Deshalb ist es heute en vogue, mehrere Sprachen zu sprechen oder in Zukunft sich mit Gadgets zu versorgen, die mühelos die eine in die andere Sprache übersetzen können. Und so müsse der Zusammenhalt gelingen.
Das ist eine technisierte und reduktionistische Sicht auf die Primärsprache, die nicht umsonst in vielen Sprachen Mutter-Sprache heißt. Ihr tiefenpsychologischer Sinn geht dabei leider verloren.
Es war eine frühe geniale Intuition der Sprachschöpfer (und da es sich dabei um Menschen vieler Generationen handelt, deren individueller Beitrag nicht nachzuvollziehen ist, darf man auch sagen: der lebendigen Sprache), die Mutter zur tragenden Entität zu ernennen, und dort, wo man von Vatersprache – wie etwa im Polnischen: język ojczysty – oder Heimatsprache etc. spricht, gilt dennoch das gleiche Prinzip.
Genial, weil man bis vor Kurzem noch nicht wissen konnte, daß schon das Ungeborene im Klangraum der Mutter aufwächst, daß es noch im Fruchtwasser die Mutter – ihre Geräusche und Laute – abhört und unbewußt prozessiert. Es kommt mit der „Erwartung“ zur Welt, zwar den Aggregatzustand zu wechseln und die Form seiner Versorgung mit Sauerstoff und Nahrung, aber die Sprache der Mutter, ihre taktile und verbale Zuwendung nicht entbehren zu müssen, und wenn alles seinen natürlichen Gang geht, dann geht dieser „Wunsch“, dieses natale Apriori, dieses Bedürfnis in Erfüllung.
Nebenbei: Schon aus diesem Grunde sind Leihmutterschaften eine sehr fragwürdige Angelegenheit und ein bislang noch wenig ergründetes Experiment am lebenden Kind, um so mehr, wenn statt der weiblichen Vertrautheit nun eine Männerstimme das heilsame Bad im Gewohnten ersetzen muß. Das Kind wird bereits unmittelbar nach der Geburt mit einer lebenslangen Bürde belastet, deren konkrete negative Folgen zwar oft im Dunkeln bleiben, dennoch aber erwartbar sind.
Wenn Heidegger von der Sprache als dem „Haus des Seins“ sprach, dann schwingt diese Bedeutung unbedingt mit: die heimische Sprache schafft – nach Sloterdijk – die Sonosphäre, den ersten Globus, d.h. die Welt.
Das frühe Spracherlebnis teilt sich dann in zwei Bereiche auf: in die Sprache selbst und in die Stimme. In der Sprache der Mutter verbindet sich beides und man kann wohl auch vermuten, daß die Stimme in diesem Falle dominant ist. Spräche die Mutter mit ihrer unverkennbaren Stimme plötzlich Chinesisch, so würde das Kind wohl weniger Beunruhigung zeigen, als daß eine fremde Stimme weiterhin auf Deutsch zu ihm spräche. Auch kann es sein, daß die Sprache der Mutter gar nicht zur ersten Sprache wird, etwa wenn das Kind in einem anderen sprachlichen Gesamtkontext aufwächst und die Mutter selbst nicht dominant muttersprachlich auftritt.
Die Stimme, die richtige Stimme, ist der erste Garant des Glücks und der späteren Glücksfähigkeit und „alle tragenden Lebensbezüge im allgemeinen und alle Gemeinschaftsbezüge im besonderen erschließen sich dem Menschen allein durch das Medium der glücklichen Stimmung“ (Bollnow: Das Wesen der Stimmungen).
Ist die Stimme gesichert, rückt die Sprache zusehends ins Zentrum der Aufmerksamkeit, denn was das Kind im Idealfall zu hören bekommt – lange bevor es selbst ein sinnvolles Wort brabbeln oder selbst eines unterscheiden könnte – ist die gleiche Sprache mit verschiedenen Stimmen. Und in einer prästerilen und noch wahrhaft vielfältigen Sprachwelt war dies zudem in der Regel ein Dialekt. Den Dialekt „spricht man unter sich. Dialekt bedeutet: intime Gemeinschaft“ – er ist in natürlichen Verhältnissen die sprachliche Ausweitung der Intimität von der ersten Mutter-Kind-Dyade zum ersten Kreis der Gemeinschaftsverhältnisse.
In dem irgendwie ‚Gestimmten‘ eines Dialektes, in dem unmittelbar Eindruckshaften seiner Ausdrücke zeigt sich die stämmische Sinnesart, das Sonderwesen eines Volksteiles. (Hans Lipps: Die Verbindlichkeit der Sprache)
So schafft die Sprache, die die Muttersprache sein sollte, ein „quintessentielles soziales Band“ (das tief aus der Paläo-Geschichte des Menschen stammt), einen Raum der Sicherheit, des Dazugehörens, des Eigenen.
In Gesellschaft leben heißt immer schon auch teilnehmen an einem teils imaginären, teils psychoakustischen Schoß-Phantasma – der Vorstellung von einem Bergenden und Umgreifenden, das uns zu hören und zusammengehören läßt.
Sloterdijk (in: Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik u.a.) führte das soziale Zusammensein paläontologisch u.a. auf eine „Insulierung“ der Hominiden, auf ein frühes „Phonotop“, eine „vokale Glocke“ zurück und diese „Sozialinseln“ konstituieren sich maßgeblich durch ihren spezifischen Innensound, aus dem Sprache wurde und die Sprache des Eigenen ist.
Ein Sprecher der ersten Sprache wird stets ein Wohlgefühl auslösen, man wird ihm auch in späteren Jahren einen Vertrauensvorschuß geben, selbst wenn das rational nicht mehr zu begründen sein sollte, denn man hat eines gemeinsam: man versteht sich bis in die kleinsten Schwingungen und Stimmungen hinein. Sicher, man kann auch sagen: man versteht die Codes – aber das ist zu wenig psychologisch und zu stark informationstechnisch gedacht. Deswegen klingen andere Dialekte zuerst befremdlich, deshalb hielten die Griechen die fremden Völker für Barbaren und die Barbaren die Griechen ebenfalls.
Da die Muttersprache – wenn man sie vom dialektalen Gehalt trennt – auch meist Nationalsprache ist, knüpft sie zudem ein unsichtbares Band zwischen den Landsleuten eines Landes oder einer Kultur. Wer schon einmal tief im Ausland war und nach wochenlangem Aufenthalt eine deutsche Stimme gehört und die Erleichterung empfunden hat (sofern man das Deutsche nicht geflohen ist), der weiß, wovon hier die Rede ist.
Daher ist es auch vollkommen normal und erwartbar, wenn in internationalen Situationen sich wie von allein national- oder muttersprachliche Gesprächs-Inseln bilden, wenn sich also Vogtländer zu Vogtländern, Sachsen zu Sachsen, Ostdeutsche zu Ostdeutschen, Deutsche zu Deutschen oder Franzosen zu Franzosen und selbst noch Europäer zu Europäern gesellen.
Sicher, man kann andere Sprachen lernen und sich nach einer gewissen Zeit auch sicher darin bewegen, aber es ist die Ausnahme (auch in Abhängigkeit von der linguistischen Entfernung der fremden Sprache von der eigenen), wenn diese auch auf muttersprachlichem Niveau beherrscht wird, weil es dazu eben jenes geheimnisvolle Etwas braucht, das technisch, durch Fleiß, durch zu späte Mimikry kaum noch erreicht werden kann, jenes Umgebensein von Stimmungen, Schwingungen und Schweifen, Winken, Weisen und Zeigen, wie es nur die Sprache der Mütter, die Sprache als verbaler Uterus und Haus, vollbringen kann.
Wenn wir einander auf muttersprachlichem Niveau als Deutsche begegnen und erkennen, dann reicht dies tiefenpsychologisch weit in die Vergangenheit hinein, in die je individuelle, mütterliche, die generationelle, die nationale und in die der Gattungsgeschichte.
t.gygax
Sehr guter Text, öffnet Tiefenschichten,die von der heutigen Linguistik kaum noch erfasst werden.