“Das muß jeder für sich selber wissen!”

"Das muß jeder für sich selbst wissen": Die Wahrscheinlichkeit, diese Phrase zu hören, stieg in der Endphase des letzten Weltseuchenregimes ins Unermeßliche. Jedes Gespräch endete zielsicher damit, daß einer der Beteiligten zum anderen sagte: „Naja, das muß ja jeder für sich selber wissen…“ – nämlich, ob er sich die Spritze geben lassen würde.

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Auch im soge­nann­ten „coro­na­kri­ti­schen“ Milieu berief man sich gern auf die „freie Impf­ent­schei­dung“. Jeder müs­se das doch für sich selbst ent­schei­den. Eine Nach­ba­rin war damals sehr stolz auf ihre jugend­li­chen Söh­ne, daß die­se sich „ganz selb­stän­dig für die Imp­fung ent­schie­den haben, wir haben ihnen da nicht reingeredet.“

Seit­dem ist mir die Phra­se immer wie­der begeg­net. Nicht, daß es sie vor­her nicht gege­ben hät­te, aber gera­de aller­ba­nals­te Sät­ze drü­cken oft eine kol­lek­ti­ve Befind­lich­keits­stö­rung am tref­fends­ten aus.

Darf ich auf­zäh­len? Can­na­bis­kon­sum und Par­ty­dro­gen? „Das muß jeder für sich sel­ber wis­sen.“ Mit wem er als Erwach­se­ner ins Bett steigt und was er da treibt? „Das muß jeder für sich sel­ber wis­sen.“ Pil­le? Abtrei­bung? Kir­chen­aus­tritt? Sowieso.

Aber auch: Por­nos, Tin­der, Che­mo­the­ra­pie, Selbst­mord. „Muß am Ende jeder für sich sel­ber wis­sen.“ In den Nie­der­lan­den ist ärzt­lich beglei­te­ter Sui­zid auch Min­der­jäh­ri­gen erlaubt. „Sie woll­te ster­ben und da zählt doch ihr frei­er Wil­le“ war die von einer mir bekann­ten Mut­ter eines mager­süch­ti­gen, psy­chisch kran­ken Mäd­chens vor­ge­tra­ge­ne Begründung.

Der Anwen­dungs­be­reich der Phra­se reicht von schein­ba­ren Lap­pa­li­en bis zu den schwers­ten mora­li­schen Dilem­ma­ta. Beson­ders oft wird sie vor­ge­bracht, wenn sich in einem Gespräch her­aus­zu­stel­len droht, daß der eine Gesprächs­part­ner den Gegen­stand völ­lig nor­mal und der ande­re ihn im sel­ben Maße ver­werf­lich findet.

„Das muß jeder für sich sel­ber wis­sen“ wird in unter­schied­li­chen Ton­la­gen und aus ent­spre­chend unter­schied­li­chen Moti­ven von bei­den Sei­ten vor­ge­bracht, also sowohl vom Kon­ser­va­ti­ven, der gegen Abtrei­bung, Por­no­gra­phie oder Dro­gen ist, als auch vom Libe­ra­len, der all das ers­tens total nor­mal und zwei­tens ein Men­schen­recht findet.

Die Ton­la­ge ist ver­le­gen-abwie­gelnd-anpas­se­risch, wenn man eigent­lich sagen will, daß man einer Moral­de­bat­te nicht gewach­sen wäre, den Plau­der­ton des Gesprächs jetzt wirk­lich ungern ins Erns­te über­ge­hen lie­ße, man „die­ses Faß jetzt nicht auf­ma­chen will“. Nahe dar­an liegt der abbin­dend-sibyl­li­ni­sche Ton: agree to dis­agree als Dis­kus­si­ons­er­satz, oft, weil es mit die­sem Gegen­über voll­kom­men sinn­los wäre, der Wahr­heit gemein­sam näherzukommen.

Hat man bereits einen Wort­wech­sel hin­ter sich, bekommt die Phra­se viel­fach die Funk­ti­on der mora­li­schen Selbst­sta­bi­li­sie­rung im Gewand der psy­cho­the­ra­peu­ti­schen Sou­ve­rä­ni­tät: „Das möch­te ich /sollten wir jetzt mal so ste­hen­las­sen.“ Oder sie erfüllt eine Distan­zie­rungs­funk­ti­on und erfolgt in eis­kalt-teil­nahms­lo­sem Ton, der sagen will: „Mach du deins, ich bin da raus, geht mich eh nichts an.“ Manch­mal schließ­lich drückt sie para­do­xer­wei­se nichts ande­res aus als blan­ke Hilf­lo­sig­keit gegen­über der Zumu­tung, „es“ sel­ber wis­sen zu müssen.

„Das muß jeder für sich sel­ber wis­sen“ heißt dann über­setzt: Ich weiß es eben nicht selber.

Woher stammt die kom­mu­ni­ka­ti­ve Platz­hal­ter­funk­ti­on die­ser Phra­se wohl? Denn sie ist sym­pto­ma­tisch für eine sozia­le Not der Gegen­wart und steht für ein tie­fer­lie­gen­des Problem.

Ein ers­ter Hin­weis fin­det sich in dem Best­sel­ler Die Bene­dikt-Opti­on (dt. 2018) des ortho­do­xen Jour­na­lis­ten Rod Dre­her. Ame­ri­ka­ni­sche Sozio­lo­gen hat­ten schon 2005 in einer Stu­die ein Phä­no­men umris­sen, das sie „mora­lisch-the­ra­peu­ti­schen Deis­mus“ nann­ten. Dre­her skiz­ziert die­se auch hier­zu­lan­de weit­ver­brei­te­te Über­zeu­gung grob folgendermaßen:

Gott will, dass die Men­schen gut, freund­lich und fair mit­ein­an­der umge­hen, wie es die Bibel und die meis­ten Welt­re­li­gio­nen leh­ren. Das wesent­li­che Ziel des Lebens ist es, glück­lich und mit sich selbst im Rei­nen zu sein. Es ist nicht nötig, Gott einen beson­ders bedeu­ten­den Platz im Leben ein­zu­räu­men, außer man braucht Ihn, um ein Pro­blem zu lösen. Gute Men­schen kom­men in den Him­mel, wenn sie sterben.

In mora­li­schen Fra­gen – denn um die­se han­delt es sich bei allen von mir ange­deu­te­ten The­men – kom­plett auf sich selbst zurück­ge­wor­fen zu sein, tarnt sich als Frei­heit und Ver­ant­wort­lich­keit der eige­nen Entscheidungen.

Ethi­sche Pro­ble­me in Schul­klas­sen und Semi­na­ren zu dis­ku­tie­ren, führt unter Garan­tie inner­halb weni­ger Minu­ten zum Her­vor­quel­len der Phra­se „Das muß jeder für sich sel­ber wis­sen“. Die jun­gen Leu­te glau­ben, damit einen sou­ve­rä­nen Bei­trag geleis­tet zu haben; aber der Ton­fall ver­rät damit auf der pro­so­dischen Ebe­ne der Spra­che, also jen­seits der gesag­ten Wör­ter, das gera­de Gegen­teil von Souveränität.

Dre­her greift die Dia­gno­se des um sich grei­fen­den „mora­lisch-the­ra­peu­ti­schen Deis­mus“ vor allem des­halb auf, weil er einen ins Mora­lisch-The­ra­peu­ti­sche abdrif­ten­den Dis­kurs ein­ge­bet­tet sieht in das, was er (mit den euro­päi­schen Auf­klä­rern) „Deis­mus“ nennt, näm­lich den Aus­schluß Got­tes aus der Welt (anders als der Athe­ist glaubt der Deist durch­aus an die Schöp­fung, den Kos­mos, die eige­ne Spi­ri­tua­li­tät usw., er stellt nur null Bezug zwi­schen Gott und Moral her).

Man kommt so der Wur­zel unse­rer Phra­se viel­leicht noch ein wenig näher. Inner­welt­li­ches Klar­kom­men­wol­len ohne Tran­szen­denz­be­zug führt zur Gleich­wer­tig­keit aller mög­li­cher mora­li­scher Mei­nun­gen. „Das müs­sen wir jetzt mal so ste­hen­las­sen“ ist unter inner­welt­li­chen Bedin­gun­gen wirk­lich der Weis­heit letz­ter Schluß, da es kei­ne Kri­te­ri­en mora­li­scher Höher- oder Nie­der­wer­tig­keit gibt. Phi­lo­so­phisch und theo­lo­gisch nennt man die­sen Zustand Rela­ti­vis­mus oder noch genau­er (weil es hier nicht um erkennt­nis­theo­re­ti­sche Fra­gen geht, son­dern um ethi­sche) Indif­fe­ren­tis­mus. Hier könn­te das Pro­blem des Für-sich-sel­ber-wis­sen-Müs­sens begrün­det liegen.

Vor­her aber noch eine kur­ze Selbst­über­prü­fung. Denn ein Moral­pro­blem ist nur dann wirk­lich rele­vant, wenn es nicht nur „die ande­ren“ betrifft, die Rela­ti­vis­ten, die Jugend von heu­te, die Pseu­do­sou­ve­rä­nen, die Empa­thie- und Hilflosen.

Wie oft sagen auch wir als Rech­te, als Sys­tem­kri­ti­ker, als Chris­ten den Satz „Das muß jeder für sich sel­ber wis­sen“? Geht es etwa um sexu­el­le Prak­ti­ken unter Erwach­se­nen, um die fort­schritt­lichs­ten medi­zi­ni­schen Mög­lich­kei­ten, um bewußt­seins­er­wei­tern­de Sub­stan­zen, um den Umgang mit dem Tod und um die Reli­gi­ons­aus­übung – wer wären wir, wenn wir da dem „mün­di­gen Bür­ger“ nicht sei­ne Ent­schei­dungs- und Gewis­sens­frei­heit ließen?

Was hat es nun mit dem Indif­fe­ren­tis­mus auf sich? Die Ver­wen­dung des Begriffs in die­ser Bedeu­tung (nicht gemeint ist die stoi­sche bzw. christ­lich-mys­ti­sche Tugend der gelas­se­nen Indif­fe­renz) ent­stand Mit­te des 19. Jahr­hun­derts aus dem Abwehr­kampf der Kir­che gegen den in sie mit aller Macht ein­drin­gen­den mora­li­schen Libe­ra­lis­mus im Namen der „Reli­gi­ons­frei­heit“.

Papst Gre­gor XVI. ver­warf in sei­ner Enzy­kli­ka Mira­ri vos vom 15.8.1832 unter dem Namen Indif­fe­ren­tis­mus

jene ver­kehr­te Ansicht, wel­che die Schlau­heit der Bösen über­all­hin ver­brei­tet hat, man kön­ne durch jeg­li­ches Glau­bens­be­kennt­nis das ewi­ge Heil erlan­gen, wenn nur das sitt­li­che Han­deln nach der Regel des Rech­ten und Anstän­di­gen aus­ge­rich­tet wer­de… Aus der Quel­le die­ser ver­derb­li­chen Gleich­gül­tig­keit fließt jene törich­te und irri­ge Mei­nung – oder noch bes­ser jener Wahn­sinn, es sol­le für jeden die Frei­heit des Gewis­sens ver­kün­det und erkämpft werden.

Zack, das sitzt. Här­ter geht es nicht, wenn man eine Wider­le­gung des mora­lisch-the­ra­peu­ti­schen Deis­mus sucht, mit­hin der Phra­se „Das muß jeder für sich sel­ber wissen.“

Der Indif­fe­ren­tist glaubt, jede mora­li­sche Mei­nung und jede reli­giö­se Über­zeu­gung sei gleich­wer­tig und gleich­wür­dig, sofern sie nur dem indi­vi­du­el­len Gewis­sen des Men­schen ent­sprin­ge, das die obers­te Auto­ri­tät darstelle.

Die­se Posi­ti­on zu ver­ur­tei­len, fällt den aller­meis­ten Kon­ser­va­ti­ven leicht, wenn es um die neu­es­ten Aus­ge­bur­ten des Libe­ra­lis­mus (gera­de etwa das „Selbst­be­stim­mungs­ge­setz“) geht.

In poli­ti­schen, gesund­heit­li­chen, reli­giö­sen und sexu­el­len Fra­gen hin­ge­gen will aller­dings dann wie­der jeder sei­nem Gewis­sen fol­gen und „sel­ber wis­sen“, was gut für ihn ist, muß dies dann zwangs­läu­fig auch jedem ande­ren zuge­ste­hen und ver­tritt in der Kon­se­quenz einen Indifferentismus.

Zum Kern unse­rer frag­wür­di­gen Phra­se führt die Gegen­be­haup­tung: „Nein, es muß nicht jeder für sich sel­ber wissen.“

Der Indif­fe­ren­tis­mus ist nicht nur in der Fra­ge der Reli­gi­on falsch, die eben ihrem Wesen nach kei­ne Mei­nung und kei­ne mensch­li­che Gewis­sens­ent­schei­dung ist. Der Indif­fe­ren­tis­mus ist über­dies falsch, weil er psy­cho­lo­gisch „toxisch“ wirkt und Sou­ve­rä­ni­tät vor­gau­kelt, wo Hilf­lo­sig­keit herrscht, Frei­heit vor­gau­kelt, wo Grup­pen­zwang herrscht, Wis­sen vor­gau­kelt, wo Unwis­sen­heit herrscht.

Zu guter Letzt ist er auch aus dem Grun­de falsch, weil er wie einen Reflex sofort die Vor­stel­lung erzeugt, wenn nicht alles „jeder für sich sel­ber wis­sen muß“, dann käme der auto­ri­tä­re, womög­lich theo­kra­ti­sche Staat und bestim­me alles für ihn (frei nach Jim Goad: „Wenn du jeman­des Sys­tem blö­der Über­zeu­gun­gen nicht zustimmst, denkt der­je­ni­ge auto­ma­tisch, du sei­est Anhän­ger eines Kon­kur­renz­sys­tems blö­der Überzeugungen.“).

„Nein, ich muß es nicht für mich sel­ber wis­sen.“ Die­sen Satz kann nur ich für mich sel­ber sagen. Ich kann getrost sagen, daß für mein mora­li­sches Wis­sen nicht ich selbst mein Maß­stab bin, son­dern Gott. Ich kann zuge­ben, daß ich allei­ne gar nichts wüß­te und kei­ne eige­ne Ent­schei­dung fäl­len könn­te. Dies kann und darf ich – hier­in liegt das Kri­te­ri­um dafür, daß das Gegen­teil von Indif­fe­ren­tis­mus nicht Pater­na­lis­mus ist – aller­dings nicht auf ande­re anwen­den und mich erdreis­ten, für sie etwas zu wis­sen und zu ent­schei­den, oder for­dern, der Staat oder die Kir­che müs­se für sie dies­be­züg­lich dasein, weil sie es nun ein­mal nicht „für sich sel­ber wissen“.

Wenn ich weiß, daß ich nichts für mich sel­ber wis­sen muß, gewin­ne ich eine Aus­gangs­po­si­ti­on, von der aus ich auch mein Gegen­über nicht sich selbst zu über­las­sen brau­che. Mei­nung gegen Mei­nung ohne Aus­sicht auf Auf­lö­sung ist der Zustand, den das „Recht auf eige­ne Gewis­sens­frei­heit“ festzementiert.

Die­sen Zustand kann ich auf­lö­sen, aber nur für mich, und zwar durch mein katho­li­sches Bekennt­nis. Das kann ich nie­man­dem abneh­men, auf­drü­cken und für nie­man­den über­neh­men. Ich kann es nur vor­ma­chen und dem indif­fe­ren­ten Gesprächs­part­ner, der mich dann gewiß ungläu­big anstarrt, kund­tun, woher ich mei­nen ewig­gül­ti­gen Maß­stab neh­me. Min­des­tens ein Schritt ist damit getan: ein­an­der nicht län­ger vor­zu­heu­cheln, „das jetzt mal so ste­hen­las­sen“ zu kön­nen, wäh­rend man sich ins­ge­heim gegen­sei­tig mora­lisch verachtet.

Da es in der Ethik um die sitt­li­chen For­de­run­gen geht, die den Men­schen unmit­tel­bar betref­fen und ihm Opfer zumu­ten, bewahrt die Erleuch­tung durch den Glau­ben vor vie­len Irr­tü­mern, denen die auf sich gestell­te Ver­nunft in der tat­säch­li­chen Lage der Mensch­heit gera­de auf die­sem Gebie­te erfah­rungs­ge­mäß aus­ge­setzt ist.  (Lexi­kon des katho­li­schen Lebens, 1952)

Die Frei­heit, es für sich sel­ber zu wis­sen, liegt in der Ent­schei­dung für den Glau­ben, nicht in der Unent­scheid­bar­keit zwi­schen den mora­li­schen Optionen.

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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Kommentare (85)

Laurenz

28. Mai 2024 09:50

@CS ... jetzt haben Sie Sich soweit aus dem Fenster gelehnt, daß Sie gestürzt sind, hoffentlich auf einen Misthaufen, wie die königlichen Beamten beim 2ten Prager-Fenstersturz. 1. Ihr ewiggültiger Maßstab existiert erst, sagen wir 1.750 Jahre, ohne jemals für Anhänger über das persönliche hinaus performt zu haben. 2. Sie vermischen unlauter Religion & Wissenschaft. Die Existenz 2er Geschlechter ist keine Frage des Glaubens. 3. Ihr persönlicher Lebensstil, als Frau, ist eher germanisch-heidnisch, als katholisch. 4. Medikamenten-Mißbrauch ist eine Krankheit. Bei der Mordsdemie wurden Zulassungsverfahren ausgehebelt, eine aus moralischer Sicht staatskriminelle Handlung. 5. Ihr Zitat Papst Gregors XVI kann ich ebenso gegen Sie, als Katholiken, zitieren. Sie sehen, es geht noch härter. Fassen wir zusammen. Die Phrase "Das muß jeder für sich selbst wissen/entscheiden" gilt nicht durchweg, unter keinem Regime. Die Entscheidung ob Nationalsozialismus, Grüne/Rote Khmer gut oder schlecht sind, Deutschländer rein oder raus, wird in aller Regel einem nicht selbst überlassen. Als Katholik hätten Sie diese Phrase lieber ruhen lassen sollen, sind Sie doch zuvorderst auf sie angewiesen.

Kommentar Sommerfeld: Danke, gut gelandet. Gott ist seiner Natur nach ewig, nicht erst 1750 Jahre alt. Woher wissen Sie etwas über meinen Lebensstil, jedenfalls genug, um irgendetwas "Germanisch-Heidnisches" daran zu finden? Und Sie haben den Sinn meiner Auseinandersetzung mit dieser Phrase anscheinend nicht verstanden: Weder sage ich, daß sie gelten soll (also: Wär doch super, wenn bei uns alles jedem selbst überlassen wäre, dann wären wir frei), noch treffe ich irgendwelche Aussagen über politische Systeme, sondern rede über moralische Diskussionen unter Leuten.

Gimli

28. Mai 2024 11:02

Keine Sicht ohne Standpunkt, so einfach. Sei er religiös grundiert oder -ohne jeden Bezug zu einer Supermacht- einfach mit irgendeinem weltanschaulichen "System". Mein GRund ist die Naturwissenschaft und daraus abgeleitet eine ein Transhumanismus, gewiss auch Relativismus. Ich bin nicht überzeugt, dass es ewig gültige Werte (ausgenommen vllt die Naturkonstanten, aber selbst das ist in Frage) gibt, zumindest nicht innerhalb unserer Erden-Blase. Normen, Sitten, Moral - was auch immer -  sind Aushandlungen innerhalb von Menschengruppen. Die Bibel steht keine Ausformulierung konstanter Werte dar bzw wird auch in jeder Zeit neu interpretiert. Es gibt Anthropologen, die vermuten, das Religiösität eine Denkensart ist, die gruppenstabilisierend wirkt. Fakt ist schon eher, dass die stabilsten Normsetzungen die sind, die innerhalb einer GRuppe für eine stabile Ordnung sorgen, die 10 Gebote sind da also auch nicht originell, sondern tendenziell ein natürlicher Mindeststandard. 
Bzgl Impfen, Drogen, Selbstbestimmung (weit über das Sexuelle hinaus) uvwm darf jede*r sein Leben leben, solange es andere nicht einschränkt. Alles andere ist Glaubenssache.

Kommentar Sommerfeld: Guglieren Sie einmal "Naturrecht". Der letzte Satz bündelt exakt das von mir behandelte Problem samt Extra-Sternchen.

Martin Lichtmesz

28. Mai 2024 11:17

Der Papst jedenfalls war für die Spritze, und sein Maßstab ist qua Papsttum auch "Gott". 

Kommentar Sommerfeld: Unsinn. Unfehlbar sind nur die lehramtlichen Entscheidungen ex cathedra. Der Maßstab Gottes wird von der Kreatur in den allermeisten Fällen verfehlt.

das kapital

28. Mai 2024 11:19

Intoleranz wie Toleranz machen Probleme. "Das muss jeder für sich selbst wissen" heißt doch einfach erstmal 1) Ich bin nicht jederzeit dazu berufen, jeden zu erziehen. 2) Ich habe nicht jederzeit die Kraft, um jeden zu erziehen. 3) Ich kann und will nicht jederzeit auf der Höhe jeder gesamtgesellschaftlichen Diskussion und Situation sein. "Das muss jeder für sich selbst wissen" ist doch erstmal Selbstschutz vor Überlastung durch (woken) Blödsinn. Daneben auch Demut, nicht jeden erziehen zu müssen. Wohltuend im Vergleich zur ekelhaften Selbstüber-schätzung der zunehmend totalitären politischen Akteure. Es ist allerdings an der Zeit, dass die Akteure vom Volk gründlich erzogen werden. 

Laurenz

28. Mai 2024 11:21

@CS ... ohne, daß ich jetzt eine 2er-Debatte starten will, möchte ich Ihnen antworten. Sie können Politik & Religion nicht trennen. Religion ist immer auch politisch. Sie führen Selbst Gender/Equality-Scheiß', Fakedemie, Drogen (Cannabis), Religionsfreiheit, Sterbehilfe & gar den Papst ins Feld. Das hat zwar bei den jeweiligen Befürwortern auch was mit Glauben zu tun, ist aber vordergründig politisch. Es existiert hier keine philosophische Abstraktion. Um gesellschaftlichen Konsens herzustellen, ist es, zumindest in einem idealen Staat, nur möglich, evidenzbasiert zu argumentieren. Es ist von Ungläubigen viel verlangt, wissenschaftlich betrachtet, virale Massen-Psychosen respektieren zu müssen. Da hilft Ihnen die zitierte PHRASE ungemein. Sie haben Recht, Götter gab es schon immer, aber vor nicht allzu langer Zeit wußte man von Ihrem Gott noch gar nichts & lebte auch nicht schlechter. Was ich mit germanisch-heidnisch meine, bezieht sich auf Tacitus, Cassius Dio, etc. EK hat mich, so hoffe ich, mit dieser Begriffsfindung für Frauen Ihres Schlags, genau verstanden. Es geht mir hier um das weibliche Selbstverständnis, Selbstbestimmung, spirituelle Verantwortung in der Gemeinschaft.

Martin Lichtmesz

28. Mai 2024 11:51

"Hat man bereits einen Wortwechsel hinter sich, bekommt die Phrase vielfach die Funktion der moralischen Selbststabilisierung im Gewand der psychotherapeutischen Souveränität: „Das möchte ich /sollten wir jetzt mal so stehenlassen.“ Oder sie erfüllt eine Distanzierungsfunktion und erfolgt in eiskalt-teilnahmslosem Ton, der sagen will: „Mach du deins, ich bin da raus, geht mich eh nichts an.“ Manchmal schließlich drückt sie paradoxerweise nichts anderes aus als blanke Hilflosigkeit gegenüber der Zumutung, „es“ selber wissen zu müssen.
„Das muß jeder für sich selber wissen“ heißt dann übersetzt: Ich weiß es eben nicht selber."
Manchmal weiß man etwas einfach nicht. Und manchmal weiß man genau, was gut ist für einen selber, aber nicht notwendigerweise für einen anderen. 
Wenn man sich nicht einmal mehr zu einem "agree to disagree" aufraffen kann, wozu soll man dann überhaupt noch miteinander reden? Es ist kein Diskussionsersatz, sondern die höfliche Grenze der Diskussion.

das kapital

28. Mai 2024 11:57

@ Laurenz Na, da haben sie aber jemanden erwischt von wegen "heidnischer Lebensstil". :-) Als ob Christentum oder Katholizismus nur eine Sonderform des Heidentums wären. Sind sie nach eigenen Selbstverständnis aber nicht. Der Satz “Das muß jeder für sich selber wissen!” gilt nun unter Christen ganz und gar nicht. Siehe Massaker von  Magdeburg 1631 ("Bluthochzeit") und überhaupt quer durch die Geschichte. Katholisches Christentum hat einen Alleinvertretungsanspruch weltweit. Es gibt keinen Gott außer Gott und der Papst erklärt euch, was er heute gerade denkt. Ihr selber wisst nischt, der große Brückenbauer (pontifex maximus) weiss alles. Übrigens ist das ein vorchristliches Amt in Rom (also "heidnisch") das dann katholisch christlich okkopiert wurde wie dann ab 1492 nahezu die gesamte bewohnbare Welt. /// Es gibt mehr verbindliche staatliche Normen als der Einzelne einhalten kann. Mehr christliche Normen auch. Wir scheitern notwendig und machen uns schuldig. Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein meier./// Unsere Anführer aber bezichtigen das Volk. Von Toleranz keine Spur. "Wer demokratischer Heide ist, bestimmen wir" sagte die Staatsführung. Da könnte ja sonst jeder kommen und behaupten er wisse wer er sei und was gut für ihn wäre.

Kommentar Sommerfeld:
"Der Papst erklärt euch, was er heute gerade denkt. Ihr selber wisst nischt, der große Brückenbauer (pontifex maximus) weiss alles" – ... Sancta simplicitas! So betrachtet kein Katholik den Papst, so betrachten ihn "zur Mündigkeit" erzogene Schüler im Straßeninterview.

Kommentar ML: Naja, Caroline, Stichwort Impfe, immerhin räumst Du implizit ein, daß man manchmal auch "selber entscheiden" kann nach vernünftiger Erwägung nicht demütig das tut, was einem der Papst anschafft.

Gimli

28. Mai 2024 12:22

Hallo Frau Sommerfeld, habe "Naturrecht" wikipediert und finde mich bestätigt, denn nichts anderes sage ich: Es gibt keine ewig gültigen Werte, nur zeitabhängige. Hätte Hitler den WWII gewonnen, wüsste ich nicht, ob mein behinderter Sohn noch lebte und ich dies nicht auch "glauben" würde, also für Recht heißen - ob als natürliches Recht empfunden qua Gehrinwäsche der NAzis oder das staatlich gesetzte: egal. Das ist ja ein Dilemma, dass auch die ganze Philosophie durchzieht: Es gibt eben nicht die eine Wahrheit, das eine Richtige/Wahre ... Es ist alles sehr relativ. Religiöse Menschen mögen es da einfacher haben, da sie sich LEitplanken setzen lassen. Vllt sind religiöse Menschen die, die genau da brauchen und dafür eine Superpower suchen, da sie sich selber solche Grenzen nicht zu setzen trauen. 
Das einzige, wirklich einzige, was wir aktuell und mit Sicherheit seit Menschengedenken und noch lange darüber hinaus als Konstante haben werden, sind die Naturkonstanten. Alles andere ist Ansichtssache, Aushandlungssache, SAche des "Stärkeren". Mein Transhumanismus ersetzt auch schlusschließlich das eigene Organische: Wir werden Bewusstsein erschaffen können und uns selbst transzendieren. Mit dem Körper erproben "wir" es gerade, der Geist wird folgen.

Laurenz

28. Mai 2024 12:34

@Das Kapital @L. ... mich brauchen Sie nicht überzeugen. Ich erachte das Heidentum, ohne irgendeinen moralischen Anspruch, als den zivilisatorischen Kulturbringer per se & abrahamitische Religionen als das Gegenteil dessen, weil sie nomadische, anstatt seßhafter Denkweisen implementieren. Aber, ich muß hier Andersgläubige, Atheisten & was es sonst noch so gibt, nicht nur tolerieren, sondern respektieren. (Nur beim Islam kann ich verbal losprügeln, weil es hier keinen stört.) Ansonsten kann ich keine konstruktive Debatte führen. Sie können von Glück sprechen, daß Ihr Beitrag durchging. Im Laufe der Jahre mußte ich mir auf der SiN beibringen, zu überlegen, was ich wann schreibe. Bei diesem Artikel geht es um den katholischen Gott & Glauben, was die Schreibweise von CS verändert im Verhältnis zu Artikeln, die nicht um dieses Thema gehen. Der Glaube, die Religion ist immer ein wunder Punkt bei rechten Denkern, egal, ob es sich hier um Peterson, Shapiro, Krah, oder ähnliche Protagonisten handelt. Es geht aber in der Debatte nicht um Religion, sondern um das Verhältnis der Religion zur PHRASE. Aber es ist genau diese Phrase, die CS & Ihre Religion schützt.

Wuwwerboezer

28. Mai 2024 12:43

Eins 
Das Problem sitzt viel tiefer, es liegt dem insbesondere keine Glaubens(bekenntnis)- oder gar "Ethik"-Frage (brrrhhh ...) zugrunde, das sind nur die Oberflächenschichten. 
Es liegt dem, wie so oft, die Wer-bin-ich-eigentlich-Frage zugrunde. 
Die Kriterien des Objektiven (marxistisch-leninistisch auf Hegel sich indirekt beziehend: der sogenannten objektiven Realität) und des Subjektiven (wie bis zum Extrem von Schopenhauer mit Welt-als-Wille-und-Vorstellung vertreten) sind weithin nicht geklärt. Müssen auch nicht geklärt werden, Sokrates, Platon, Aristoteles, v. Aquin, Kues, Hegel - kann in der Besten aller Welten, in der jeder sein eigener Philosoph Verzeihung Schamane (m / w / d) ist, alles wech! (Gut, bin auch nur Hobby-Philosoph.)

Wuwwerboezer

28. Mai 2024 12:44

Zwo 
Die allgemeine dem angemerkten Phänomen zugrundeliegende Verwirrung dürfte maßgeblich vom Trend zur Apotheose dero Mäxchen und Lieschen her durchgeseucht sein, welche womöglich mal ein "Schöpferbewußtseinsseminar" z. B auf der Eckart-Tolle-Schiene ö. ä. mitgemacht haben: für das Gottesbewußtsein ist ja ein jedes Phänomen subjektiv (woraus sich eigentlich ein köstliches und erst einmal näher zu untersuchendes Paradoxon ergibt). In Stufe Zwei reicht dann dieser demiurgische Ultrasubjektivismus dem angemerkten Ultrarelativisus wie auch von der "sozio-psychologischen" Schicht her gesehen dem Ultraantiautoritarismus usw. sehr gern die Hand und in Stufe Drei ist diese Zivilisation bereits so tief gesunken, daß nur noch jeder alles "für sich selber wissen muß". 

Der Gehenkte

28. Mai 2024 12:51

Man kommt am Faktum des Menschlichen doch nie vorbei. Wer sich auf ein Gottes-Recht, auf göttliche Weisheit oder göttlichen Rat beruft, treibt die Entscheidung nur eine Stufe weiter, nämlich auf die des Übersetzers. Solange Gott nicht direkt und für alle gleichermaßen überzeugend spricht, sind wir zur "Freiheit" verdammt. Das trifft im Übrigen auch auf die Natur zu, zumindest ab dem Moment, ab dem der Mensch sich von dieser "emanzipiert" hat. Auch hier haben wir das Übersetzungsproblem. Oder anders gesagt: sowohl aus dem "Buch der Natur" als auch aus den Heiligen Büchern lassen sich ganz unterschiedliche Handlungsanweisungen lesen - sobald es Theologie oder Wissenschaft und Subjektivität gibt. Beides sind Formen der Unterbrechung des unmittelbaren Zugangs, sie stellen sich zwischen Gott/Natur und den Menschen. 

das kapital

28. Mai 2024 12:51

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Matthäus 5 : 3 /// Es mag ja sein, dass kein Katholik den Papst so betrachtet, sondern nur die einfältige protestantische Minderheit. Die Diskussion um die "Unfehlbarkeit" und das erste vatikanische Konzil wird Ihnen aber auch noch geläufig sein. Die Altkatholiken haben damals die Biege gemacht und halten genau das für den falschen Weg. Es mögen ja nur wenige sein, aber es gibt sie. Auch heute noch. /// Gott irrt nicht, der Papst schon. Siehe Urban VIII. Massenmord an Protestanten unter Beifall des damaligen Papstes. "Endlich habt ihr es den Frevlern mal so richtig gegeben." erklärte er nach der Auslöschung der Stadt Magdeburg sinngemäß. Bis heute fehlt die Buße für diesen Massenmord. Der Holocaust ist immer ganz spannend. Der Massenmord von Christen an Christen bleibt aber ungeklärt.

Kommentar Sommerfeld: Der Vatikan hat bereits zahlreiche Verlautbarungen publiziert, in denen die Kirche sich von Verfehlungen vergangener Zeiten distanziert, respektive bezüglich des Judentums und des Kolonialismus. Die Frage wäre, wie viel man als Rechter oder Traditionalist aus diesem Fach bedient haben will bzw. ob man das sonst verpönte "Schuldkult"-Argument dann gegen Institutionen wendet, wenn man sie ablehnt. Die "Vergebungsbitte" Johannes Pauls II. sehe ich kritisch, siehe hier: https://www.katholisch.de/artikel/24813-als-der-papst-die-schuld-aus-2000-jahren-kirchengeschichte-eingestand

Artabanus

28. Mai 2024 12:57

"Die Freiheit, es für sich selber zu wissen, liegt in der Entscheidung für den Glauben"
Die Unterscheidung zwischen Wissen und Glauben ist oftmals sehr schwierig, das gilt allgemein und nicht nur in religiösen Dingen. Entscheiden wir uns wirklich etwas zu glauben oder bilden wir uns ein etwas zu wissen?
Es ist auch meist unmöglich, Menschen durch Argumente vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was sie glauben oder zu wissen glauben. Und auf dieser Einsicht beruht auch der Satz, es solle ein Jeder für sich selbst "wissen".

Gracchus

28. Mai 2024 13:01

Bei der Spritze hat mir als Verweigerer die Phrase nicht geholfen, lästige Diskussionen zu beenden. Wenn jemand, der sich hat impfen lassen, die Phrase benutzt hat, hat er den sozialen Druck ausgeblendet. Zugleich - so interpretiere ich - hat er mir weismachen wollen, sich aus freien Stücken, als "autonomes Subjekt", für die Impfung entschieden zu haben, als hätte der soziale Druck ihn nicht beeinflusst. 
Wenn ich sagte, es müsse jeder selber wissen, ob er zu l'amour toujours Ausländer raus ruft, würde ich dafür wenig Verständnis ernten. 
Einerseits besteht ein liberaler Indifferentismus, zugleich aber das Bedürfnis nach allgemeinverbindlicher Moral - wie sonst ließe sich die (sadistische?) Empörungslust erklären?

Gracchus

28. Mai 2024 13:18

Wie der göttliche Maßstab zu verstehen ist, ist durchaus auslegungsbedürftig. Wenn aber das Herz, in das nach Paulus das Gesetz geschrieben ist, dafür maßgeblich ist? Also das eigene Gewissen? Die Entscheidungen, die ich treffe, muss ich ja verantworten. Wenn das oberste göttliche Gebot das Liebesgebot ist, dann hat das durchaus etwas Relatives oder Relationales. Die Phrase oder den Indiffferentismus würde ich daher ablehnen, eben weil alles relativ oder relational ist, d. h. in Beziehung miteinander steht. 

frdnkndr

28. Mai 2024 13:25

Na hier windets ja ordentlich...
 
Schön, mal wieder etwas von Ihnen zu lesen, Frau Sommerfeld!

MARCEL

28. Mai 2024 13:37

Der letzte Satz erinnert an die Pensées von Blaise Pascal (vgl. die sog. Glaubenswette). 
P.S. Zum Jansenismus bzw. zur Berechtigung oder Nicht-Berechtigung eines radikalen Augustinismus könnte man ein Fass aufmachen...

Dr Stoermer

28. Mai 2024 13:42

In Bezug auf Moral ist der Satz „Das muss jeder selbst wissen“ bereits Ausweis der geistigen Gebrechlichkeit, denn Moral dreht sich um Sittlichkeit, damit um etwas Zwischenmenschliches und nicht um etwas, was allein ein Individuum betrifft. „Meine Moral“ gibt es nicht, denn man kann nur in Wirkung auf andere moralisch oder unmoralisch handeln. Auch Selbstmord und Drogenmißbrauch wirken auf andere. Damit muss sich jeder, der von Moral spricht, der Frage stellen, was Moral in der relevanten Umgebung bedeutet. In keiner Umgebung kann die Antwort lauten „es ist egal“, denn dann wäre es keine moralische Frage. 
Moralische Fragen sind solche des „guten Handelns“, somit welche, die „gut“ in Bezug auf die Vereinbarkeit mit einem allgemeinen höchsten Ziel, einem Soll, betreffen. Jedoch ist weder ein eigenes noch ein allgemeines höchstes Ziel durch Vernunft, Intelligenz, Wissen oder einem Ist herleitbar. Denn um es verstandesmäßig bestimmen zu können, bräuchte man ein Entscheidungskriterium, das aber stets selbst das höhere Ziel darstellt. Doch wie hätte dies zuvor bestimmt werden können, wenn nicht anhand eines irgendwann „gegebenen“ Kriteriums? 
Dass Sie sich für den katholischen Glauben als gegebenes Kriterium entscheiden verdient hohen Respekt. 

Adler und Drache

28. Mai 2024 13:48

Eine Phrase im Jedermannsmaul, eine schwitzig-miefige Rat- und Hilflosigkeitsfloskel - das ist alles, was vom Übermenschen übrig blieb.
Es ist das Gegenteil der Philosophie (im antiken Sinn als Kunst des richtigen Lebens), selbstredend auch des Glaubens. Es zementiert den Sumpf, in dem man steckt. Es verhindert Selbstüberprüfung und Aufstieg. 
Jedes Tier weiß selbst, was für es gut ist. - Sind wir Tiere?
Die Alternative dazu ist nicht die Bevormundung, die natürlich jeder Allzuheutige sofort mit Schrecken imaginieren und exorzieren muss ("KEINER hast mir irgendwas zu sagen!"), sondern die heilende Gemeinschaft - also hier hat das "große Wir" nun einmal wirklich seinen Sinn und sein Recht (vgl. Paulus, Oikodome, etwa 1 Kor 14,26!). 

Monika

28. Mai 2024 13:51

Das ist das Beste, was ich bisher von Frau Sommerfeld gelesen habe !! "Das muß jeder für sich selbser wissen!" Wie ich diesen Satz hasse. Und wenn ich was nicht selber weiß und eine Entscheidungshilfe brauche ? Der Klassiker beim Arzt vor einem Eingriff. "Das müssen Sie entscheiden." Die klassische Gegenfrage: "Wenn ich Ihre Frau wäre, was würden Sie mir raten?" Selbt da bin ich nicht sicher, ob mir das Richtige geraten wird.   Papst Benedikt sprach von der Diktatur des Relativismus. Wenn alle recht haben, werden eben Minderheitsmeinungen zur Not mit Gewalt durchgesetzt. Im katholischen Verständnis ist Freiheit nicht ein Selbstzweck des Lebens, sondern sie wird aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet, sie hat ein metaphysisches Fundament.  Es kann deshalb unterschieden werden zwischen dem guten und dem schlechten Gebrauch von Freiheit. Im klassischen Liberalismus lassen sich Freiheitsausübungen nicht mehr nach gut und schlecht bewerten. Aber nicht nur aus christlicher Sicht ist ein solches liberalistisches Freiheitsverständnis problematisch. Fortsetzung folgt. 

Monika

28. Mai 2024 14:01

1/2 Nicht nur aus christlicher Sicht ist ein liberalistisches Freiheitsverständnis problematisch. Es gibt auch moderne Formen der Liberalismuskritik, vor allem von philosophischen Denkern aus Osteuropa. Der polnische Dichter Czeslaw Milosz (1911-2004) bezeichnete den Verlust des metaphyischen Fundaments als eine  Tragödie: "Die vollständige Relativierung von Gut und Böse dadurch, dass man sie von den sozialen Kriterien des gegebenen historischen Moments abhängig macht, ist ein ungemein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Denkens." Was bedeutet es für die Moral des Menschen, "falls es keinen Gott gibt" ( Leszek Kolakowsky). Kolakowsky fragt, was das etwa  für  die Selbstverwirklichung bedeutet. " Der Mensch kann sich selbst vielfältig verwirklichen - einer hat das Potential, ein heiliger Franz zu werden, ein anderer hat das Potential, Hitler zu werden. Sollen wir denn sagen, dass unsere Aufgabe darin besteht, jeden Menschen sein Potential verwirklichen zu lassen, unabhängig davon, welches Potential es ist ?"

Paavo

28. Mai 2024 14:08

Der Rechtsanwalt und Publizist Klaus Kunze bringt es in seinem neuen Buch "Das rechte Weltbild, Freiheit - Identität - Selbstbehauptung" recht gut auf den Punkt: "Im rechten Weltbild ist kein Platz für fremdbestimmte Metaphysik, welcher Art auch immer. Die rechte Denkstruktur erweist sich als aufgeklärt, realistisch und an naturwissenschaftlichen Fakten orientiert. Das persönliche Bedürfnis nach geistiger Selbstbestimmung und politischer Freiheit entspringt dem Willen, die eigene Identität zu behaupten." ...

Kommentar Sommerfeld: Das scheint mir ein komischer Rechter zu sein. Ist er Liberalkonservativer? Genau dazu (Metaphysik, Aufklärung, Realismus, Rationalismus) einiges in meinem letzten Artikel zu Kant im Sezession-Heft 119, April 2024.

Monika

28. Mai 2024 14:09

1/3 Der christliche Philosoph Josef Pieper (1904-1997) hat aufgezeigt, wie der "aufklärerische Liberalismus sich blind für das Böse der Welt stellt", sowohl für die "dämonische Macht des bösen Feindes" schlechthin wie für die "geheimnisvolle Macht menschlicher Verblendung". Zitat: " Aus dem liberalistischen Weltbild ist das unheimliche, erbarmungslose und unerbittliche Nein, für den Christen eine selbstverständliche Realität, ausgelöscht. Das ethische Leben des Menschen wird zu einer risikolosen und unheroischen Harmlosigkeit verfälscht; der Weg zur Vollendung erscheint als pflanzenhafte Entfaltung und Entwicklung, der das Gute kampflos gelingt." (Vom Sinn der Tapferkeit). Die "Dikatatur des Relativismus" beschreibt die Gefahr, Gut und Böse nicht mehr unterscheiden zu können und damit die Gefahr, das Böse zu verharmlosen. Das christliche Ethos beruht auf dem Glauben an eine Werteordnung, die außerhalb der Wandelbarkeit menschlicher Dinge steht. 

Caroline Sommerfeld

28. Mai 2024 14:14

ad Gracchus 1. Teil: Nein, nicht das Gewissen! Das ist bei jedem Menschen da (auch bei den Heiden), hilft bei der Prüfung, regt sich in der Not, ist aber nicht der Maßstab selbst. Wieso es zum Maßstab werden konnte spätestens seit dem Vatikanum II., erklärt hier jemand sehr gut:
"Das übernatürliche Prinzip des Glaubens wird im Liberalismus durch das naturalistische Prinzip des «examen liberum», durch das «Prinzip des Privaturteils» (J. H. Newman) und der freien Interpretation (Neu- Interpretation, Neu-Formulierung, Neu-Aussage für die jeweiligen Adressaten) ersetzt. Der Liberale hat somit nicht mehr den Glauben im theologischen Sinne, sondern nach den Worten des hl. Thomas v. A. nur noch eine «gewisse dem eigenen Willen gemäße Meinung» (opinionem quandam secundum propriam voluntatem, a.a.O.); er hält an den Glaubenswahiheiten nicht mehr «auf die Weise fest, wie es der Gläubige tut» (non tenet eo modo sicut tenet cos fidelis, a.a.O. ad 1), sondern wie schon gesagt, «auf andere Weise als durch den Glauben» (alio modo quam per fidem), nämlich «auf Grund eigenen Willens und eigenen Urteils» (propria voluntate et iudicio, ebd.), in subjektiver Synthese."

Caroline Sommerfeld

28. Mai 2024 14:15

ad Gracchus 2.
..."Darum ist nach dieser liberalistischen Auffassung des Glaubens der Mensch ebenso frei zu glauben wie nicht zu glauben. Darum erscheint der Unglaube nicht mehr als Laster, nicht mehr als Schwäche oder gar willentliche Verblendung des Verstandes und mehr noch des Herzens, sondern als ein selbstverständlicher und erlaubter Akt, der aus dem Innern eines jeden Menschen, aus seiner tiefsten Gewissensüberzeugung erfließt. Der Glaube erscheint nur als Angebot und fakultativ. So erklärt sich auch der tiefe Respekt, mit dem man nach dem Willen des Liberalismus die Meinungen und Überzeugungen des anderen behandeln soll, das zum praktischen Dogma erhobene Prinzip der «intellektuellen Freiheit», der Denkfreiheit und Gewissensfreiheit, das Irrtum und Wahrheit auf dieselbe Stufe stellt und für beide (verschiedenen) Dinge nur ein (gleiches) Maß kennt und gelten läßt: das menschliche Subjekt."
(Anton Holzer, Vatikanum II. Reformkonzil oder Konstituante einer neuen Kirche, 1977).

das kapital

28. Mai 2024 14:16

Hallo Frau Sommerfeld, mir ging es tatsächlich konkret um Magdeburg, weil mich das nun exemplarisch für die Problematiken zwickt. Auch vor dem Hintergrund, dass dort ein Kloster neu gebaut worden ist. Als die Neubaupläne bekannt wurden, habe ich da mal näher nachgefragt, ohne Antwort zu bekommen. Wenn Sie da nähere Informationen drüber haben, wie damit umgegangen wird, dass in einer Stadt, die nahezu komplett ausgelöscht worden ist ein neues katholisches Kloster errichtet wird, lassen Sie mir und den anderen gerne Fundstellen zukommen. /// "Der Orden hat in der Stadt einen hohen Stellenwert. Das machte der Regionalbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Johann Schneider, während seiner Rede deutlich. Er erinnerte dabei an die konfessionellen Auseinandersetzungen, die es in den vergangenen Jahrhunderten in Magdeburg gab. „Der Konflikt ist vorbei“, sagte Schneider und richtete lobende Worte an die Prämonstratenser: „Sie sind Gott sei Dank wieder da – und die Stadt freut sich.“ So die etwas verwässerte Sicht der EKD. (...)

Kommentar Sommerfeld: Ich frag mal nach, habe Kontakt zu hiesigen Prämonstratensern (Stift Geras, NÖ).

das kapital

28. Mai 2024 14:18

@ Sommerfeld 2 Bei dem "Schuldkult" stehe ich mit Sicherheit gegen eine rechte Mehrheitsmeinung (auch bei Laurenz). Ehrenrettung der Waffen SS geht gar nicht. Das ist rhetorisch, historisch und politisch verfehlt. Damit kannste nischt gewinnen sondern küsst die schlimmsten Erinnerungen weltweit erneut wach. Die Verbrecher des organisierten Massenmordes liegen heute alle unter derselben Erde wie ihre Opfer. Die deutsche Geschichte beginnt aber nicht 1933 und sie endet nicht 1945. Wir haben mit den "Göttinger Sieben" und der Frankfurter Paulskirche große demokratische nationale Vorbilder. Wir können darauf stolz sein, was wir zwischen 1945 und 1998 erreicht haben. Wir sind eine herausragende Nation in Sachen Kunst Kultur Literatur Philosophie und (Natur-) Wissenschaft. Und das sollten wir auch bleiben. Das Niveau zu halten ist die Aufgabe der Nation, nicht die Selbstaufgabe durch Migration und Energiewende. Mehr Einstein, weniger Habeck. Das ist es, was Deutschland braucht. (Mehr Luther auch).
 

Adler und Drache

28. Mai 2024 14:27

Seltsam, wie schnell jene, die alles selber zu wissen und zu entscheiden meinen, dann doch umschwenken zum eifrigsten Befolgen irgendeines Gesetzes, dass ihnen irgendeiner auferlegt.
Das zeigt, wie nah die beiden Positionen des "Für-mich-Wissens" und des "Für-andere-Wissens" in Wahrheit liegen. Die (eingebildete) Eigenmächtigkeit und das Diktat sind eng verwandt, keine Alternativen. 

das kapital

28. Mai 2024 14:27

@ Grachus Nach dem Kenntnisstand vom 2. Quartal 2020 konnte man noch die Überzeugung gewinnen "Bis 50 brauchst du dich nicht impfen zu lassen, ab 50 schon." Die Überlegung war dann weiter, wenn man schon über 50 ist, will ich das wirklich haben ? Ist Impfen für Leute, die im Berufsleben stehen stressiger oder als Nichtgeimpfter durchzukommen ? Impfen weniger stressig, klar. Weniger Erklärungsbedarf, mehr Zugangsmöglichkeiten. Aber ganz klar: der Stress wurde nicht durch Corona geschaffen, sondern durch Lockdowns und staatliche Zwangsmaßnahmen. In einer Verordnung des Landkreises fand ich das Verbot, alleine mit dem Motorboot angeln zu fahren. Danach habe ich aufgehört , das zu lesen. Wenn es Ansteckungsgefahr beinhaltet, alleine mit dem Motorboot zum Angeln zu fahren, dann nimmt der staatliche Irrsinn in einer Weise an Fahrt auf, die nicht mehr nachvollziehbar ist.

brueckenbauer

28. Mai 2024 14:34

Bei den Offenbarungsreligionen gibt es ja zwei Standpunkte: 1. Die Gebote sind richtig, weil Gott sie gegeben hat. 2. Gott hat sie gegeben, weil sie in sich richtig sind (was dann auch aus der bloßen Philosophie und ohne Gottglauben begründbar ist). Standpunkt 1 ist der traditionelle Standput der Calvinisten und Moslems. Standpunkt 2 ist der Standpunkt der meisten Katholiken (vor allem der Thomisten) sowie Lutheraner. Frau Sommerfeld scheint zu Standpunkt 1 zu tendieren.

Kommentar Sommerfeld:
Nö. Das ist keine Alternative, sondern beides richtig, das eine ist der deduktive, das andere der induktive Weg der Erkenntnis: Gott hat die Gebote gegeben, wir können aus seiner Güte auf die Richtigkeit der Gebote deduktiv schließen. Die Gebote sind richtig, wir können aus ihrer Richtigkeit auf die Güte Gottes induktiv schließen.

das kapital

28. Mai 2024 14:47

@ Laurenz "Es ist von Ungläubigen viel verlangt, wissenschaftlich betrachtet, virale Massen-Psychosen respektieren zu müssen." Das wird ihnen täglich abverlangt. Angesichts der Wahlfreiheit im Glauben folge ich da aber lieber Christus als Habeck und Greta. Die würden es nie schaffen, ein Theologisches Studium zu Ende zu bringen. Dazu reicht es bei denen nun wirklich nicht ! /// Wir leben eben stets in kollektiven Wahnsystemen und nicht in einem perfekten Staat. "Unsere" Demokratie ist eines dieser kollektiven Wahnsysteme. Alle 4 Jahren geben wir unser Schicksal an der Wahlurne ab und werden dafür reich belohnt. Ja wussten Sie das etwa nicht ? Kapitalismus ist ein anderes Wahnsystem. Ohne die kollektiven Wahnsysteme, ist da menschlicher Fortschritt überhaupt möglich ? Oder wäre Amerika dann immer noch von Azteken und Tolteken beherrscht ? Wie sähe die Welt eigentlich aus, ohne kollektive Wahnsysteme ? Wie ohne Christentum ? Gäbe es ohne Christentum überhaupt einen Islam ? /// Freiheit ist die Freiheit, sich für Gott zu entscheiden. Ich werd sie ja jetzt weder protestantisch noch katholisch machen wollen. Obwohl ich auch Christentum ein Stück weit für ein kollektives Wahnsystem halte, habe ich mich dennoch für den christlichen Gott entschieden. Die "Aufklärung" und die moderne Naturwissenschaft hat christliche Wurzeln. Ohne die Vorstellung von einem christlichen Gott gäbe es das alles nicht. Gott wirkt auch heute und er wirkt auch in Ihnen.

tearjerker

28. Mai 2024 14:57

Für sich selbst wissen = Ende der Diskussion, des Wechsels von Meinungen und Argumenten, Verweigerung, Ablehnung, Abstreiten. Gern genommen, wenn das Aussprechen und der Austausch das Thema sind, weil der Gegenstand selbst nicht besprochen werden soll oder darf. Sollte in der nächsten Auflage von Die Sprache der BRD mit reingenommen werden.

RMH

28. Mai 2024 15:01

Wenn wir jetzt noch den Dezisionismus (bitte nicht gleich an C. Schmitt denken) in die Debatte einbauen, wird es runder.
Insgesamt liegt bei vielen eine falsche, bzw. nicht ganz richtige Verwendung der Begriffe Liberalismus und liberal vor. Dabei setzt Frau Sommerfeld am Ende den Punkt zu dem Thema: "Die Freiheit, es für sich selber zu wissen, liegt in der Entscheidung für den Glauben, nicht in der Unentscheidbarkeit zwischen den moralischen Optionen."
Und auch hier haben wir eine ENTSCHEIDUNG (der Sommerfeldsche Satz erinnert an Kondylis).

das kapital

28. Mai 2024 15:02

Danke, Frau Sommerfeld für die zusätzlichen Ausführungen.
"Der Liberale hat somit nicht mehr den Glauben im theologischen Sinne, sondern nach den Worten des hl. Thomas v. A. nur noch eine «gewisse dem eigenen Willen gemäße Meinung» (opinionem quandam secundum propriam voluntatem, a.a.O.)" ...Ich denke halt darüber nach, ob sich nicht auch auf liberalem Fundament noch etwas mehr an Glauben aufbauen lässt.Gott weiss mehr und kann mehr als der Einzelne in seinem Verstand und seiner Physis.Wir stoßen auch als "liberale" Gläubige an die Grenzen unserer Physis , unseres Geistes, unserer Erkenntnis. Und fehlbar sind wir Irdischen auch noch.Sich nicht selbst zu überschätzten und die Grenzen der eigenen Erkenntnis des eigenen Geistes und der eigenen Physis zu erkennen führt zur Demut.Dort wo man nicht selbst handeln und erkennen kann.Selbständiges Denken und Handeln findet dort sein Ende, wo Gott anfängt.(Hat bestimmt schon mal ein Autor zu ausgeführt, den Sie möglicher Weise besser kennen als ich.)Diese Grenze hin vom Einzelnen zu Gott wird für jeden ein bisschen anders verlaufen. Dort, jenseits der Grenze der eigenen Erkenntnis ist er aber auch für den "Liberalen" nicht mehr Meinung sondern Glauben, das Urvertrauen schafft.

Adler und Drache

28. Mai 2024 15:43

Zunächst wäre es wichtig, jenes permanent und von allen beschworene Selberwissenmüssen als Zwang zu erkennen, der mich nicht weniger einer Knechtschaft ausliefert als das Diktat; hier ist es die Knechtschaft unter einem "man", unterm Ungefähren, aber sie weist mir einen ebenso unverrückbaren Platz zu. (Die Absurdität, die sich aus dem "muss" der Phrase ergibt, bemerkt wohl auch kaum einer ...) Die adäquate Antwort darauf kann doch erstmal nur das sokratische Bekenntnis des Nichtwissens sein - nicht als Formalie, sozusagen ebenfalls als (philosophische) Phrase, sondern als erster wahrhaft eigener Schritt, als basaler existentieller Akt. Das Selberwissenmüssen verschließt, es ist ein Gefangensein in sich selbst, das Bekenntnis des Nichtwissens öffnet und befreit, es weitet den Blick. 
 

Gracchus

28. Mai 2024 15:51

@Frau Sommerfeld: Da haben Sie mich missverstanden. Ich sage nicht, dass das Gewissen (Herz) den moralischen Maßstab selbst aus sich frei heraus nach eigenem Gutdünken bildet. Den göttlichen Maßstab zu erkennen, konkret auszulegen und konkret anzuwenden, ist man aber auf sein Gewissen angewiesen; jeder dürfte auch die Erfahrung machen, dass das Gewissen einer Entwicklung unterliegt und sich verfeinert oder vergröbert 
Das Zitat bezieht sich auf den Glauben. M. W. wird in der katholischen Lehre zwischen Glauben und Erkenntnis des Moralgesetzes unterschieden - eine Unterscheidung, die ich so auch nicht treffen würde. 
 

Martin Lichtmesz

28. Mai 2024 16:44

Wer sich der Last des Selberwissenmüssens und Selberentscheidenmüssens entledigen will, der kann sich ja, wenn er will, einem bestimmten Dogma unterwerfen oder in eine Kirche eingliedern, die alle Frage beantwortet und alle (moralischen) Entscheidungen abnimmt (tut sie das wirklich?). Aber im Kali-Yuga oder "current year" gibt es keine verbindlichen Institutionen mehr, die ihm diese Entscheidung abnehmen oder sie erzwingen. Er muß es in der Tat "für sich selbst wissen". Wie soll es denn anders gehen?
Wer das jedoch tut, unterwirft sich niemals unmittelbar "Gott", sondern einem Korpus aus Vermittlern, die seinen Willen für ihn auslegen. Ob man diesen Korpus für legitim oder allein-legitim hält, ist Glaubenssache und läßt sich nur per mentalem Zirkelschluß "bestätigen".
Außerhalb des Glaubens gibt es jedenfalls noch eine Menge Dinge, die man selbst wissen und entscheiden sollte, wenn einem schon Gott dafür die Befähigung gegeben hat. Ob die Covid-Impfe nützlich oder schädlich war, darüber geben weder Bibel noch Katechismus Auskunft. Die Mehrheit des katholischen Klerus inklusive Papst "folgte der Wissenschaft". "Das muß jeder für sich selbst wissen" war damals einfach Notwehr, und ich sehe nicht, wie man daran Anstoß nehmen kann (ich freilich hätte die Impfe verboten, wenn ich denn gekonnt hätte). 

Kommentar Sommerfeld: Du verwechselst Indifferentismus mit dem, was Kierkegaard den "Sprung in den Glauben" genannt hat. In der Tat ist die Bekehrung ein Akt der freien Entscheidung und jedesmal, wenn man sich als Gläubiger für oder gegen etwas entscheidet (Wie soll einem bitte die Kirche Entscheidungen abnehmen?), gebraucht man dieselbe Entscheidungsfreiheit. Theodor Haecker hat in einem Aphorismus seiner "Tag- und Nachtbücher" festgehalten:
"Die Freiheit der Kinder Gottes entspricht einer Freiheit der Kinder Satans, nur daß diese von der ihrigen einen viel weitergehenden Gebrauch machen als jene."
Der weitergehende Gebrauch ist die große Verführung: "für sich selber entscheiden" zuerst zu wollen, dann zu dürfen, schließlich zu müssen.


ML: Gar nichts "verwechsle" ich hier, wie kommst Du denn auf diese merkwürdige Idee? Worauf stützt sich das denn in meinem Kommentar? Man kann in verschiedene Arten von Glauben "springen", und nicht jedem gelingt es. Selbstverständlich bin ich FÜR diesen "weitergehenden Gebrauch": "für sich selber entscheiden" zuerst zu wollen, dann zu dürfen, schließlich zu müssen. Das ziehe ich jederzeit der freiwilligen Selbstenthirnung und Selbsthypnose vor, die ich bei manchen "Demütigen" beobachten kann.

HagenAlternat

28. Mai 2024 18:17

Das war ein Schluck aus der Buddel, liebe Frau Sommerfeld! Bin voller Dankbarkeit für diesen Artikel!
In der Tat: das Beste was ich von Ihnen gelesen habe, weil HILFREICH!

Laurenz

28. Mai 2024 18:20

@CS ... ML ist ein intellktueller Katholik.

ML: Was soll denn das sein? Das ist nicht mein Etikett.

Umlautkombinat

28. Mai 2024 18:38

> Der weitergehende Gebrauch ist die große Verführung: "für sich selber entscheiden" zuerst zu wollen, dann zu dürfen, schließlich zu müssen.
 
Schwierig vor allen Dingen, wenn in der Kette der Verben nirgendwo "lernen" oder Gott behuete "koennen" auftaucht.

Gimli

28. Mai 2024 18:58

Ich tu mich immer schwer mit deutlicher Religionskritik, weil sie immer auf das Innerste eines Gegenüber zielt und seinen Verstand in Zweifel zieht. Beleidigen will ich nicht. Religion bietet -menschlich nachvollziehbar- Antworten auf Unerklärliches und jede Menge Trost sowie eine Fahrspur durchs Leben. Ich halts für Mumpitz und bisher ist jeder Beweis für eine direkt auf uns Menschen ausgerichtete Schöpferkraft seitens dieser Kräfte ausgeblieben. Nirgends und niemals. Nur jede Menge kitschige Interpretation und ein morbides Logo - zumindest in SAchen Christentum. Ein einziges Mem. 
Der Ankerpunkt: Nur eine übergeordnete Instanz kann Ordnung vorgeben. Sonst ist alles relativ. DAs stimmt. Und wahrscheinlich eher die Wahrheit als "Gott". Das ist anstrengend, vllt furchteinflößend. Wie die Vorstellung, wir wären alleine in diesem Universum. Und das Nichtverstehenkönnen, "was" wir eigentlich sind. Aber darauf geben Philosphie oder Religion eben auch keine Antworten. Es bleibt ein Jammer und wir bleiben auf uns alleingestellt.

Volksdeutscher

28. Mai 2024 19:00

1. "Die Tonlage ist verlegen-abwiegelnd-anpasserisch, wenn man eigentlich sagen will, daß man einer Moraldebatte nicht gewachsen wäre, den Plauderton des Gesprächs jetzt wirklich ungern ins Ernste übergehen ließe, man „dieses Faß jetzt nicht aufmachen will“."
Das muß jeder für sich wissen", d.h. bleib mir von der Pelle, deine Meinung interessiert mich nicht. Damit ist die Gefühls- und Geisteshaltung des Sprechers richtig beschrieben und rückt den Spruch in die Nähe des Solipsismus. Der floskelhafte Spruch ist verwandt mit einem anderen ebenfalls weit verbreiteten Spruch: "Über Geschmack läßt sich nicht streiten". Als ob man nicht wüßte, daß über den subjektiven unverbindlichen Geschmack hinaus auch einen objektiven verbindlichen Geschmack gäbe. Als hätte man die Absicht, zu streiten, wenn man jemanden zweifelnd danach fragt, ob er wirklich denke, daß ihm eine bestimmte Farbe stehe. Denn Geschmack entsteht nicht durch Vererbung durch die Natur wie Augen-, Haar- und Hautfarbe, sondern wird über Erziehung und Bildung, also über Kultur vermittelt. Der abwiegelnde Spruch dient klar der Verteidigung, bzw. Rechtfertigung seiner Geschmacklosigkeit/Ungebildetheit, indem der Sprecher Friedfertigkeit heuchelt und seinem Gegenüber unterstellt, jener möchte streiten, was er selber jedoch in guter Absicht vermeiden möchte. Der Austausch des Verbs streiten durch diskutieren macht diesen Umstand deutlich: "Über Geschmack läßt sich nicht diskutieren". Wirklich? 

Volksdeutscher

28. Mai 2024 19:05

2. Aber was steht hinter jener Haltung? Meines Erachtens steht hinter solchen Sprüchen wie "Das muß jeder für sich wissen" und "Über Geschmack läßt sich nicht streiten" mehr als nur das individuelle Unvermögen, sich mangelns Bildung oder Erziehung nicht artikulieren zu können, denn diese Floskeln benutzen auch Leute, die sehr wohl über Erziehung und Bildung verfügen. Die Sprüche sollten viel mehr als Indikatoren betrachtet werden, an denen sich geistige und seelische Veränderungen von Menschen in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit ablesbar sind. In vorliegendem Fall wären sie als die geistig-seelische Entfernung ihrer Mitglieder voneinander zu deuten. Es müßte vorher freilich der Unterschied zwischen Uninteressiertheit und Unverbindlichkeit auf die Situation bezogen herausgestellt werden. Ich möchte dennoch auf die Gefahr hin, daß man mir vorwirft, floskelhaft zu argumentieren, die Begriffe Atomisierung der Gesellschaft und Flucht ins Private verwenden. Kann man sich vorstellen, daß solche verbalen Ausflüchte, wie sie in beiden abwiegelnden Sprüchen zu Tage treten, auch Jahrhunderte vorher möglich gewesen wären? Durch linguistische Forschungen ließe es sich nämlich relativ leicht herausbekommen, wann beide Sprüche in Umlauf kamen. Was für Veränderungen müssen vorangehen, die die Mitglieder einer Gesellschaft in dem Maße geistig und seelisch voneinander enfernen, ehe sie in solchen Sprüchen erfahrbar werden?

Monika

28. Mai 2024 19:26

@Martin Lichtmesz Natürlich muss am Ende jeder selbst die Entscheidung treffen für oder gegen was auch immer. "Der Last des Selberwissenmüssens und Selberentscheidenmüssens kann man sich nicht entledigen". Das Perfide ist doch aber, dass gerade der Ausruf "Das muß jeder für sich selber wissen" von dieser Entscheidungslast befreien will, es aber gerade nicht tut.

ML: Das ergibt doch keinen Sinn. Der Ausruf bürdet die Entscheidungslast auf und entlastet nicht von ihr. Ich will gar nicht von ihr befreit werden!

Um die Frage des höheren Gutes, den letzten Zweck des Handelns kommt man eben nicht herum. Sie hätten die Impfe verboten, meine Freundin war für den   totalen Impfzwang, eine befreundete Nonne für Hildgard von Bingens Naturmedizin als bestes Gegenmittel.  Muss jeder für sich selbst wissen. Lesen Sie mal die Medizingeschichte über die Erfindung und Vermarktung des Salvarsan, dem Wundermittel gegen die Syphilis. Die Parallelen zum Coranaimpfstoff sind auffallend. Von der Hoffnung auf Heilung, über das Geschäft und die hochgiftigen Nebenwirkungen wurde Salvarsan zum Spielball der internationalen Politik.

Mauerbluemchen

28. Mai 2024 20:07

Es geht auch völlig anders als -istisch. Warum sollte man als Mensch dort eingreifen, wo Gott Selbst die Leute gewähren läßt? Vor allem heute, wo alles und jeder dank des Netzes Zugang zu "Moses und den Propheten" hat und daher seine Lebensentscheidungen hochinformiert fällt. Wenn Gott derzeit (im sauberen wertloswesten) die Leute tun und lassen läßt, was den edlen Herrschaften nun einmal beliebt, dann wäre es vermessen, als gewöhnlicher Sterblicher diese Autonomieidylle und den Selbstvergottereitaumel trüben zu wollen. Sollen die Leute ihren selbstbestimmten Dreck machen, wenn sie unbedingt wollen. Sie werden schon sehen, was sie davon haben (wenn man Glück hat, pflegte meine vormodern-primitive Großmutter zu sagen, dann straft Gott einen auf dieser Seite der Ewigkeit). 
Man kann also auch aus nichtliberalistischen, theistischen, relativistischen Gründen seinen Nächsten sein Zeug machen lassen. Jedes Schäfchen wird einst an seinem eigenen Schwänzchen gepackt werden, sagte die sel. Matrona von Moskau; kümmere du dich daher nicht um fremde Schwänzchen, sondern um dein eigenes.

Kurativ

28. Mai 2024 20:37

Der Satz erscheint wie ein Abbruch und ein Rückzug zum eigenen Körper hin, ohne denken oder in ein Dialog treten zu wollen. Es geht um Dogmen vs Einsichten. Da hilft Poppers Falsifikation als Selbstoptimierung. Also mal schauen, ob die Dogmen gut sind. Und hier macht Fr. Sommerfeld einen sympathischen Eindruck. Der Text ist nähmlich lesenswert.

Franz Bettinger

28. Mai 2024 20:49

Die Floskel „Das muss jeder für sich selbst wissen“ ärgerte mich - nicht grundsätzlich, aber in Bezug auf den Corona-Schwindel & das Impf-Verbrechen, wie's auch CS ärgerte. Der Satz meint: „Ich weiß nicht genug & bin zu faul, mir das nötige Wissen zu besorgen.“ Das nötige Wissen war nicht tief vergraben. Es ärgert mich, wenn man theologisiert und philosophiert, wenn man stattdessen wissen könnte. Man hätte Lanka lesen sollen statt Platon. 

Amos

28. Mai 2024 22:32

Es ist für einen Glauben paradox, nicht orthodox sein zu wollen, (Norbert Bolz dixit). Der Deismus ist ein höflicher Athesimus (wie der Pantheismus, so Schopenhauer?), er möchte Gott entpersonalisieren, indem er ihn abstrahiert und verabsolutiert. Gott ist Liebe (Basta!) mag wohl im Lichte biblischer Lehre war sein, aber wehe interessegeleitete Kreise argumentieren so: man schaue auf die Kirchentagskirche und erkenne sie an ihren faulen Früchten.

Kriemhild

28. Mai 2024 23:04

Ich finde diesen Beitrag ganz hervorragend! Er erinnerte mich ein wenig an René Guénons "Krise der modernen Welt", wonach die alte, spirituelle EINHEIT zugunsten einer VIELHEIT materieller Individualitäten verlorengeht. Die Zerfaserung ist das verbindene Element des Liberalismus, der Wissenschaft, des Individualismus und der Demokratie. Der Verlust der Anbindung an eine verbindliche transzendente Ordnung führt nach Guénon dazu, dass früher oder später "die Welt zerrissen", buchstäblich auseinander genommen und zerstört werden wird.
Allerdings fürchte ich, dass eine Verbindlichkeit nicht hergestellt werden kann, indem wir versuchen, das im Gang der Geschichte schon Durchschrittene und Überwundene wiederzubeleben. Insofern könnte für den Katholizismus Ähnliches gelten wie für die Bemühungen, die deutsche Geschichte zu "rehabilitieren" (vgl. Krah). Substanz, die Verbindlichkeit begründet, müsste demnach nicht reanimiert, sondern neu geschaffen und in die Welt gesetzt werden. 

Daniel

28. Mai 2024 23:48

Wenn ich dem Relativismus dadurch entfliehen wollte, indem ich mich wieder der kirchlichen Autorität unterwerfe, müsste ich mich impfen lassen, Flüchtlinge willkommen heißen und mich auch überhaupt hier abmelden, da ein "völkisch-nationales" Weltbild bekanntlich laut jüngstem Hirtenerlass mit dem katholischen Glauben als unvereinbar erklärt wurde. Ach, da kann man es sich dann also doch wieder aussuchen, weil alles nicht ex cathedra? (ein kurzes Eintauchen in das Thema ergab übrigens keine verbindliche Übersicht an derartigen Entscheidungen) Vielleicht markiert der Ausspruch ja auch einfach den Raum an Privatautonomie, den man sich und seinem Gegenüber noch zugestehen will, gegen all die zeittypischen und oft Partikularinteressen formulierenden, typischerweise mit "man muss" beginnenden Zumutungen samt omnipräsenten Bekenntnisdruck usw.

Florian Sander

29. Mai 2024 01:46

Ach Gott, ja. Man muss aber auch nicht immer jeden Satz überinterpretieren. Manchmal steht die besagte Floskel auch einfach nur dafür, dass man keine Lust mehr hat, ein Thema endlos mit einem besonders missionierungsaktiven Menschen durch- und auszudiskutieren (und diese Menschen gibt es auch bei "uns" zu hauf, weil zu viele Menschen im politischen Spektrum zu wenig zu tun bzw. zu wenig Privatleben haben). Das muss auch mal erlaubt sein. Man muss nicht immer alles ausdiskutieren müssen. Das ist auch nicht immer gleich Verweigerung der Kenntnisnahme von Quellen o. ä., sondern manchmal auch einfach Prioritätensetzung zugunsten eigener Lebenszeit.

Simplicius Teutsch

29. Mai 2024 07:36

@ Florian Sander, 29. Mai 2024 01:46 ...
Da muss ich jetzt doch antworten; denn mit Ihren nicht abgehobenen Gedanken treffen Sie genau meine Meinung, nachdem ich gerade die Beiträge von oben nach unten bis zu Ihrem Beitrag ganz am Schluss gelesen habe (teilweise gescrollt, nur angelesen, ich habe heute ja auch noch anderes zu erledigen).
- Aber, das muß jeder für sich selber wissen.

RMH

29. Mai 2024 07:39

"Man muss aber ..." @F.S. Ja, aber er war in diesem Fall ein Einstieg in einen interessanten Aufsatz. Den Satz für sich alleine betrachtet, sehe ich auch eher unverfänglich an, zumal es in dieser stets von einem Bekenntnisse abverlangenden Zeit schon schwer ist, überhaupt auch einmal eine nur neutrale Position einzunehmen. Überall grölt einem, bildhaft gesprochen, die DDR Liedzeile vom Oktoberklub "Sag mir wo Du stehst" entgegen, man soll "Haltung", "Gesicht" zeigen und "couragiert" sein. Schon ein Schweigen wird als Zustimmung zum "Rechts" gewertet, denn damals haben ja angeblich auch "alle" geschwiegen (eine glatte Lüge). Und ja, ich bleibe dabei, es muss jeder selber wissen, ob er im Suff zu irgendwelchen Schlagern Deutschland den Deutschen etc. grölt oder nicht. Unsere Treiber & Entscheider der Gesellschaft verfolgen selbst privateste Anlässe. Die Fratze des Totalen greift um sich & nur deshalb wirkt ein heutzutage exzentrischer kath. Erzkonservatismus schon wieder irgendwie interessant, putzig und ja (!) liberal. Wer aber die prügelnden Prälaten & Pfaffen BEIDER Kirchen noch selber erlebt hat, der weiß ganz genau, dass man den Menschen unter der Prämissen einer gerechten oder natürlichen Ordnung niemals zu viel Macht über andere einräumen darf. So wie Pfaffen früher geprügelt haben, so prügelt heutzutage der Staat, zwar nur gelegentlich körperlich (u.a., wenn man als Demonstrant auf der "falschen" Seite steht), aber immer häufiger übergriffig in Psyche, Privatheit, Geldbeutel und Freiheit.

Maiordomus

29. Mai 2024 07:42

@Unglaublich, liebe Kollegin, die ich in A. bei den Schweizer Lesern von Sezession sprechen hörte und die ich Sie in letzter Zeit hier vermisste, dass Sie es wagen, Gregor XVI. zu zitieren, den reaktionären Papst schlechthin. Aber wie alle Radikalen sagte er etwas, das zu bedenken bleibt, die Absage an die schale Beliebigkeit. Heidegger und Nietzsche sprechen sinngemäss von den "Herumstehern, die nicht an Gott glauben" und die Radikalität einer solchen Entscheidung nicht mal ahnen. Auch die Stauffenbergs und Goerdelers, mit denen ich mich vor 60 Jahren erstmals befasste, haben sich ihre strittige Entscheidung nicht leicht gemacht, auch wenn damals erst recht "jeder selber wissen musste", dass man bei Misslingen an Fleischerhaken aufgehängt wird. Wie auch immer:  Ihr Beitrag erinnert an die Tiefendimension der Ethik, das Ringen um verlorene Wertmassstäbe, die Verhältnisse und Proportionen, das Sich-Verweigern gegenüber den Frageverboten und den offensichtlichen Lügen des Zeitalters. Kollege @L hat es sich herausgenommen, sich dem Papst gegenüber zu räuspern. Das ist endlich wieder Niveau des 11. Jahrhunderts, sollte man nicht vergessen. "Meint ihr, Gott sei nur ein Römer Gott? Auch Deutschlands Äcker tragen ihre Saaten." (Bismarck) Andererseits behalten Katholizität und Orthodoxie unter der Bedingung der Weite des Begriffs "katholos" Wesentliches vom "abendländischen" Erbe, am besten wohl von Erasmus erfasst.

Laurenz

29. Mai 2024 07:52

@Franz Bettinger ... ab & an helfe ich in einer Spiel-Gruppe im Netz aus, wenn denen wer fehlt. Meist Leute zwischen zwischen 30 & 50, aus Österreich, der Schweiz & Deutschland, alle mit guter Berufsausbildung (viele Akademiker & IT-Spezialisten), Leute aus der Unterschicht sind die Ausnahme. In 2021/22 führte ich mit denen die Mordsdemie-Debatte, wie wir sie auch hier geführt hatten, nur verbal. Die Mehrheit glaubte! an die Inzidenzen, an die angeblichen Toten. Nur ein junger Familienvater, mit technischem Beruf im Krankenhaus, bedauerte mir gegenüber (unter 4 Augen), daß Er die eine Impfung, zu der man Ihn zwang, doch lieber nicht vollzogen hätte. Als ich vor 3 Monaten die alte Debatte im Forum mit einem Satz ansprach, wollte niemand mehr daran erinnert werden. Niemand möchte die Haken des eigenen Glaubens aufgezeigt bekommen.

Maiordomus

29. Mai 2024 07:53

@Gimli. Zur Einführung in die Naturwissenschaften empfehle ich Ihnen die neunbändige, von Schelling begründete Gesamtausgabe von Kepler, dazu den Kommentar von Einstein in seinem Buch über das Weltbild der Physik sowie Poppers Kritik des Positivismus, ferner seinen Aufsatz über die Darwinsche Theorie als metaphysisches Forschungsprogramm, auf welches sich natürlich bornierte religiöse Fundamentalisten zu Unrecht berufen. Ihr Vulgär-Szientismus wurde auch in Lehrbüchern der DDR als Weltanschauung rezipiert, er hat etwas Beruhigendes, bleiben Sie insofern dabei, es gibt noch weit dümmere Ansätze, vergleiche, was man heute an Hochschulen beobachten kann, Im Massenbetrieb wächst natürlich auch bei Studenten und Dozenten überproportional das Mittelmass, das jeweilige Mehrheitsmeinungen eines augenblicklichen medial vermittelten Diskurses mit Wissenschaft verwechselt. Hier scheint @Lichtmesz einiges richtig zu sehen. Was @Steiner u. Co betrifft, ist etwa die Fragestellung nach Biosophie, Anthroposophie, Jatrosophie bedeutsamer als ihre jeweiligen weltanschaulichen Antworten.
 . 

Maiordomus

29. Mai 2024 08:33

@Florian Sander.  Uns "missionsaktiv" zu engagieren, dafür besteht wahrlich kein Anlass. Aber man unterschätzt das Diktum des britischen Kardinal Mannings, siehe auch Voegelin, dass die wesentlichen Meinungsverschiedenheiten in der westlichen Welt auch nach der Aufklärung in der Grundstruktur theologischer Natur sind. Deswegen fand ich es gut, dass sich Frau Sommerfeld wieder mal in die Debatte eingeschaltet, und erst noch mit dem vielleicht am wenigsten zitierbaren Papst der neueren Kirchengeschichte. 

Maiordomus

29. Mai 2024 08:44

@Gimli. Die Frage, ob ihr behinderter Sohn noch lebe, hängt weniger von Hitlers Sieg im 2. Weltkrieg als davon, wie wir uns zu den durchaus ernst zu nehmenden ethischen Ansätzen von Peter Singer stellen, die ich übrigens, wie in einem früheren Debatten-Strang ausgeführt, an einem Abitur-Aufsatz mit immerhin von mir zwei Jahre lang geschulten Kandidaten nicht zur Diskussion stellen durfte. Sie hätten fast gleich gut fragen können,   ob ihr behinderter Sohn deswegen nicht abgetrieben wurde, weil der Feminismus sich damals und hoffentlich auch heute nicht voll durchgesetzt hat.
Von allem, was Hitler vertrat, war seine Einstellung zur Euthanasie in Deutschland am umstrittensten, der Widerstand der kath. Kirche dagegen  erbittert und öffentlich. Leonardo Conti, dessen Mutter, Reichshebamme Nanna Conti, gegen die katholischen bayrischen Hebammen kämpfte wegen deren Vorurteilen gegen Abtreibung, war überzeugt, dass nach dem Endsieg für den Triumph des med. Fortschritts die kath. Kirche eliminert werden müsse. Die nur "antifaschistische" öffentliche Behandlung des NS verhindert übrigens ernsthafte Aufklärung über die 12 Jahre.  

Monika

29. Mai 2024 08:57

@martin Lichtmesz, wir reden hier irgendwie aneinander vorbei. Der Satz: "Das muss jeder für sich selber wissen" führt im besten Falle zu einer eigenen vernünftigen Reflexion auf individuelle Entscheidungen, im schlimmsten Falle überfordert er. Wie Daniel richtig sagt, kann man dem Relativismus nicht dadurch entfliehen, dass man sich einer kirchlichen (oder anderen) Autorität unterwirft. Im Falle Corona hat die Kirche leider grandios versagt. In der WELT war jüngst ein Beitrag: " Corona Aufarbeitung: "Einsames Sterben in den Krankenhäusern war amoralisch, unethisch und unnötig" Über 300 000 Menschen starben durch strikte Maßnahmen ohne Beistand !! Hier hat der Katholische Maßstab (siehe Titel zu Frau Sommerfeld) leider nicht funktioniert. Der  handlungsleitende Maßstab sollte doch die Nächstenliebe sein und nicht die Anpassung an die staatlichen Interessen und an die Interessen der Pharmaindustrie. Apropos Nächstenliebe: Das Lied l amour toujours gibt es auch in einer feierlichen Orgelversion :)))Vielleicht können wir uns darauf einigen. 

Monika

29. Mai 2024 09:11

@Daniel Wir befinden uns in einer paradoxen Situation. "Scheitert rechte Politik ohne Christentum? "Mit dieser Frage beschäftigt sich Josef Jung am 28.5.24 in seinem Beitrag auf thecathwalk.de. Und wenn es nur mit Christentum geht, wie kann ein Rechter Christ sein, wenn die Deutsche Bischofskonfernz ihm sein Christsein abspricht ? Diese Frage treibt Maximilian Krah um. In einem Interview mit Lukas Steinwandter im online magazin corrigenda mit  sagt Herr Krah: " Mein Ziel ist es, das politisch aktive Potenzial, das rechts der Mitte unterwegs ist, weltanschaulich zu einen", Krah will Menschen ein in sich schlüssiges Weltbild vermitteln, aus dem heraus sie politische Entscheidungen treffen können." (finde jetzt auf die Schnelle den link nicht). Hier wäre eine Diskussion zu starten. Ver-bindlichkeit versus Relativismus. Wie könnte das aussehen. Vorerst gilt: l'amour toujours...dröp,dröp....

Dr Stoermer

29. Mai 2024 10:39

1/2
Hochverehrte Frau Sommerfeld,eine Frage hätte ich noch: Ihr „Nein, ich muss es nicht für mich selbst wissen“ zieht die umstrittene Antwort auf eine moralische Frage „ersatzweise“ aus dem Glauben.  Im Ergebnis kommt das - wenn man es dem anderen nicht "aufdrückt" - einem „Jeder kann/soll/muß/darf etc. es für sich selbst glauben“ gleich. Man entzieht sich damit genauso einer allgemeinen Gültigkeitsklärung wie mit der - zusätzlich bereits logisch inkonsistenten - Behauptung „Jeder muss es für sich selbst wissen.“  Hat dies also nicht die gleiche Wirkung wie der kritisierte Relativismus, da beides einem Rückzug in die geistige Einsiedelei entspricht? Wobei der eine lediglich glaubt, während der andere meint es auf eine beliebige Art wissen zu können? Überlässt nicht beides das Feld denen, die die unvermeidbare Unwissenheit des Menschen in Gottlosigkeit wenden, und zwar ganz gleich ob mit oder ohne „Glauben“:

Kommentar Sommerfeld: Hervorragende Frage. Einen kleinen Teil der Antwort hatte ich schon Lichtmesz gegeben. Sich zum Glauben zu entscheiden ist nicht dasselbe wie sich im Glauben entscheiden bzw. durch den Glauben gerüstet entscheiden. Es ist niemals möglich gewesen, einen anderen (oder gar alle anderen) zum Glauben zu zwingen, sei es mit Gewalt oder dem "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" (J. Habermas), das gilt nicht erst für Aufklärung, (Post)moderne, Kali Yuga oder Bewußtseinsseelenzeitalter.
Für oder gegen Gott muß man sich entscheiden (und man kann sich als Gläubiger auch dauernd wieder gegen Gott entscheiden, das nennt sich dann Sünde). Diese Entscheidung nimmt einem keiner ab, eben auch nicht die Kirche. Wenn aber – und das ist mein Punkt – die "freie Entscheidung" als Indifferentismus (also als Ideologie) jedem einzelnen Menschen vom Kleinkindalter an ("Was möchtest du denn heute essen, Schätzchen?") anerzogen wird, dann verschwimmt der Unterschied zwischen der Entscheidung für den Glauben und jeder beliebigen Alltagsentscheidung bzw. moralischen Grundsatzentscheidung zu Einzelfragen. Kurz: Jeder, der sich für Gott entscheidet, weiß das deshalb "für sich selber", weil Gott ihn dahin geführt hat, also in Wahrheit doch nicht "für sich selber".

Dr Stoermer

29. Mai 2024 10:41

2/2
»Allmächtiger Gott! Unser himmlischer Vater!... Du weißt, daß wir in einem Kampf auf Leben und Tod stehen gegen eine der schändlichsten, gemeinsten, gierigsten, geizigsten, blutdürstigsten, geilsten und sündhaftesten Nationen, die je die Seiten der Geschichte geschändet haben.
Du weißt, daß Deutschland aus den Augen der Menschheit genügend Tränen gepreßt hat, um ein neues Meer zu füllen, daß es genügend Blut vergossen hat, um jede Woge auf dem Ozean zu röten, daß es genügend Schreie und Stöhnen aus den Herzen von Männern, Frauen und Kindern gepreßt hat, um daraus Gebirge aufzutürmen. ...
Wir bitten Dich, entblöße Deinen mächtigen Arm und schlage das mächtige Pack hungriger, wölfischer Hunnen zurück, von deren Fängen Blut und Schleim tropfen. Wir bitten Dich, laß die Sterne in ihren Bahnen und die Winde und Wogen gegen sie kämpfen... Und wenn alles vorüber ist, werden wir unsere Häupter entblößen und unser Antlitz zum Himmel erheben... Und Dir sei Lob und Preis immerdar, durch Jesus Christus. Amen.«
Sitzung des US-Kongresses am 10.01.1918
Ist es nicht angebrachter zu sagen: „Nein, was Du willst will ich nicht?" 

Kommentar Sommerfeld: Ist es nicht angebracht, hier auf Joh 8, 7 und Mt 7 zu verweisen?

Adler und Drache

29. Mai 2024 11:52

@ML
Selbstenthirnung und Selbsthypnose
So, wie ich das verstehe, geht es hier nicht um intellektuelle Fähigkeiten, sondern um eine Kompetenz-Zuschreibung (oder besser: Anmaßung?), die gleichermaßen solipsistisch & egalitaristisch ist. So funktioniert keine Familie, keine Gemeinde, keine Schule, kein Betrieb, überhaupt keine Gemeinschaft im echten Leben, dennoch wird es unbeirrt & trotzig behauptet. 
Auch rein logisch ist es doch recht einfach: Woher sollte ich denn selbst alles wissen? Auf welcher Grundlage selbst alles entscheiden? Das heißt im Umkehrschluss keineswegs, dass ich selbst gar nichts wissen oder entscheiden könnte. Aber dazu muss ich doch erst einmal & immer wieder lernen, auf andere hören, etwas annehmen, also: Mir meiner Position als Empfangender klar werden & sie annehmen. Das Sprüchlein verbaut eine solche Haltung, es baut vielmehr eine effektive Mauer um mich auf, mit der ich meine Weiterentwicklung verhindere. (Ein Beispiel dafür, welche realen Wirkungen Glaube & Bekennen haben!) - Es füttert freilich den Trotz in mir, es gefällt ihm. So funktioniert die linke Zerrüttung von Sittlichkeit & Charakter; nah verwandt ist das Sprüchlein "Keine Macht für niemanden!"

Adler und Drache

29. Mai 2024 11:52

Selbstenthirnung und Selbsthypnose II
"Der Katholizismus" oder "das Christentum" wiederum geht nicht & ging noch nie in der "real existierenden Kirche" auf; EK verwies deshalb letztens auf die Heiligen. 
Wo man sich nicht mehr auf Gott beziehen kann, gibt es auch keine Wahrheit mehr - & man spürt gerade beim Thema "Impfung" oder beim Thema "Drag-Queens lesen vor Kindern" (nur um zwei Beispiele zu nennen, die Sie selbst bearbeitet haben), dass hier mit, in & um Wahrheit gestritten werden muss!   
 

heinrichbrueck

29. Mai 2024 14:39

Das Abendland hat den Liberalismus hervorgebracht, also muß das Christentum Defizite haben, und die defizitäre Christentumskompensation Liberalismus funktioniert nicht - politisch gesprochen. 
In der Kirche predigt der Priester, und schon nach kurzer Zeit wird klar, es fehlt jede höhere religiöse Legitimation. Weiße Schuld, Verblödung durch neuinterpretierte Bibelzitate, Kolonialismus (das Kolonialopfer sitzt in der Nachbarschaft), eine Mischehe wird zelebriert, also eine rundum gelungene Erniedrigung. Die Lüge ist nicht zu rechtfertigen, es funktioniert nichts mehr. Wie kann eine solche Situation entstehen, das eigene Volk beseitigen zu können?
Wie man in den "Ersten Weltkrieg" geschlittert ist, das Kongreßzitat zeigt die geistige Behinderung, und keine Bildung es zu verhindern vermocht hatte, wird ein tiefergehenderer Kampf überdeutlich. Schlußendlich bleibt die Konsequenz: Beseitigung des Volkes (“Das muß jeder für sich selber wissen!”). Dabei wird auch klar, nur Schwachköpfe werden ihr eigenes Blut opfern, handelt es sich um den Mythos der demokratischen Nachkriegsordnung, dieser komplett aus dem Ruder gelaufenen Geschichtsdeutung. 

Waldgaenger aus Schwaben

29. Mai 2024 14:44

Beim Lesen ist mir der Satz "zur Freiheit verdammt" in den Sinn gekommen. Er stammt von Satre und beschreibt angeblich die Lage der Menschen, die Gott für tot halten (Original "zur Freiheit verurteilt").
Ich habe gestern und heute beim Holzmachen ein bisschen über den Artikel und den Satz gegrübelt. Sind wir Christen etwa unfrei, weil wir die Verantwortung an Gott bzw. die Kirche angeben  und uns an die Gebote halten? Der letzte Satz des Artikels könnte so verstanden werden.  Ich denke aber, dass jeder sich ein Glaubenssystem auswählt (inwieweit das  freiwillig ist, wäre eine andere Frage). Die Gläubigen sind sich dessen  bewusst und können klar sehen, wofür sie sich entschieden haben. Wer nur diffus an irgendwelche "Werte" glaubt und dort wo er nicht weiter weiß "das muss jeder selbst wissen" sagt, der tut sich schwer damit erkennend auf seinem Lebens- und Glaubensweg fortzuschreiten, weil er gar nicht weiß, woran er eigentlich glaubt.

Pferdefuss

29. Mai 2024 15:58

@das Kapital
Mehr Einstein? Mehr Heisenberg. 

martina rettul

29. Mai 2024 16:06

Mein Gott, 
im Kern versucht CS dankenswerterweise »die Möglichkeit einer Insel« (einer narzisstischen Monade) mit der Möglichkeit der Selbstdistanz zu kontrastieren. Und kein »mindset« weltweit eignet sich dafür besser als das Katholische. Was man sich damit einhandelt, ist allerdings Schmerz; Erkenntnis-Schmerz, der aber in der Lage ist, im Blick auf ein Sollen zu orientieren. Dem nichtkatholischen Rest bleibt »das Müssen« und die Angst: richtig oder falsch? 
 

Pferdefuss

29. Mai 2024 16:40

'Das muss jeder für sich selber wissen/entscheiden' = 'Das ist deine Meinung.' = 'Das ist dein Bier.' = ' Da denke ich ganz anders darüber.':
Ist das nicht wie das Amen in der Kirche, das allerdings die Gemeinde einschließt und im 'So ist es' abschließt, während hier die gnadenlose Vereinzelung, Absonderung, Ratlosigkeit  gemeint ist, ja absichtlich bewirkt wird? So einfach geht Rhetorik.

das kapital

29. Mai 2024 17:25

@ Pferdefuss Der Wissenschaftler jüdischer Abstammung hatte bis 1896 die württembergische Staatsbürgerschaft, ab 1901 die Schweizer Staatsbürgerschaft und ab 1940 zusätzlich die US-amerikanische. Einstein wurde 1879 in Ulm geboren. Geborener Deutscher. Heisenberg mit seiner Quantenmechanik ist ja auch interessant und bedeutend. Einstein aber hat den höheren internationalen Bekanntheitsgrad.

Gracchus

29. Mai 2024 17:56

@Adler und Drache: Das stimmt zwar, aber das Christentum ist hierzulande stark auf die Institution Kirche fokussiert. Und das erweist sich als Nachteil (auch gegenüber islamischer Mission), wenn die Kirchen komplett versagen. Denn da ist niemand, der dies kompensieren könnte. Die Klerikalisierung und Theologisierung des Glaubens hat dem Christentum enorm geschadet. Der einfache Gläubige hat überhaupt keine Sprache mehr, um von seinem Glauben mit ansteckender Begeisterung zu sprechen. Deshalb wird das (herkömmliche) Christentum immer mehr in der Irrelevanz versinken.

martina rettul

29. Mai 2024 18:38

Noch was zum »katholischen Fühlen«:
In den Worten von Mario Perniola (Vom katholischen Fühlen) : »Sich selbst mit einem Blick von außen her sehen, sich als ›Welt‹ statt als ›ich‹ betrachten, Entstehendem und Geschehendem beiwohnen zu wissen, ohne es gleich in eine vorgefertigte Interpretation oder in eine Logik lediglich persönlicher Interessen einsperren zu wollen...« that´s it. 
Mehr zur der Dynamik Angst vs. Schmerz und damit zur konfessionsübergreifenden »postreformatorischen Belastungsstörung« (Horst G. Herrmann) findet sich in dem leider immer noch aktuellen Buch Im Moralapostolat.

Kommentar Sommerfeld: Danke für den Tip, der Perniola ist noch nicht erschienen, ich merk's mir vor. Hermann kenne ich und habe es damals rezensiert.

Maiordomus

29. Mai 2024 18:59

Kapital/Pferdefuss. Über die Bildungsgeschichte von Einstein glaube ich wegen Kenntnis der Geschichte der Kantonsschule in Aarau mehr zu wissen als andere. Die Legende vom angeblich schlechten Schüler betrifft ausschliesslich die Rückstände in Französisch des Zugereisten, doch musste man damals an Abitur noch in jedem Fach genügend sein. Für die Lehrer der Naturwissenschaften war er von Anfang an das Erlebnis eines Genies. Aber klar, dass er zum Teil auch überschätzt wird, aber gerade nicht bei seiner genialen Seite, sondern ausgerechnet darin, dass er mathematisch, wie er selber eingestand, kein Genie wie Euler oder Bernoulli oder Kepler war. Er selber fand, wie er im Buch über sein Weltbild darlegte, Keplers Berechnung des Transits des Mars durch den Mond, mit Geräten von Jost Bürgi überhaupt technisch geschafft, eine auch im Vergleich zu Leistungen von Galilei, Newton und ihm selber unvergleichlich geniale Leistung, einschliesslich natürlich der Ableitung von Gesetzen, die nicht auf Anhieb so bezeichnet werden konnten geschweige denn, dass sie schon als bewiesen gelten konnten. Einstein verdient durchaus die Bewunderung, die ihm heute entgegengebracht wird, wenngleich anders als nur die reine Anbetung seiner Intelligenz.  

das kapital

29. Mai 2024 19:50

@ Maiordomus Zur Einsteins Schule hieß es mal, die hätte ein "umgekehrtes" Notensystem gehabt, also 6 = super und 1 = mangelhaft. ///"Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und die leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg; ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen, als mich an einem so elenden Tun beteiligen." ///Ein Pazifist eben

Gracchus

29. Mai 2024 20:46

@CS: Perniola, Katholisches Fühlen, ist schon vor Jahren erschienen. Erinnere mich daran. 

Kommentar Sommerfeld:
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/vom-katholischen-fuehlen-12489.html – der Verlag schreibt, es sei noch nicht erschienen?

martina rettul

29. Mai 2024 20:54

@sommerfeld
ist mir da von Ihnen mal etwas durchgegangen? wo haben Sie das Herrmann-Buch rezensiert. gibt es einen Link?

Kommentar Sommerfeld:
Ich habe mich geirrt. Nur gelesen und mit verschiedenen Leuten per Mail besprochen. Eine Rezension gibt es aus Ellen Kositzas Feder hier: https://sezession.de/58200/wittenberg-wir-haben-ein-problem.

Gracchus

29. Mai 2024 21:06

Hier:
https://www.perlentaucher.de/buch/mario-perniola/vom-katholischen-fuehlen.html
vielleicht war es vergriffen und wird wieder neu aufgelegt. Bei Amazon ist auch lieferbar, habe ich gesehen; antiquarisch auch.  

Frieda Helbig

29. Mai 2024 22:03

Ich las den Text mit Gewinn, obwohl ungetauft. CS hat zumindest einen moralischen Kompass, im Gegensatz zu vielen anderen Zweibeinern. Spannend ist für mich, wenn wir es nicht wie CS halten: Worauf begründen wir anderen denn unseren moralischen Kompass? Oder brauchen wir keinen?

Olmo

29. Mai 2024 22:23

Wenn es Gott nicht gibt, also kein Maß, kein Jenseits und keine Strafe, dann ist alles egal. Man kann es dann auch sehen wie Gimli. Mit dem Tod ist ohnehin alles vorbei. Warum sich nicht gehen lassen, warum nicht alles ausprobieren, die einzigen wirklichen Grenzen: die eigene Macht und Möglichkeit, der Geschmack und Appetit. Ob ich ehrvoll oder ehrlos gehandelt habe, grausam oder gütig war— egal.  

Laurenz

29. Mai 2024 23:36

@Frieda Helbig & Olmo ... Heidnische Zivilisationen hatten auch, aber ganz andere Wertvorstellungen, vor allem realistischere im Anspruch. Christen galten in der Römischen Frühphase als gefährlich, was sie ja auch waren & sind, häufig mit Bigotterie erfüllt, weil keiner dem Anspruch genügt. Nennen Sie uns eine Epoche, in der das Christentum, sich (moralisch &) gesellschaftlich bewährt hatte? Ich kennen nicht eine einzige. Vielleicht kann man die Katharer nennen, die aber dann auch schnell von den Katholiken verfolgt & vernichtet wurden.

Maiordomus

30. Mai 2024 06:18

@Olmo. "Es gibt keine Freiheit ohne Mass, ohne Opfer, ohne den Glanz der Freude." - "Geist hat, wer Missstände aufzeigt. Anstand hätte, wer etwas dagegen tut." Dies zwei Maximen aus "Winter in Wien" von Reinhold Schneider, der sich jedoch in jenem seinem letzten Werk, seinem gültigsten, als resignationsfähig erwies. Das muss nicht unser Rezept sein. Natürlich ist nicht alles egal, das sehe ich auch bei Gimli nicht so, der sich im Gegensatz zum herrschenden Mainstream hier immerhin dem Dialog stellt; siehe noch, was ich ihm betr. seinen behinderten Sohn zu antworten versuchte, vielleicht hilflos, aber doch überzeugt, dass zumal er gewiss nicht alles richtig zu sehen scheint. 
@Frieda Helbig. Sie schreiben "ungetauft". Ich frage mich indessen, ob Heinrich Heine recht hatte, als er die Taufe das "entrée billet in die europäische Kultur" nannte. Jedenfalls haben Johannes der Täufer und Jesus Christus bei der Begründung dieses Sakramentes diese Perspektive nicht mal im Hinterkopf gehabt. Noch bewegend, Zwinglis politisch-theologische Ausführungen über die Kindertaufe, natürlich gegen die damaligen Täufer-Fanatiker gerichtet, die Mühe hatten mit dem Polis-Charakter des menschlichen Daseins, was sich  vor allem aus dem aristotelischen Klassischen Naturrecht ergibt, vgl. Samuel Pufendorf, wenn Sie es protestantisch haben wollen. 

das kapital

30. Mai 2024 07:51

@ Frieda Helbig Doch wir brauchen dringend einen moralischen Kompass. Und das Christentum unter besonderer Berücksichtigung der Thora zeigt ihnen über 3 Jahrtausende auf, wie sich der moralische Kompass der Menschheit entwickelt hat. Im Guten wie im Schlechten ist das organisierte Christentum ein unverzichtbarer Kompass und ein Wegweiser zu ewigen Werten. Man muss doch nicht 3 Jahrtausende wegschmeißen, um seinen privaten Kompass zu bauen. Sondern das Christentum bleibt weltlich wie spirituell wie ästhetisch das Fundament unseres Lebens unseres Erlebens und unserer Gesellschaft. Norden liegt im Norden, egal welchen Kompass sie verwenden. Und Gott bleibt Gott. Der Nordpol der Moral sozusagen. /// Das Christentum ist auch dann ein zentraler und völlig unverzichtbarer Kulturträger, wenn man nicht oder nicht so tief im Glauben verankert ist. Freiheit ist die Freiheit, sich für Gott zu entscheiden. Gott ist eine gute Erfindung. Sie brauchen die Gesetze der Schwerkraft nicht in allen Einzelheiten zu verstehen, um auf der Erde zu bleiben. Sie brauchen aber auch nicht Gottes Gesetze in allen Einzelheiten zu verstehen, um Schweben zu lernen. Leben und denken Sie einfach mal einen Monat so, als ob es Gott gibt und er für Sie da ist. Probieren Sie aus, was das für Sie macht und wie er Ihre Weltsicht und Ihr Leben verändert. Wenn es eine gute Erfahrung ist, dann hängen Sie einfach noch ein paar Monate dran. 

Adler und Drache

30. Mai 2024 08:57

@Gracchus: Vielen Dank für Ihren Gedanken, auf den ich seltsamerweise nichts selbst gekommen bin, obwohl er an sich ja recht einfach ist. 

das kapital

30. Mai 2024 09:30

@ heinrich brueck "Das Abendland hat den Liberalismus hervorgebracht, also muß das Christentum Defizite haben, und die defizitäre Christentumskompensation Liberalismus funktioniert nicht - politisch gesprochen."

Dem Christentum jetzt aber zu unterschieben, es sei doppelt schuld, ist schon ein bisschen gewagt und dann noch oben drauf zu packen, das Christentum sei nicht nur schuld am Liberalismus sondern auch noch schuld daran, dass er nicht funktioniere sondern das Land destabilisiere und demoralisiere ist jetzt ein bisschen zu viel auf einmal. /// Jan Hus und Luther sind kostbare Beiträge zur Demokratisierung des Landes, zur Volksbildung, zur Verbreitung des individuellen Glaubens. Gegen die Defizite der "una ecclesia sancta" ist nun gerade die evangelische Kirche angetreten, welche heute voller Defizite steckt, in ihrer Gründungszeit aber durch und durch beseelt war. /// Die Aufklärung und nicht nur der Liberalismus sind auf christlichem Fundament gewachsen, egal ob Kraut oder Unkraut. Und sie haben und hatten persönlichen wie gesamtgesellschaftlichen Erfolg zu verzeichnen. Rheinischer Kapitalismus mal so als Beispiel. Die transatlantischen Turboegoisten aber diesseits wie jenseits verkehren das Experiment in ihr Gegenteil.

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