Ein gutes Beispiel für letzteres bieten die Niederlande. Geert Wilders ist das einzige Mitglied seiner Partei für die Freiheit (PVV) und wird, folgt man bestimmten AfD-Granden bei »X« (ehemals Twitter) und anderswo, die Verhältnisse endlich verbessern; jedenfalls wird er geradezu hymnisch gefeiert.
Andere zeigen sich geschockt, daß Wilders, der im November 2023 beachtliche 23,6 Prozent bei den Parlamentswahlen erzielte, nun mit Liberalen und anderen Akteuren aus dem Mainstream eine Koalition bildete: Mit dem Neuen Sozialvertrag (NSC) des Wertkonservativen Pieter Omtzigt, der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) von Dilan Yesilgöz und der Bauern-Bürgerbewegung (BBB) von Caroline van der Plas.
Ist nun das, was oft (zu) voreilig als »Verrat« gedeutet wird, überraschend? Nur dann, wenn man Wilders für einen grundsätzlichen Rechten hielt, sein Programm und seine Person also fundamental mißinterpretiert hat.
Wilders steht nicht für die Sache seines Volkes; er betreibt mustergültige »Affektpolitik«. Mit dem Soziologen Steffen Mau gesprochen ist dies eine Politik, die den »Gefühlshaushalt von Wählerschaften aktiv zu regulieren (gedenkt), etwa über emotionalisierte Botschaften, Personalisierung und die Mobilisierung politischer Leidenschaft«.
Leidenschaft ist wichtig; ohne sie wird überrationalisiert – in der Politik führt das in die Sackgasse. Und ja, Leidenschaft wird oft angeregt durch verschiedenartige Affekte. Sie bleibt wichtig »als Moment der Politik«, wie Antonio Gramsci postulierte – aber sie muß eingebettet sein in ein kohärentes Ganzes. Das ist bei Wilders nicht gegeben, weshalb der Unmut über seine (alt-neue) Nähe zum eigentlichen Establishment nicht verblüffen darf.
Das, was Wilders vertritt, ist keine kohärente – also konsistente und integrale – Weltauffassung oder Politikvorstellung. Es ist der Traum, das für die Niederlande und die Europäische Union alles so weiterläuft wie bisher (von gesellschaftlichen Liberalisierungen bis zur Außenpolitik), wenn der große Feind »Islam« endlich niedergerungen wird. Denn nur darum geht es Wilders: um Islamhaß.
Man muß beileibe nicht so weit gehen wie Frederic Höfer oder Thor v. Waldstein und Bündnispotentiale mit muslimischen Migranten und Nationen tatsächlich oder vermeintlich idealisieren. Aber auch dann, wenn man keine Neigung hat, Interessenausgleich mit entsprechenden Kräften zu betreiben, muß festgehalten werden, daß das, was Wilders treibt, die alte Neocon-Agenda auf Speed bedeutet.
Eine Kostprobe aus der aktuellen Woche verdeutlicht, was gemeint ist: Wilders twittert da – wie so oft – nicht über niederländische Politik, nicht über Verwerfungen der Multikulturalisierung oder der politischen Ökonomie. Nein: Er inszeniert sich als vulgären Kreuzzügler gegen »den Islam«, den er in einem Tweet pauschal und in toto als »abscheuliche, verwerfliche, gewalttätige und haßerfüllte Religion« bezeichnet. Gültigkeit: weltweit.
Wer so spricht, wer so twittert, wer so denkt, der ist »extremistisch« pur et dur, sofern man diesen Terminus, der durch VS, Antifa und Medienwelt gänzlich desavouiert scheint, überhaupt verwenden mag. In jedem Fall betreibt er tatsächlich das, was man der grundsätzlichen Rechten immer vorwirft: Haß und Hetze.
Und dennoch: Liberale koalieren mit ihm in den Niederlanden und die EU-Fraktion Identität und Demokratie (ID) schweigt zu derlei Vulgärpropaganda. Warum? Weil es hier nicht um »Remigration« (wie auch immer man diese definiere) und nicht um authentische Kritik am Prinzip der multiethnischen Gesellschaftstransformation geht, sondern um plumpen Anti-Islam-Rausch. Das wird geduldet, zumal Wilders, der die extreme israelische Rechte in der Palästina-Frage rechts überholt, kürzlich klar machte, daß er keine Umkehr der Massenmigration wünsche: Wer von Verdrängungs- oder Ersetzungsmigration ausgeht, den rückt die Partei von Wilders sogar offen ins Neonationalsozialistische.
Aber auch dies ist keine Überraschung. Wilders affirmiert den individualistischen Menschen, der losgelöst von Herkunft und Identität sich zur modernen westlichen Gesellschaft bekennt, »Fortschrittshindernisse« beseitigt und sein Leben frei und liberal gestaltet; auch für mehr »Emanzipation« der LGBTQ+-Szene kämpft er seit Jahren offensiv und hat sogar mit der linksgrünen Opposition in den 2010er Jahren entsprechende Weichenstellungen durchgesetzt. Alles für den Kampf gegen »den Islam«, wenig für die Niederlande.
Das kann man in einer pluralen Gesellschaft so oder so ähnlich vertreten – nur sollten authentische Rechte nicht glauben, daß dies mit irgendeiner konservativen Weltanschauung, die Familie, Volk und Nation (oder auch Europa) in den Vordergrund stellt, vereinbar wäre.
Es ist letztlich wie so oft banal: Rechte, bundesdeutsche zumal, feiern deshalb Wilders, weil sie es lieben, wie linke Agitatoren an Wilders’ Islamablehnung und seinem anti-woken Duktus verzweifeln. Das ist mindestens zu wenig und zu kurz gedacht, für enttäuschte Wilders-Fans wie die niederländische Aktivistin mit Millionenreichweite, Eva Vlaardingerbroek, sogar unverhohlener »Verrat« an volks- und identitätsorientierten Prämissen (– die Wilders aber nie ernstlich vertrat).
Einstweilen kann man nüchtern konstatieren, daß Geert Wilders relativen Erfolg mit dieser Art von Affektpolitik hat (EU-Wahl am 6. Juni: 17 Prozent). Das genuin rechte Forum für die Demokratie von Thierry Baudet, das eine starke inhaltliche wie personelle Verankerung in jungrechten Milieus besitzt und in Teilen an die AfD erinnert, landete lediglich bei 2,5 Prozent; die liberalkonservative Partei JA21, vergleichbar dem Bündnis Deutschland (BD), sogar nur bei 0,7 Prozent.
Doch Wahlergebnisse alleine sind keine Offenbarung für grundsätzliche Politik: Ein Politiker wird nunmal nicht allein deshalb zum »Heilsbringer«, weil Linke ihn hassen – doch diese Projektion ist eine Konstante von den Niederlanden bis in die USA.
Maiordomus
Wie will Wilders eigentlich gegen den abgelehnten Islam kämpfen, was schlug er vor? Das würde man in diesem Artikel gerne noch lesen. Irgendwas muss er ja schliesslich wollen. Was denn? Ich hasse den Islam wird wohl kaum genügen. Hat er irgendwann was konkret vorgeschlagen?