch ent­de­cken, daß die tra­di­tio­nel­len von der AfD ver­tre­te­nen Posi­tio­nen schlicht Alt­her­ge­brach­tes sind, was vor weni­gen Jah­ren selbst­ver­ständ­lich als christ­lich ver­stan­de­nes Ver­hal­ten galt.

SEZESSION: Haben Sie ein Bei­spiel für so etwas Althergebrachtes?

MICHAELIS: Dazu zäh­le ich den unein­ge­schränk­ten Schutz des unge­bo­re­nen Lebens, selbst­ver­ständ­lich auch, wenn ein Kind behin­dert zur Welt kom­men soll­te, das Pri­mat des tra­di­tio­nel­len Fami­li­en­bil­des, der Schutz der Men­schen vor Gewalt, Betrug usw., was Mar­tin Luther in der Leh­re von den zwei Regier­wei­sen Got­tes als Auf­ga­be welt­li­cher Obrig­keit benennt. Dazu gehö­ren eben siche­re Gren­zen, der Schutz des Eigen­tums vor Räu­bern aller Art, auch vor staat­li­chem Zugriff „unter dem Schein des Rechts“, der Schutz der Gesund­heit, die Pflicht zum Frie­den, zur Wahr­heit und Wahrhaftigkeit.

Im Sin­ne die­ser Leh­re Luthers ist das Drän­gen gera­de die­ser Par­tei zur Auf­ar­bei­tung der Coro­na­kri­se durch­aus christ­lich zu nen­nen. Dafür ste­hen Abge­ord­ne­te mit ihrem Namen ein, z.B. im Euro­pa­par­la­ment Chris­ti­ne Ander­son und Joa­chim Kuhs oder Bea­trix von Storch, um nur drei zu nen­nen, die ich wegen ihrer kla­ren Ansa­gen beson­ders schätze.

SEZESSION: Gibt es zurück­bli­ckend ein Bei­spiel, daß die Evan­ge­li­sche Kir­che jeman­den aus ihren eige­nen Rei­hen aus­schließt wegen einer poli­ti­schen Kandidatur?

MICHAELIS: Solan­ge ich den­ken kann, nicht. Es gab, bevor ich anfing zu den­ken, Men­schen, denen das so gegan­gen ist. Für einen habe ich mal einen Blu­men­strauß beim Schul­aus­flug mit nach Buchen­wald genom­men. Die Leh­re­rin mach­te schon an der Bus­hal­te­stel­le ein lan­ges Gesicht, weil der nicht für Ernst Thäl­mann bestimmt war, son­dern für Pfar­rer Paul Schnei­der. Es brauch­te ein biß­chen Kin­der­mut, denn ich muß­te vor allen ande­ren dar­um bit­ten, daß mir die Zel­le auf­ge­schlos­sen wur­de. Es hat der Ent­wick­lung mei­nes Mutes nicht geschadet.

SEZESSION: Wie emp­fin­den Sie den oft gezo­ge­nen Ver­gleich der heu­ti­gen BRD mit der DDR vorm Hin­ter­grund Ihrer per­sön­li­chen Erfah­run­gen als Christ in der ehe­ma­li­gen DDR?

MICHAELIS: Zu DDR-Zei­ten hat uns die Kir­chen­lei­tung in Schutz genom­men. Mit „uns“ mei­ne ich Pfar­rer aber auch Gemein­de­glie­der. Gegen Über­grif­fe oder Anwer­be­ver­su­che der Sta­si wur­de uns damals gesagt, daß wir das sofort dem Lan­des­bi­schof Wer­ner Leich berich­ten soll­ten, womit wir als IM nicht mehr in Fra­ge kamen.

Auch hat sich in Thü­rin­gen die Kir­chen­lei­tung gegen Benach­tei­li­gun­gen bei Schü­lern ver­wen­det. Ich selbst habe Hil­fe bekom­men, als das Wehr­kreis­kom­man­do den Beginn mei­nes Theo­lo­gie­stu­di­ums ver­hin­dern woll­te. Wäh­rend des Theo­lo­gie­stu­di­ums haben wir an Frie­dens­de­mons­tra­tio­nen teil­ge­nom­men. Wenn es des­halb Pro­ble­me gab, wur­de uns auch gehol­fen, hat sich die Kir­chen­lei­tung schüt­zend vor und man­che der Pro­fes­so­ren sogar neben uns gestellt.

In mei­ner ers­ten Stel­le in Alten­burg wur­de ich mal zum Rat des Krei­ses ein­be­stellt, um mir diver­se Vor­wür­fe zu machen. Das habe ich der Kir­chen­lei­tung mit­ge­teilt. Danach ist nichts pas­siert, gar nichts. Des­halb bin ich auch Pfar­rer gewor­den. Ich habe das selbst erlebt und als Pfarr­ver­tre­tungs­vor­sit­zen­der für ande­re prak­ti­ziert. Im Pfarr­dienst­ge­setz der EKD § 47 steht, Pfar­rer sind „gegen unge­recht­fer­tig­te Angrif­fe auf ihre Per­son in Schutz zu neh­men, ins­be­son­de­re auch gegen poli­tisch moti­vier­te Angrif­fe“. Jedoch scheint der Para­graf in die­sen Tagen mei­ne Per­son betref­fend von der Kir­chen­lei­tung offen­bar ungern ange­wen­det zu wer­den, oder sie haben ihn ein­fach nur vergessen.

SEZESSION: Was neh­men Sie aus Ihren letz­ten Jah­ren mit, „im Gegen­wind“ sozu­sa­gen, für Ihre Stadtratskandidatur?

MICHAELIS: Vor eini­gen Mona­ten bekam ich ein gerahm­tes Sakristei­ge­bet von Mar­tin Luther als Aner­ken­nung für mei­ne Stand­haf­tig­keit in den letz­ten weni­gen Jah­ren vom Sohn eines Pfar­rers geschenkt. Es hing im Arbeits­zim­mer sei­nes Vaters, der Grün­dungs­mit­glied der Beken­nen­den Kir­che war. Er wur­de damals vor die Wahl zwi­schen Ruhe­stand oder KZ gestellt und hat sich ver­ständ­li­cher­wei­se für den Ruhe­stand ent­schie­den. Das von sei­nen Kin­dern geschenkt zu bekom­men, hat mich sehr berührt und gestärkt. Es macht deut­lich, wie und wo mich Men­schen sehen, die mich wirk­lich ken­nen und nicht nur über mich schrei­ben, quat­schen oder mei­nen, urtei­len zu sol­len. Ich kann selbst urtei­len und entscheiden.

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Kommentare (25)

RMH

2. April 2024 10:50

" ... fürchte ich allerdings, daß noch ein ganz anderes Wahlverhalten beeinflußt werden könnte, nämlich ob man einen Kirchenaustritt vollzieht oder nicht." Da liegt der Hase im Pfeffer. Als die Diakonie sich beschwerte, dass der Impfzwang nur für Pflegekräfte gilt & die Leute deshalb davon laufen, wurde schnell zum Einfangen der Kräfte die allg. Impfpflicht gefordert und von der damaligen EKD Ratsvorsitz. Kurschus abgesegnet und das Impfen zur Pflicht aus christlicher Nächstenliebe erklärt. Da ging es im Kern also ums Geld. Das brachte bei mir das Faß zum überlaufen und ich bin ausgetreten, denn die paar Steuer-Euro konnte ich diesem anmaßenden und mit der Befürwortung der Impfpflicht nicht mehr liebenden, sondern übergriffigen Verein nicht mehr überlassen. Die evang. Kirche steht finanziell bei weitem nicht so da, wie die katholische, von daher treffen sie Austritte durchaus. Am Ende werden wir ein Heer von 1 Mann-Gemeinden (analog zu den 1 Mann-Kasernen von G.K.) und ein Erstarken der Freikirchen erleben. Mit letzteren kann ich leider nicht so viel anfangen, denn ich habe evangelisch-lutherisch zwar als Bibelfest in Erinnerung, aber nicht als biblisch fundamentalistisch. Wie auch immer, da werden gerade tausende gemeindlich heimatlos. Das Rad lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Eine neue christl.-lutherische Kirche muss her.

Monika

2. April 2024 11:08

Ich erlebe die Kirchen in Deutschland als zunehmend unchristlich. "Gilt die Osterbotschaft auch AfD-Wählern ?" Das fragte ich unseren Pfarrer nach der Christmette an der Kirchentür. Er hatte in seiner Osterpredigt vor den "Rechtspopulisten" gewarnt, die die Demokratie gefährden. Mein Mann meinte zum Priester: "Haben Sie keine Angst, dass Ihnen die Hand abfällt, wenn Sie einem "Rechtspopulisten" die Hand geben?" Die Anbiederung der Kirchen an den Zeitgeist finde ich unerträglich. Beide Kirchen sind Mitglied im  gesellschaftlichen Bündnis "Zusammen für Demokratie", völlig unkritisch gegenüber Linkspopulisten und Linksextremisten.  Ich bin schon lange aus dieser Kirche (der mit dem Staat verbandelten Körperschaft) ausgetreten. Trotzdem beichte ich und gehe zu den Sakramenten. Die Seelsorge sollte nicht nur sexuellen Minderheiten gelten, sondern auch nichtlinken Christen! Schlimm ist Anbiederung der  deutschen Bischöfe, die hervorragend ausgebildet sind, den "inneren Gehalt der Schriften kennen, ihn jedoch nicht verkünden wollen" (Hildegard v. Bingen, 1. Vision).

das kapital

2. April 2024 12:24

@ monika Die Frage, ob der Antichrist von den christlichen Großkirchen in Deutschland Besitz ergriffen hat ist derzeit eine weit öffnende Frage. Hätte sich Christus so verhalten, wie sich derzeit EKD und Deutsche Bischofskonferenz verhalten ? Und wenn nein, sind sie dann überhaupt noch im Auftrag des Herrn unterwegs ? /// Luther hat für 500 Jahre weltlich wie kirchlich Substanz geschaffen. Die heutigen essen alles auf und schaffen nichts, auf dem die nächsten 500 Jahre aufgebaut werden könnte. Raubbau statt Anbau. Kreuze abhängen, statt evangelisieren. /// Praxis ist heute in der Diaspora, dass 14jährige getaufte Christen sich nicht konfirmieren lassen, sondern zur Jugendweihe gehen, weil alle Mitschüler auch dahin gehen. Gruppendynamik statt Christentum. Nicht mehr Gruppendynamik und Christentum.

Dr Stoermer

2. April 2024 13:22

Menschen wie Martin Michaelis sind Geschenke für uns alle. Sie wirken stärker als sie es vermutlich selbst von sich denken, denn viele andere richten sich an ihnen auf, ohne groß davon zu sprechen. Danke für dieses Beispiel eines wahrhaftigen Christen. 

Amos

2. April 2024 13:29

Die Diskussion um Kirchenaustritte greift zu kurz. Europa und gerade das Gutmenschentum, das meint, allein das moralische Erbe des Christentums antreten und vom theologischen Inhalt abtrennen zu dürfen, sind christlich grundiert.  Die politisierte Kirche, die nicht mehr an Kreuz und Auferstehung glauben will und der fromme Staat, der sich moralisch ermächtigt über das Recht erhebt, brauchen einander. Sie sind als "Zivilgesellschaft", zwei Seiten der Medaille Zivilreligion. Wäre es möglich die Zwei-Reiche-Lehre als Kernbestandteil christlicher Lehrmeinung ("mein Reich ist nicht von dieser Welt") wieder zu beleben, würde auch diese unheilige Allianz von Thron und Altar deutlich als das Narrentreiben, das sie bereits dem (frühen) Luther war. In sofern ist Abkehr und Austritt der falsche Weg, der den die Kirchenoberen ja gerade fordern, nein, nach vorne und mitten durch sie hindurch muss die Richtung sein, das sieht Herr Michaelis genau richtig, Danke dafür!

das kapital

2. April 2024 16:22

Danke an die Redaktion, dass Herrn Michaelis hier Platz eingeräumt wird. Eine EKD, die Gott für woke erklärt, hat ein schlimmes Erkenntnisproblem. Mich ärgert, dass sich solche spirituell Abartigen des kulturellen und weltlichen Erbes Luthers bemächtigt haben und weiter bemächtigen. Luther würde einige der heutigen "Kirchenhelden" eigenhändig aus der Kirche rausschubsen.

kikl

2. April 2024 18:41

Ein sehr bewegendes Interview. Sind wir wieder so weit!? Vielen Dank dafür.

Klaus Kunde

2. April 2024 20:54

Mein Dasein als unverbesserlicher Protestant speist sich vermutlich aus familiärer Tradition, ist wesentlicher Bestandteil meiner Identität. Das schließt keineswegs aus, daß ich der unsäglichen EKD-Politik ablehnend gegenüberstehe. Während ich mit dem Gemeindepfarrer in gutem Einvernehmen stehe, der begreift durchaus meine kritische Einstellung dem Zeitgeist gegenüber, sieht es mit weiteren Vertretern seiner Zunft ganz anders aus. Der ziemlich bräsige Superintendent erlaubt sich unverhohlene Indoktrination von der Kanzel. Beispielsweise: Von einer Überfremdung könne überhaupt keine Rede sein. Angesichts eines Migrantenanteils von etwa 75% im Einzugsbereich habe ich mir bei der Verabschiedung erlaubt, seine örtliche und zeitliche Orientierungsfähigkeit zu hinterfragen. Wichtig, für alle noch anwesenden Gemeindemitglieder gut vernehmbar. Natürlich bin ich längst das sprichwörtliche schwarze Schaf der Gemeinde, kaum, daß mich noch jemand grüßt. Mehrfache Vorfälle ähnlicher und anderer Art lassen angesichts meiner Teilnahme an Gottesdiensten den Blutdruck einiger Pastoren nicht unberührt. Wenn die EKD könnte wie sie wollte, wäre ich schon vor Jahren expediert worden. Solange ich am Glaubensbekenntnis festhalte, geht das nicht. Die werden mich nicht los. Halleluja.

RMH

3. April 2024 07:47

"Die Diskussion um Kirchenaustritte greift zu kurz." @Amos, Sie können durchaus davon ausgehen, dass der Austritt bei den meisten das Ergebnis sehr langer Überlegungen war/ist. Deswegen habe ich für mich von einem Faß, welches zum Überlaufen gebracht wurde, gesprochen. Das ging eigentlich schon kurz nach der Konfirmation und den Besuch von Kirchentagen in den 80ern los, als die Kirchentage schon damals eigentlich komplett links-grüne Veranstaltungen waren und im Grunde Wahlwerbung für die damals "neue Kraft" waren.  Sog. "Fun Fact" am Rande: Damals war die Kirche noch friedensbewegt, gegen den Nato-Doppelbeschluss und sprach sich für Kontakte und eine Aussöhnung mit den "Völkern (sic!) der Sowjetunion" aus. So ändern sich die Zeiten. Der Pfarrer meiner Gemeinde, fast schon ein Fundamentalist, sagte zu uns, als wir ihn fragten, warum bei solchen offiziellen Treffen selbst Bibelarbeiten politischer Interpretation unterlagen, tretet wegen so etwas bitte nicht aus. Auftreten statt Austreten, dass war seine Devise. Tja, nach weiteren ca. 40 Jahren des Bemühens wars dann zumindest bei mir vorbei. Und irgendwie fühle ich mich befreit. So wird es vielen gehen. Man ist deswegen immer noch Christ. Familiäre Tradition und ein persönliches Leben gibt man mit der Austrittserklärung bei Standesamt nicht ab. Der Kirche wars egal, keine Reaktion, wäre auch zu viel an Arbeit, bei den Zehntausenden, die jedes Jahr austreten.

Franz Bettinger

3. April 2024 08:54

Ein großartiger Mann, der Herr Pfarrer Michaelis! 

Nemo Obligatur

3. April 2024 09:00

Damit dieses ernste Thema der heiteren Seiten nicht ganz entbehren muss, möchte ich noch einen Leserkommentar aus einem Artikel der Zeit-Online zu diesem Thema der Suspendierung von Pfarrer Michaelis zitieren:
"Genau, Faschismus im Namen Gottes - gute Güte, da kann einer nur schlecht werden & Jesus dreht sich im Grab. Richtige Entscheidung."
Das spricht dann wohl für sich selbst.
 
Ich bin inzwischen auch so weit, dass ich ernsthaft über einen Austritt aus der (in meinem Fall) katholischen Kirche nachdenke. Nicht, weil ich meinen Glauben an Jesus und die Auferstehung verloren hätte, sondern weil es aus diesen und anderen Gründen mit der Institution nicht mehr geht. Wenn man nur wüsste, wohin dann ...?
 

Monika

3. April 2024 10:02

@Nemo Obligatur
Wenn man nur wüsste, wohin dann..? Joh. 6,67: "Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen? "Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des lebendigen Lebens." Als ausgetretene katholische Theologin habe ich mich etwas ausführlicher mit dieser Frage beschäftigt. Ich habe meinen Glauben nicht verloren, bin auch der Meinung, dass es die Kirche als Institution braucht, aber die kath. Kirche in Deutschland  ist derzeit  am Ende. Ich habe sie über einen langen Zeitraum "als eigenen Erfahrungsbericht vom absoluten Niedergang erlebt" (Pater Elmar Salmann). Es gibt sehr viele enttäuschte Katholiken, die sich meiner Meinung nach zusammentun sollten. Auch hatte ich sehr gute Gespräche mit Nonnen, Mönchen, Priestern, die ebenso am Zustand ihrer Kirche leiden. Auch als ausgetretener Katholik kann man in Kontakt mit der Kirche bleiben. Es geht, sogar ziemlich gut. Wenn man Worten des lebendigen Lebens folgt, nicht den seelisch toten  Kirchenfunktionären.

Klaus Kunde

3. April 2024 10:30

Natürlich verstehe ich jeden, der vor der EKD das Weite sucht, während ich selbst weiterhin in ihr verharre. Ich weiß aus eigener Erfahrung, die Motivation der Austrittswilligen hat sich im Laufe des letzten Jahrzehnts deutlich verändert. Während in früheren Zeiten meist Karteileichen, also Gewohnheitsatheisten und Steuersparer, sich von der Kirche verabschiedet haben, sind es nun eher jene, die man am ehesten als Wertkonservative bezeichnen könnte. Während der Austritt ersterer zwar ärgerlich war, ein quantitativer Aderlaß, aber immerhin wenig Auswirkungen auf die Gemeindearbeit hatte, betrifft es neuerdings verstärkt die Hardcore-Christen, also Gläubige, die die Qualität der Gemeinden, ihre gesellschaftliche und kulturelle Substanz ausmachen. Für die Gemeinden ein kaum noch zu verkraftender Verlust. Man kann zwar nach dem Austritt seinen Glauben konservieren, allerdings ist der christliche besonders auf das gemeinschaftliche Erleben ausgerichtet, auf das sich schwerlich verzichten läßt. Nebenbei: An Feiertagen sind die Kirchen immer noch gut besucht, man will sich quasi in weihnachtliche, oder wie letztens, in österliche Feiertagslaune transzendieren lassen. Neben mir saß eine woke Mutter, die ihrem vielleicht zehnjährigen Sohn nicht einmal die Liturgie erklären konnte. Herr, erbarme Dich ihrer.

Gimli

3. April 2024 11:08

Die Überschrift des Beitrags umgeht die Frage, dass Religion per se nichts Unpolitisches war, ist und sein kann. Schon die 10 Gebote sind gewissermaßen Politik (eher allerdings ein Common Sense von Mitgliedern einer Gruppe, die konfliktarm zusammenleben möchte). Christsein ist jedoch mehr und da meine ich, sprechen die Gleichnisse im NT oder die beiden Schilderungen der Berg- bzw. Feldpredikt in den Evangelien eine andere Sprache als die AfD. In meinem Bild von Jesus könnte dieser nie und nimmer Mitglied dieser Partei sein.

Peter Gamon

3. April 2024 12:03

Das unselige Treiben der Landeskirchenleitungen ist natürlich auch gerade Folge der systembedingten Staatsnähe der lutherischen Landeskirchen. Den Schulterschluss mit den Mächtigen hat seinerzeit (der späte) Luther gesucht und für seine Sache genutzt. Seinerzeit leider auch bereits im Kampf gegen oppositionelle, bibeltreue Christen, siehe die Verfolgung der Täufer.
@ Nemo Obligatur:
Je nach Glaubensverständnis empfehle ich die Orthodoxe Kirche in ihrer erstarkenden deutschen Ausprägung oder Freikirchen, wie  die Evangelisch-reformierten Baptisten.
 

Laurenz

3. April 2024 12:36

@Monika @Nemo Obligatur ... Bei mir um die Ecke ist eine Gemeinde von Alt-Katholiken. Inwieweit die sich von den Katholiken unterscheiden, kann ich nicht beurteilen. In meiner Jugend war ich bei einer Baptisten-Jungschar. Die hatten nie versucht, mich zu bekehren. Man mußte da auch nicht mitbeten, ect. 7-Tage-Adventisten leben halt extrem bibelkonform (Sabbat), aber ohne die ganze unchristliche Hierache der Großkirchen. Letzteres ist für mich eh völlig unverständlich.

Monika

3. April 2024 14:03

@Laurenz@Peter Gamon
Es geht mir nicht um den Beitritt zu einer anderen Konfession. Ich möchte weder alt-katholisch werden, noch orthodox, noch evangelisch oder freikirchlich. Es geht auch nicht um eine weitere Abspaltung.
Es geht um die "Eine, heilige, katholische ( d.h. von  katholos=allumfassend d.i.Wesensmerkmal der Kirche) und apostolische  Kirche als mystischem Leib Christi. Das ist eine ganz andere Hausnummer. Da geht es auch nicht um rechts oder links.  Da geht es  sozusagen um alles oder nichts. Diese Kirche ist in Europa vom Untergang bedroht.
 

Gimli

3. April 2024 16:16

@Monika: Schrumpfen wohl eher, nicht untergehen. Als ehemaliger Protestant ist mir der Pomp der Katholen schon immer (anerzogen) fremd, nebst dem Himmel voller Heiliger und einem Übermaß an Rituellem. Inwieweit das alles noch Theologie ist oder einfach eine ungebremst anwachsende "Tradition" ist aber Wurscht. Wie ich Papst Franziskus aus der Ferne wahrnehmen, wäre ihm ein ehrlichere, primitivere (iSv ursprünglich), ärmere Kirche lieber. Über meine (getauft) katholische, aber eigentlich überkonfesionelle Ehefrau, die gleichermaßen bei den Protestanten wie den Katholen arbeitet, bin ich recht nah dran und kann seit den Tagen unseres einwöchigen Ehevorbereitungsskurses bis heute sagen, dass die Mehrheit der "Amtlichen" ein sehr ökumenisches Verständnis von Kirche hat. Die Eucharistie steht immer allen offen. Die Gottesdienste sind "lebendig". Allein die Kirche bestimmt nicht mehr die Deutung der Welt und die Herleitung aktueller Normen aus alten Mythen überzeugt nicht mehr - zumal in jeder Ecke dieser Welt andere Religionen existieren. Dagegen ist das katholon aus Rom schon recht anmaßend.

Umlautkombinat

3. April 2024 17:45

> Dagegen ist das katholon aus Rom schon recht anmaßend.
Jetzt mal Butter bei die Fische, Sie gruener Zeitgeist. Wir stellen einmal alle wesentlichen Religionen die in Deutschland so ausgeuebt werden nebeneinander und vergeben Punkte nach Anmassung. Ich gebe mal vor: Die eierlosen Staatskirchen des Landes stehen um Zehnerpotenzen (ausser ihrem verschlagenen massiven Charakteristikum an passiver Agressivitaet) hinter einer ganz anderen Religion. Preisfrage: Welche ist das?
 

Monika

3. April 2024 17:46

@Gimli Es ist leider mehr als ein Schrumpfen. Siehe die neueste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD (KMU) vom Febr. 24. Untergehen wird die Kirche nicht, aber in Deutschland steht sie am "Rande des Abgrundes". Auch darüber gibt es Zahlen. Zudem: Anmaßung kann nicht schaden! 1. In Hamburg treffen sich hunderte junge Männer geheim, um über ihre Visionen von Kalifat und Scharia zu reden. 2. An der Uni Göttingen findet ein islamisches Gruppengebet getrennt nach Geschlechtern statt. In der Schweiz treten zahlreiche junge Mädchen ( bis zu 12000) zum Islam über ( NZZ: 15.2.24 "Das Kopftuch ist für mich wie eine Krone" ) . Ramadan ersetzt die christliche Fastenzeit. Es wird höchste Zeit für eine Anmaßung. Oder sollen wir die Deutung der Welt dem Islam überlassen ?  Oder den Klimarettern? Oder den Stillfetischisten ? An dem Anspruch der christlichen Wahrheit sollte man schon festhalten. Für die Umsetzung gilt trotzdem: Seid barmherzig, wie Gott barmherzig ist . (Lk, 6ff).

Peter Gamon

3. April 2024 18:41

@Monika:
Orthodox, römisch-katholisch (und auch alt-katholisch) sind letztlich alles Konfessionen/ Ausprägungen der einen, heiligen, katholischen, apostolischen Kirche. Dass sich das Patriarchat von Rom verselbstständigt hat, steht auf einem anderen Blatt. Die apostolische Sukzession wird jedenfalls in allen drei Denominationen sichergestellt. Den Freikirchen liegt freilich ein anderes Verständnis zugrunde.

Niedersachse

3. April 2024 22:11

Zunächst mal bin ich dankbar über jedes "schwarze Schaf", welches aus der Herde ausschert und dabei auch berufliche Nachteile in Kauf nimmt, Hut ab! Ich bin schon im Dezember 2008 aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Die Politisierung der Kirche war nämlich damals und schon davor, nichts neues mehr. Die Kirchen in Deutschland haben sich immer an die politischen und gesellschaftlichen Tonangeber rangewanzt, z.B. auch beim Thema "Kirchenasyl". Das meine Entscheidung goldrichtig war, ist mir spätter immer wieder und wieder bewusst geworden. Mit Grausen erinnere ich mich noch an 2016, als vor dem Kölner Dom ein "Asyltouristen- Boot" von Kardinal Woelki als Altar verwendet wurde. Der Grund, warum die Kirchenbänke zunehmend leerer werden, haben die Amtskirchen ausschliesslich bei sich selbst zu suchen. 

Rico

4. April 2024 09:04

"denn mit deutscher Gesetzgebung ist das nicht kompatibel."
Tja, "Gesetze" gelten ja auch nur für den gemeinen Pöbel und nicht für die Reichen und Mächtigen. Denn die haben sich ALLE Machtapparate unter den Nagel gerissen. Wie z.B. Polizei, Medien, "Gesetzgebung" und Armee.
Daran hat sich seit Luther NICHTS geändert ! Auch wenn die es jeden Tag anders heraus plärren !

Gimli

4. April 2024 09:45

@Niedersachse: "Die Politisierung der Kirchen" ...  Dieser Vorwurf ist unpräzise, weil Kirche noch nie unpolitisch war. Die Kirchen wirken (das ist ihr gutes Recht wie das jeder Lobbygruppe oder Vereiningung) schon immer direkt auf die Politik ein wie sie auch auf die GEsellschaft als normative Krakt Einfluss nahmen und nehmen. Emanzipation der Frau, gemischtkonfessionelle Ehen (früher "Mischehen" :-P), Rechte von Homosexuellen, Kuppeleiparagraf, uvwm sind mitnichten allein säkular normiert. Von katholischen Kanzeln (vllt auch protestantischen?!) wurde in vergangenen Jahrzehnten schon sehr wohl Wahlempfehlung ausgesprochen. Wenn ich eingangs urteilte, dass Sie unpräzis formulieren, meine ich also, dass Ihnen womöglich die den Kirchen aktuell innewohnende politische Ausrichtung nicht mehr gefällt und vielleicht damit erst die Differenz zu Ihrem eigenen Wertesystem auffällt. 

Waldgaenger aus Schwaben

4. April 2024 14:10

In Mitteldeutschland gab es einem langen Menschenleben vier radikale politische Umbrüche. Vom Kaiserreich zur Weimar Republik, von dort zur NS-Diktatur, auf die dann die sozialistische Diktatur folgte, um von der jetzigem Staat abgelöst zu werden. Wo, wenn nicht dort, hätten die Kirchen lernen können, dass sie sich vor zuviel Nähe zur Politik hüten sollen. Staaten im Untergang können mit ihnen zu eng verbandelte Religionen mit sich in den Abgrund reißen. Deshalb wundert es mich sehr, sie stark die russisch-orthodoxe Kirche sich nun mit dem Schicksal des Putinismus verbindet. Die ROK wäre fast mit dem Zarenreich untergegangen. Ende der 1930er Jahre gab es weniger als ein Dutzend noch geöffneter Kirchen. Die meisten Priester wurden erschossen oder verschwanden im GULAG. Großmütter haben den Glauben in Russland bewahrt.
Als wichtigste Sofortmassnahme sollten die deutschen Kirchen den Ausstieg aus derm Kirchensteuersystem in Angriff nehmen. Theologisch gesehen kann man aus der Kirche nicht austreten, die Taufe ist ein unauslöschbares Prägemal. Deshalb wird bei einem Wiedereintritt auch nicht erneut getauft. Der Kirchenaustritt wäre hinfällig, zögen die Kirchen keine Steuern mehr ein. Gäbe es keinen Kirchenaustritt mehr, würden vielleicht viele Eltern, die jetzt ausgetreten sind, ihre Kinder taufen lassen.

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