Drüben bei der taz sind sie aus dem gleichen Denken heraus schon so weit, jeden bedauernswerten Mitmenschen zu ideologischen Testzwecken auf derlei Daten anzusprechen. Das sieht man dort mit dem Selbstbewußtsein des Paranoikers denn auch als Wirkung – nicht etwa als Ursache – unserer „sich radikalisierenden Gesellschaft“. Ganz so einfach wollen wir es uns dann lieber doch nicht machen. (Zumal ein Spötter schon vor Jahrzehnten feststellte, es stelle gerade den Dauerbewältigern kein gutes Zeugnis aus, daß bis weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus „Führers Geburtstag“ allgemein bekannt ist, aber nicht einmal ein zweistelliger Prozentsatz der Bundestagsabgeordneten das Geburtsdatum des aktuellen Bundeskanzlers nennen könne.)
Viel interessanter ist, was sich am und um den 20. April in den vergangenen knapp 35 Jahren jenseits des Großen Teichs ereignet hat und in welchem seltsamen Zusammenhang miteinander das steht. Besondere Bedeutung erlangt es in unseren ganz aktuellen Tagen, wo unter jungen Amerikanern die Selbstverbrennung wieder in Mode kommt. (Eine „kulturelle Praxis“ übrigens, die – der kollektiven Fehlerinnerung des Mandela syndrome entsprechend – heute stets auf Protest gegen den Vietnamkrieg zurückgeführt wird, während sich die originären flammenden Mönche in Wahrheit wider die Verfolgung des Buddhismus durch das US-Marionettenregime in Südvietnam in Brand setzten.)
Nehmen wir zuerst Waco, Texas, wo genau zu Mittag des 19. April 1993 (19 Uhr hiesiger Zeit) die ersten Flammen aus dem Anwesen „Mount Carmel“ der adventistischen Glaubensgemeinschaft Branch Davidians schlugen. Der auch von Frauen und Kindern bewohnte Gebäudekomplex war zu diesem Zeitpunkt bereits fast zwei Monate lang von Einheiten des ATF (quasi der paramilitärische Arm des US-Finanzministeriums), des FBI und der Nationalgarde u.a. mit Kampfpanzern und von Hubschraubern aus in die Fenster feuernden Scharfschützen belagert worden.
Sektenführer Vernon Howell alias David Koresh hatte man bereits am ersten Tag der Operation niedergeschossen, als er vor dem Eingang des Gemeindehauses verhandeln wollte, und seither war dank landesweiter und bald internationaler Berichterstattung der Druck auf die involvierten Behörden, „Erfolge“ zu zeigen, ständig gewachsen. Es gibt an dieser traurigen Geschichte viele ausgesprochen verstörende Aspekte, insbesondere hinsichtlich der getöteten Kinder, und ich möchte hier nicht weiter ins Detail gehen: Sehen Sie sich online die Photos triumphierender Scharfschützen auf Schutthaufen, unter denen zerquetschte Menschen liegen, oder von der auf dem niedergebrannten Anwesen wie von einer Invasionsarmee gehißten ATF-Flagge an und denken Sie sich Ihren Teil.
Es gibt auch eine jährliche Gedenkfeier am 19. April, die teilweise online übertragen wird. Wenn Sie des Englischen mächtig sind, beachten Sie abgesehen von der epischen Doku The Rules of Engagement, was der jeder „extremistischen“ Regung gänzlich unverdächtige YouTuber „Wendigoon“ in seiner ausführlichen Analyse zum Thema vorzubringen hat.
Besonders wichtig ist die unmittelbare historische Verbindung, die er zieht, wenn auch nicht zum 20. April. Das feurige und blutige Ende der Waco-Belagerung ist nicht denkbar ohne einen Auftakt acht Monate zuvor, als die bereits genannten Regierungsorganisationen zusammen mit dem bewaffneten Arm des US-Justizministeriums die Waldhütte des „Aussteigers“ Randy Weaver auf dem Waldgebirgskamm Ruby Ridge im Bundesstaat Idaho belagert hatten. (Seit neuestem gibt es auch hierzu eine Tiefenanalyse, die ich allerdings noch nicht angeschaut habe.)
Weaver war mutmaßlich durch Anschuldigungen eines mißgünstigen Nachbarn ins Visier der Behörden geraten. In der Folge hatte er sich geweigert, als Agent provocateur des FBI illegalen Waffenhandel mit der rassenreligiösen Splittergruppe Aryan Nations anzubahnen – eine mehr als bizarre Operation, in der sich V‑Leute von FBI und ATF innerhalb der Organisation gegenseitig auslieferten, um die eigene Glaubwürdigkeit zu erhöhen.
Womöglich im Rahmen dieser „Kompetenzstreitigkeiten“ fälschte das ATF Ermittlungsergebnisse, die Weaver mit einem Bankraub in Verbindung brachten, was nach einer verstrichenen Vorladungsfrist zu einem mißglückten Zugriff der Bundesbehörden führte. Bei diesem wurden Weavers 14jähriger Sohn und seine Frau – die gerade einen Säugling im Arm hielt – erschossen. Seither hatten sich die bewaffneten Bundesbehörden harscher Kritik ausgesetzt gesehen: Ihre Beamten seien ungenügend ausgebildet, mit Streßsituationen umzugehen, und würden sich den eigenen Mitbürgern gegenüber wie Cowboys auf Indianerjagd aufführen. FBI und ATF reagierten darauf mit noch stärkerer Militarisierung, insbesondere dank der günstigen behördeninternen Preise für gebrauchte Panzerfahrzeuge im Nachgang von „Desert Storm“.
Biblisch gesprochen, war Ruby Ridge die Präfiguration zu Waco und machte lange vor dem Erlaß des berüchtigten Patriot Act klar: US-Behörden waren willens und in der Lage, auf militärischem Niveau tödliche Gewalt gegen die eigenen Bürger einzusetzen, wenn diese eine verlangte Kooperation ablehnten. Auch ist schon lange bekannt, daß zumindest das FBI beinahe alle seiner „rechtzeitig aufgedeckten“ terroristischen Verschwörungen selbst überhaupt erst angestiftet hat. Heutzutage nennt man so etwas wohl „Verschwörungswissen“.
Was sich davon ausgehend aber wiederum zwei Jahre später, am 19. April 1995, in Oklahoma City ereignete, überformt die Geschehnisse bis heute in seiner Düsterkeit (und ist deshalb dasjenige der genannten Ereignisse, bei dem am ausführlichsten über einen möglichen False-flag-Vorgang spekuliert wird, sogar mit deutscher Beteiligung).
Kurz nach 9 Uhr Ortszeit zertrümmerte (mindestens) eine mächtige Explosion die Front des Alfred P. Murrah Federal Building. In dem Gebäude waren Zweigstellen zahlreicher US-Bundesbehörden untergebracht, darunter auch des ATF, das seine Asservatenkammer mit großen Mengen eingelagerter Sprengstoffe skurrilerweise genau über einer Kindertagesstätte hatte und dessen Beamte sich an jenem Tag alle nicht im Haus befanden. (Nach dem Anschlag an die Medien gegebene Pressemitteilungen über heldenhafte Rettungstaten der lokalen ATF-Beamten wurden zur Zerknirschung der Behörde bald als frei erfunden enttarnt.)
Schon kurz nach dem Ereignis wurde – aufgrund eines fehlenden Nummernschilds – als Haupttäter der 26jährige Golfkriegsveteran Timothy McVeigh festgenommen. McVeigh, der als Zuschauer der Waco-Belagerung vor Ort gewesen und den Behörden seither als regierungsfeindlich und miliznah aufgefallen war, wurde am 11. Juni 2001 für den Anschlag hingerichtet. Der als Mittäter angeklagte Terry Nichols erhielt lebenslänglich ohne Aussicht auf Bewährung und sitzt noch heute im „Bomber Row“ des Höchstsicherheitsgefängnisses ADMAX Florence, wo er bis vor einem Jahr Zellennachbar von Theodore Kaczynski war.
Was nun auf den ersten Blick gar nicht passen mag zur Kette der Ereignisse, die sich von Ruby Ridge über Waco bis nach Oklahoma City zieht, ist das 1999er Massaker an der Columbine High School in Littleton, Colorado. Dies schon deshalb, weil es tatsächlich an einem 20. April stattfand und somit erst recht hierher gehört. Außerdem werden sich die meisten Leser an die zeitgenössische Berichterstattung zumindest hierüber noch einigermaßen lebhaft erinnern können.
Auch ganz abgesehen vom Michael Moores maßlos überschätztem Film Bowling for Columbine hat die Bluttat mit 15 Todesopfern und 24 Verletzten eine geradezu titanische kulturelle Wirkung gehabt: als argumentativer Steinbruch für Hysteriker wider „satanische“ Musik und Videospiele mit Gewaltinhalten ebenso wie für Skeptiker gegenüber „düsteren“ Einzelgängern.
Diese Assoziationen haben noch heute Bestand, obwohl die Kolportagen über den Tathintergrund inzwischen fast ausnahmslos widerlegt worden sind. Am Ende bleiben Eric Harris und Dylan Klebold wahrscheinlich nur noch als psychisch auffällige und entsprechend medikamentierte, von verschiedensten kulturellen und philosophischen Splittern völlig überreizte und lebensüberdrüssige Teenager, die sich um jeden Preis in die Geschichtsbücher einschreiben wollten. Fragt sich, ob das besser ist als die These von den horrorfilmsüchtigen Mobbingopfern.
Und um so bizarrer, daß die vielleicht einfühlsamste Beschäftigung mit dem Phänomen im Rahmen eines hobbymäßig zusammengestellten kleinen Computerspiels stattfand: denkbar ungünstig betitelt, aber überraschend tiefsinnig und ohne jede pornographische Gewaltdarstellung. Veröffentlicht übrigens – logisch – am 20. April, diesmal 2005.
Die Kollektivpsyche der USA wird seit Anbruch des „Endes der Geschichte“ bestimmt von virtualisiertem Krieg im Fernsehen, Psychopharmaka und ins Mythische erhobenen Gewaltverbrechern. Wie sehr die dortige – somit die westliche insgesamt – Gesellschaft Elemente dieses medial vermittelten Todeskults integriert hat, ist ein zentraler Aspekt in meinem kaplaken über das konstruierte Incel-Phänomen (und voraussichtlich nicht nur in diesem).
Da das Blutbad am 20. April 1999, glaubt man dem Konstrukt, als Proto-Incel-Tat gelten könnte, gehe ich auch auf dieses ein. Und bei den Recherchen fiel mir ein Lied wieder ein, das ich in meiner Schulzeit gern hörte: „Happy Death-Day“ der Schockrocker von GWAR, das ausgerechnet am 11. September 2001 auf dem Album Violence Has Arrived (!) hätte erscheinen sollen, aber aus naheliegenden Gründen verschoben wurde. Was auf den ersten Blick als verbale Kraftmeierei, Edginess, erscheint, verwebt tatsächlich all die oben skizzierten Fäden sarkastisch miteinander und könnte die Quintessenz dieses Texts sein. Zu bedenken in einem Jahr, das gerade 111 Tage alt ist und in dem sich bereits der 25jährige Aaron Bushnell (aus Protest gegen Israels Bombardierung des Gazastreifens) und der 37jährige Max Azzarello (als Fanal gegen die US-Regierung) öffentlichkeitswirksam verbrannt haben.
We must now attack the very children that we taught
That they must never fight the fucked up wars that we had fought
Someone detonates a bomb, they said that it was huge
Bulldozed all the evidence and blamed it on some stoogeHappy Death-Day to Columbine
Let’s make the world an Oklahoma City, fine
Wacky-Waco, Happy Death-Day, babies that were burned
Hey, look! The Wheel has turned!
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Nils Wegner hat zuletzt das kaplaken-Bändchen Incel. Fatale Strategien veröffentlicht – hier einsehen und bestellen.
Volksdeutscher
".... daß bis weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus „Führers Geburtstag“ allgemein bekannt ist, aber nicht einmal ein zweistelliger Prozentsatz der Bundestagsabgeordneten das Geburtsdatum des aktuellen Bundeskanzlers nennen könne."
Das verwundert einen auch nicht, ganz einfach deshalb nicht, weil jemand in der Position von Scholz und mit den Fähigkeiten von Scholz dermaßen blaß und bedeutungslos ist. An ihm hängt kein Schicksal, um es mit Nietzsche zu sagen, der über die Schicksalhaftigkeit jener Menschen nachsinnte, die ihre Zeit nicht als Objekt der Geschichte erlitten, sondern sich zum Subjekt der Geschichte machten. Das sind die Ausnahmemenschen, die höheren Menschen. Ob es gefällt oder nicht: Solche Leute in der Politik waren u.a. ein Julius Caesar, ein Bonaparte Napoleon, ein Josef Stalin, ein Adolf Hitler. Neben diesen verblaßt selbst der beste demokratisch gewählte Bundeskanzler, dem die Herzensgüte aller Zeiten vor und nach ihm zugesprochen wird, der aber, wenn es hochkommt, für lumpige vier Jahre gewählt wird und dann, mehr oder weniger verdient, aus dem Blickfeld seiner Zeitgenossen verschwindet. Wer redet noch von einem Kurt Georg Kiesinger, einem Walter Scheel oder einem Helmut Kohl? Das gilt für Bundespräsidenten in noch höherem Maße. Wer erinnert sich noch an Namen wie Johannes Rau, Horst Köhler oder Christian Wulff? Fußnoten in der Geschichte unseres Volkes. Ohne Charisma und schicksalhafte Taten keine Chance, sich in das kurze Gedächtnis der Menschen einzubrennen.