Auch im sogenannten „coronakritischen“ Milieu berief man sich gern auf die „freie Impfentscheidung“. Jeder müsse das doch für sich selbst entscheiden. Eine Nachbarin war damals sehr stolz auf ihre jugendlichen Söhne, daß diese sich „ganz selbständig für die Impfung entschieden haben, wir haben ihnen da nicht reingeredet.“
Seitdem ist mir die Phrase immer wieder begegnet. Nicht, daß es sie vorher nicht gegeben hätte, aber gerade allerbanalste Sätze drücken oft eine kollektive Befindlichkeitsstörung am treffendsten aus.
Darf ich aufzählen? Cannabiskonsum und Partydrogen? „Das muß jeder für sich selber wissen.“ Mit wem er als Erwachsener ins Bett steigt und was er da treibt? „Das muß jeder für sich selber wissen.“ Pille? Abtreibung? Kirchenaustritt? Sowieso.
Aber auch: Pornos, Tinder, Chemotherapie, Selbstmord. „Muß am Ende jeder für sich selber wissen.“ In den Niederlanden ist ärztlich begleiteter Suizid auch Minderjährigen erlaubt. „Sie wollte sterben und da zählt doch ihr freier Wille“ war die von einer mir bekannten Mutter eines magersüchtigen, psychisch kranken Mädchens vorgetragene Begründung.
Der Anwendungsbereich der Phrase reicht von scheinbaren Lappalien bis zu den schwersten moralischen Dilemmata. Besonders oft wird sie vorgebracht, wenn sich in einem Gespräch herauszustellen droht, daß der eine Gesprächspartner den Gegenstand völlig normal und der andere ihn im selben Maße verwerflich findet.
„Das muß jeder für sich selber wissen“ wird in unterschiedlichen Tonlagen und aus entsprechend unterschiedlichen Motiven von beiden Seiten vorgebracht, also sowohl vom Konservativen, der gegen Abtreibung, Pornographie oder Drogen ist, als auch vom Liberalen, der all das erstens total normal und zweitens ein Menschenrecht findet.
Die Tonlage ist verlegen-abwiegelnd-anpasserisch, wenn man eigentlich sagen will, daß man einer Moraldebatte nicht gewachsen wäre, den Plauderton des Gesprächs jetzt wirklich ungern ins Ernste übergehen ließe, man „dieses Faß jetzt nicht aufmachen will“. Nahe daran liegt der abbindend-sibyllinische Ton: agree to disagree als Diskussionsersatz, oft, weil es mit diesem Gegenüber vollkommen sinnlos wäre, der Wahrheit gemeinsam näherzukommen.
Hat man bereits einen Wortwechsel hinter sich, bekommt die Phrase vielfach die Funktion der moralischen Selbststabilisierung im Gewand der psychotherapeutischen Souveränität: „Das möchte ich /sollten wir jetzt mal so stehenlassen.“ Oder sie erfüllt eine Distanzierungsfunktion und erfolgt in eiskalt-teilnahmslosem Ton, der sagen will: „Mach du deins, ich bin da raus, geht mich eh nichts an.“ Manchmal schließlich drückt sie paradoxerweise nichts anderes aus als blanke Hilflosigkeit gegenüber der Zumutung, „es“ selber wissen zu müssen.
„Das muß jeder für sich selber wissen“ heißt dann übersetzt: Ich weiß es eben nicht selber.
Woher stammt die kommunikative Platzhalterfunktion dieser Phrase wohl? Denn sie ist symptomatisch für eine soziale Not der Gegenwart und steht für ein tieferliegendes Problem.
Ein erster Hinweis findet sich in dem Bestseller Die Benedikt-Option (dt. 2018) des orthodoxen Journalisten Rod Dreher. Amerikanische Soziologen hatten schon 2005 in einer Studie ein Phänomen umrissen, das sie „moralisch-therapeutischen Deismus“ nannten. Dreher skizziert diese auch hierzulande weitverbreitete Überzeugung grob folgendermaßen:
Gott will, dass die Menschen gut, freundlich und fair miteinander umgehen, wie es die Bibel und die meisten Weltreligionen lehren. Das wesentliche Ziel des Lebens ist es, glücklich und mit sich selbst im Reinen zu sein. Es ist nicht nötig, Gott einen besonders bedeutenden Platz im Leben einzuräumen, außer man braucht Ihn, um ein Problem zu lösen. Gute Menschen kommen in den Himmel, wenn sie sterben.
In moralischen Fragen – denn um diese handelt es sich bei allen von mir angedeuteten Themen – komplett auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, tarnt sich als Freiheit und Verantwortlichkeit der eigenen Entscheidungen.
Ethische Probleme in Schulklassen und Seminaren zu diskutieren, führt unter Garantie innerhalb weniger Minuten zum Hervorquellen der Phrase „Das muß jeder für sich selber wissen“. Die jungen Leute glauben, damit einen souveränen Beitrag geleistet zu haben; aber der Tonfall verrät damit auf der prosodischen Ebene der Sprache, also jenseits der gesagten Wörter, das gerade Gegenteil von Souveränität.
Dreher greift die Diagnose des um sich greifenden „moralisch-therapeutischen Deismus“ vor allem deshalb auf, weil er einen ins Moralisch-Therapeutische abdriftenden Diskurs eingebettet sieht in das, was er (mit den europäischen Aufklärern) „Deismus“ nennt, nämlich den Ausschluß Gottes aus der Welt (anders als der Atheist glaubt der Deist durchaus an die Schöpfung, den Kosmos, die eigene Spiritualität usw., er stellt nur null Bezug zwischen Gott und Moral her).
Man kommt so der Wurzel unserer Phrase vielleicht noch ein wenig näher. Innerweltliches Klarkommenwollen ohne Transzendenzbezug führt zur Gleichwertigkeit aller möglicher moralischer Meinungen. „Das müssen wir jetzt mal so stehenlassen“ ist unter innerweltlichen Bedingungen wirklich der Weisheit letzter Schluß, da es keine Kriterien moralischer Höher- oder Niederwertigkeit gibt. Philosophisch und theologisch nennt man diesen Zustand Relativismus oder noch genauer (weil es hier nicht um erkenntnistheoretische Fragen geht, sondern um ethische) Indifferentismus. Hier könnte das Problem des Für-sich-selber-wissen-Müssens begründet liegen.
Vorher aber noch eine kurze Selbstüberprüfung. Denn ein Moralproblem ist nur dann wirklich relevant, wenn es nicht nur „die anderen“ betrifft, die Relativisten, die Jugend von heute, die Pseudosouveränen, die Empathie- und Hilflosen.
Wie oft sagen auch wir als Rechte, als Systemkritiker, als Christen den Satz „Das muß jeder für sich selber wissen“? Geht es etwa um sexuelle Praktiken unter Erwachsenen, um die fortschrittlichsten medizinischen Möglichkeiten, um bewußtseinserweiternde Substanzen, um den Umgang mit dem Tod und um die Religionsausübung – wer wären wir, wenn wir da dem „mündigen Bürger“ nicht seine Entscheidungs- und Gewissensfreiheit ließen?
Was hat es nun mit dem Indifferentismus auf sich? Die Verwendung des Begriffs in dieser Bedeutung (nicht gemeint ist die stoische bzw. christlich-mystische Tugend der gelassenen Indifferenz) entstand Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Abwehrkampf der Kirche gegen den in sie mit aller Macht eindringenden moralischen Liberalismus im Namen der „Religionsfreiheit“.
Papst Gregor XVI. verwarf in seiner Enzyklika Mirari vos vom 15.8.1832 unter dem Namen Indifferentismus
jene verkehrte Ansicht, welche die Schlauheit der Bösen überallhin verbreitet hat, man könne durch jegliches Glaubensbekenntnis das ewige Heil erlangen, wenn nur das sittliche Handeln nach der Regel des Rechten und Anständigen ausgerichtet werde… Aus der Quelle dieser verderblichen Gleichgültigkeit fließt jene törichte und irrige Meinung – oder noch besser jener Wahnsinn, es solle für jeden die Freiheit des Gewissens verkündet und erkämpft werden.
Zack, das sitzt. Härter geht es nicht, wenn man eine Widerlegung des moralisch-therapeutischen Deismus sucht, mithin der Phrase „Das muß jeder für sich selber wissen.“
Der Indifferentist glaubt, jede moralische Meinung und jede religiöse Überzeugung sei gleichwertig und gleichwürdig, sofern sie nur dem individuellen Gewissen des Menschen entspringe, das die oberste Autorität darstelle.
Diese Position zu verurteilen, fällt den allermeisten Konservativen leicht, wenn es um die neuesten Ausgeburten des Liberalismus (gerade etwa das „Selbstbestimmungsgesetz“) geht.
In politischen, gesundheitlichen, religiösen und sexuellen Fragen hingegen will allerdings dann wieder jeder seinem Gewissen folgen und „selber wissen“, was gut für ihn ist, muß dies dann zwangsläufig auch jedem anderen zugestehen und vertritt in der Konsequenz einen Indifferentismus.
Zum Kern unserer fragwürdigen Phrase führt die Gegenbehauptung: „Nein, es muß nicht jeder für sich selber wissen.“
Der Indifferentismus ist nicht nur in der Frage der Religion falsch, die eben ihrem Wesen nach keine Meinung und keine menschliche Gewissensentscheidung ist. Der Indifferentismus ist überdies falsch, weil er psychologisch „toxisch“ wirkt und Souveränität vorgaukelt, wo Hilflosigkeit herrscht, Freiheit vorgaukelt, wo Gruppenzwang herrscht, Wissen vorgaukelt, wo Unwissenheit herrscht.
Zu guter Letzt ist er auch aus dem Grunde falsch, weil er wie einen Reflex sofort die Vorstellung erzeugt, wenn nicht alles „jeder für sich selber wissen muß“, dann käme der autoritäre, womöglich theokratische Staat und bestimme alles für ihn (frei nach Jim Goad: „Wenn du jemandes System blöder Überzeugungen nicht zustimmst, denkt derjenige automatisch, du seiest Anhänger eines Konkurrenzsystems blöder Überzeugungen.“).
„Nein, ich muß es nicht für mich selber wissen.“ Diesen Satz kann nur ich für mich selber sagen. Ich kann getrost sagen, daß für mein moralisches Wissen nicht ich selbst mein Maßstab bin, sondern Gott. Ich kann zugeben, daß ich alleine gar nichts wüßte und keine eigene Entscheidung fällen könnte. Dies kann und darf ich – hierin liegt das Kriterium dafür, daß das Gegenteil von Indifferentismus nicht Paternalismus ist – allerdings nicht auf andere anwenden und mich erdreisten, für sie etwas zu wissen und zu entscheiden, oder fordern, der Staat oder die Kirche müsse für sie diesbezüglich dasein, weil sie es nun einmal nicht „für sich selber wissen“.
Wenn ich weiß, daß ich nichts für mich selber wissen muß, gewinne ich eine Ausgangsposition, von der aus ich auch mein Gegenüber nicht sich selbst zu überlassen brauche. Meinung gegen Meinung ohne Aussicht auf Auflösung ist der Zustand, den das „Recht auf eigene Gewissensfreiheit“ festzementiert.
Diesen Zustand kann ich auflösen, aber nur für mich, und zwar durch mein katholisches Bekenntnis. Das kann ich niemandem abnehmen, aufdrücken und für niemanden übernehmen. Ich kann es nur vormachen und dem indifferenten Gesprächspartner, der mich dann gewiß ungläubig anstarrt, kundtun, woher ich meinen ewiggültigen Maßstab nehme. Mindestens ein Schritt ist damit getan: einander nicht länger vorzuheucheln, „das jetzt mal so stehenlassen“ zu können, während man sich insgeheim gegenseitig moralisch verachtet.
Da es in der Ethik um die sittlichen Forderungen geht, die den Menschen unmittelbar betreffen und ihm Opfer zumuten, bewahrt die Erleuchtung durch den Glauben vor vielen Irrtümern, denen die auf sich gestellte Vernunft in der tatsächlichen Lage der Menschheit gerade auf diesem Gebiete erfahrungsgemäß ausgesetzt ist. (Lexikon des katholischen Lebens, 1952)
Die Freiheit, es für sich selber zu wissen, liegt in der Entscheidung für den Glauben, nicht in der Unentscheidbarkeit zwischen den moralischen Optionen.
Laurenz
@CS ... jetzt haben Sie Sich soweit aus dem Fenster gelehnt, daß Sie gestürzt sind, hoffentlich auf einen Misthaufen, wie die königlichen Beamten beim 2ten Prager-Fenstersturz. 1. Ihr ewiggültiger Maßstab existiert erst, sagen wir 1.750 Jahre, ohne jemals für Anhänger über das persönliche hinaus performt zu haben. 2. Sie vermischen unlauter Religion & Wissenschaft. Die Existenz 2er Geschlechter ist keine Frage des Glaubens. 3. Ihr persönlicher Lebensstil, als Frau, ist eher germanisch-heidnisch, als katholisch. 4. Medikamenten-Mißbrauch ist eine Krankheit. Bei der Mordsdemie wurden Zulassungsverfahren ausgehebelt, eine aus moralischer Sicht staatskriminelle Handlung. 5. Ihr Zitat Papst Gregors XVI kann ich ebenso gegen Sie, als Katholiken, zitieren. Sie sehen, es geht noch härter. Fassen wir zusammen. Die Phrase "Das muß jeder für sich selbst wissen/entscheiden" gilt nicht durchweg, unter keinem Regime. Die Entscheidung ob Nationalsozialismus, Grüne/Rote Khmer gut oder schlecht sind, Deutschländer rein oder raus, wird in aller Regel einem nicht selbst überlassen. Als Katholik hätten Sie diese Phrase lieber ruhen lassen sollen, sind Sie doch zuvorderst auf sie angewiesen.
Kommentar Sommerfeld: Danke, gut gelandet. Gott ist seiner Natur nach ewig, nicht erst 1750 Jahre alt. Woher wissen Sie etwas über meinen Lebensstil, jedenfalls genug, um irgendetwas "Germanisch-Heidnisches" daran zu finden? Und Sie haben den Sinn meiner Auseinandersetzung mit dieser Phrase anscheinend nicht verstanden: Weder sage ich, daß sie gelten soll (also: Wär doch super, wenn bei uns alles jedem selbst überlassen wäre, dann wären wir frei), noch treffe ich irgendwelche Aussagen über politische Systeme, sondern rede über moralische Diskussionen unter Leuten.