Wenn von russischer Literatur die Rede ist, wird allgemein an etwas Altehrwürdiges und Solides gedacht, das über Jahrhunderte gewachsen ist. Doch der Schein trügt: Sie ist sehr jung!
Die Poesie – bis auf die anonyme kirchliche oder jene der Volkslieder – existiert erst seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ist also nicht wesentlich älter als Mozart. Für die Prosa gilt ähnliches. Zopfperücken tragende Lyriker streiten sich noch um die Fragen der Prosodie, tarieren die Grenzen des Metrums aus, wobei sie sich auf klassische antike, deutsche und französische Verslehren beziehen, während die Kaiserin Jekaterina für eine wahre Kulturblüte sorgt und auch selbst aktiv an der literarischen Produktion der Epoche teilnimmt. Es ist die Zeit des großen Experiments.
Während die Verskunst sich in allen möglichen Genres versucht und ein Dichter den anderen an Einfallsreichtum zu überbieten trachtet (wenn auch verspätet, so doch durchaus dem deutschen Barock vergleichbar), wird das russische Drama aus der Taufe gehoben und zu einem beeindruckenden Repertoire hochgezüchtet.
So widmet zum Beispiel Alexander Sumarokow sein ganzes Leben dem Aufbau des Theaters und schreibt an die zwei Dutzend Stücke – Tragödien und Komödien im strengen Alexandriner, darunter gar einen eigenen »Hamlet«. Ihm folgen Michail Cheraskow, Michail Lomonossow, Alexej Rschewski, Wassili Majkow, Jakow Knjaschnin, Pjotr Plawilschtschikow und viele, viele andere.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen dann auch die frühesten russischen Romane. Der Pionierstatus darin gebührt einem gewissen Fjodor Emin, dessen Bekehrung zum Islam wie auch der Rest seiner nebulösen Biographie möglicherweise Teil einer großen Mystifikation und Selbststilisierung ist. Jedenfalls gilt Die wankelmütige Fortuna oder die geraubte Miramonda (1764) als der erste russische Autorenroman.
Aus etwa derselben Zeit stammt auch Die schöne Köchin (1770) von Michail Tschulkow. Diese und ähnliche Werke jener Periode sind nach dem Gusto des Schelmenromans verfaßt und verfolgen das Ziel, ihr Publikum mit spektakulären Abenteuern zu unterhalten und zugleich das Laster bloßzustellen. Ihre Verfeinerung und den ersten Anflug von Psychologie bekommt die Prosa etwa zwei Jahrzehnte später mit dem Sentimentalismus eines Nikolaj Karamsin und dessen Roman Die arme Lisa (1792).
Im allgemeinen ist die gedankliche Ausrichtung dieser vorbereitenden Periode einerseits von den Idealen der Freimaurer geprägt, die in Rußland um Aufklärung bemüht sind – wobei das russische Wort für Aufklärung – prosvjaščenie – weniger materialistisch klingt und eher eine Spur von »Erleuchtung« enthält. Andererseits vom Adelsethos – neben der Mitgliedschaft in diversen Logen sind die meisten Autoren entweder Aristokraten oder stehen der höfischen Gesellschaft nahe. In diesem Sinne wird die Prosa von den richtungsweisenden Geistern eher verachtet, da sie zu wenig Heroisches oder Mythologisches bietet und im Ton zu niedrig angesetzt ist.
Statt dessen werden große Versepen geschaffen, allen voran die Rossiade (1779) von Michail Cheraskow mit über 10 000 Zeilen, eine Dichtung, welche die Eroberung von Kasan durch Iwan den Schrecklichen beschreibt, oder die vielbeachtete Duschenjka (»Seelchen«, 1783) von Ippolit Bogdanowitsch, eine ätherische Versübertragung des Amor-und-Psyche-Märchens. Oder, noch zwanzig Jahre später, Die uralte Nacht des Weltalls oder der wandernde Blinde (1807/09) von Semjon Bobrow, eine Art russische Göttliche Komödie, die in ihrer unerhörten Kühnheit bis heute noch gänzlich unerforscht ist und gerade in diesen Tagen erstmalig wiederveröffentlicht wird.
Der wohl renommierteste Dichter jener Jahre ist Gawrila Derschawin mit seinen hochexpressiven bildreichen Hymnen und lyrischen Episteln. Sowohl er als auch Bogdanowitsch bilden gleichsam die Kulisse für den neuen Stern am poetischen Himmel – Alexander Puschkin. Dieses Sprachgenie wird beinahe symbolisch im letzten Jahr des ausgehenden Jahrhunderts geboren, 1799. Ihm gelingt es, für alle Genres – Lyrik, Dramatik, Prosa und Essayistik – neue Maßstäbe zu setzen.
Vom sich verabschiedenden Klassizismus und Sentimentalismus beeinflußt und bereits von der aufkeimenden Romantik fasziniert, wird Puschkin zum geistigen Brennpunkt einer Epoche, die heute als das Goldene Zeitalter bezeichnet wird (wenn dieser Terminus auch die teils gewaltigen Errungenschaften und die Mannigfaltigkeit der vorangehenden Epochen unverdienterweise in den Schatten stellt, aus welchem sie erst nach und nach wieder gehoben werden).
Die Dichter seines Kreises, die zum Teil älter als er selbst sind, wie zum Beispiel Konstantin Batjuschkow und Pjotr Wjasemski, werden zur letzten Bastion und zur Vollendung des aristokratischen Paradigmas in der Literatur – vor allen Dingen des Prinzips der spielerischen Leichtigkeit, der berühmten, von Baldassare Castiglione einst ausgerufenen sprezzatura. Es gilt, jede Spur von Anstrengung zu verwischen, alles, was nach Arbeit aussieht, wozu auch jede Form von übermäßiger Gelehrsamkeit gehört, durch Unangestrengtheit, Eleganz und sprühende Spontaneität zu ersetzen.
In dieser geistvollen Atmosphäre soll in schlichten, doch erlesenen Worten ein Abbild der idealen Schönheit entstehen, wo (wenn es gestattet ist, in diesem Zusammenhang Gottfried Benn zu zitieren) »alles fehlt und alles zielt«. Das Werk des Künstlers wird programmatisch zur »Muße« erklärt, nichts soll zu ernst, zu bedeutungsschwer sein, sondern in reinen Anblick münden.
In den Belkin-Erzählungen, der Pique Dame und der Hauptmannstochter erschafft Puschkin mystische Momente, die sich aber nicht aus dem Jenseitigen speisen, vielmehr aus der subtilen Logik des Geschehens. – Die Entdeckung des Magischen Realismus? Immer scheint im Hintergrund eine verhängnisvolle Macht aktiv zu sein, doch erkennbar wird sie nur an ihren Auswirkungen. Der Teufel steckt gewissermaßen im Detail.
In Puschkins möglicherweise bedeutendstem Werk, dem Versroman Eugen Onegin, erreicht der Vers einen Grad von plaudernder Natürlichkeit, der in jedem Russen das Gefühl erzeugt, der Gedanke ließe sich gar nicht anders ausdrücken. Ein zentrales Thema ist die Konfrontation zwischen einer bejahende idealistischen Weltbetrachtung und einer verneinenden und ironischen, verkörpert in den Gestalten Wladimir Lenski und Eugen Onegin.
Ein anderes: die Frage nach dem eigentlich russischen Wesen in der Person Tatjanas. Ihre Liebe zu Onegin ist derart bedingungslos, daß sie eine Verletzung der Konvention riskiert und ihm als erste – schriftlich! – ihr Gefühl gesteht. Dennoch stellt sie im Verlauf des Romans das Prinzip der Treue zu ihrem (wenn auch ungeliebten) Gatten – und damit die tradierten Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenhalts – über ihre leidenschaftliche Liebe, was einem Opfer und einem Verzicht auf das persönliche Glück entspricht. Auch Onegin offenbart an manch einer Stelle dämonische Züge, und sein zersetzender Skeptizismus entpuppt sich als das heimliche geistige Gift, das die jungen Generationen befällt und aushöhlt.
Der Tod Puschkins 1837 läßt sich als eine Art Dammbruch in der russischen Literatur bezeichnen. Es ist, als würde plötzlich eine Kraft, welche die gesamte aristokratische Ästhetik in sich trägt, auf einmal weichen. Und so ist es kaum verwunderlich, daß ausgerechnet mit seinem Tod eine neue Strömung sich Bahn bricht – der Naturalismus und Realismus, propagiert durch die sogenannten raznočincy, also Angehörige unterschiedlicher Stände. Hier ertönt zum erstenmal eine aggressive Forderung nach Entthronung und Abschaffung der klassischen Ideale und nach Orientierung an dem, was als »Wirklichkeit« begriffen wird, nämlich dem Leben des kleinen Mannes und dessen Alltagssorgen. Das ist der Beginn der Prosa im niederen Sinne des Wortes und der traurige Vorläufer der »cancel culture«.
Doch natürlich wird die alte Festung nicht ganz kampflos aufgegeben. Persönlichkeiten wie Michail Lermontow sind gewissermaßen das letzte Aufgebot gegen die sozialistisch-demokratische Nivellierung. In den gestochenen Versen dieses frühvollendeten Genies entfaltet die heroische und rebellische Haltung des romantischen Geistes noch einmal ihre ganze Pracht und erklimmt sprachlich unerreichte Höhen.
Die komplexe und schimmernde Bild- und Klangwelt seiner Dichtung, in der jede Silbe auf etwas anderes hinzudeuten scheint, weist bereits weit über sich hinaus und legt einen Grundstein für den späteren Symbolismus. Wie auch seine Prosa mit ihrer eher harschen und schmucklos kargen Wortwahl, die das Fatalistische und Existentielle bar des Sentiments durchs Geschehen beleuchtet – ohne vor dem Leser die Innenwelt auszubreiten. Um wieder einmal Benn zu zitieren: »Die Spaltungen, den Riß, die Übergänge, / den Kern, wo die Zerstörung dir geschieht, / verhülle …«
Die Prosa, bislang durch Schelmenromane vertreten und mit allen Requisiten des barocken Schaubudentheaters ausgestattet, wird in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits weiterentwickelt und aufpoliert. Eine besondere Rolle fällt dabei Wassilij Nareschny zu, der mit seinem Russischen Giles Blas (1841) als direkter Vorgänger Gogols gelten darf. Er wird auch heute noch als der eigentliche Begründer des russischen Romans betrachtet.
Und schließlich betritt mit Nikolaj Gogol ein weiterer Titan die Bühne. Er verbindet in sich das Burleske und Theatralische mit der Raffinesse der aufkeimenden Romantik. Diese ist es auch, die ihn vor der allzu großen Lockung des Naturalismus rettet. Denn zwar handelt auch sein Werk von kleinen Leuten und deren Nöten, doch führt es den »magischen Realismus« Puschkins auf geschickte Weise fort und läßt im Hintergrund jedes Mal diabolische Kräfte ahnen, die aber nicht in Erscheinung treten. – Um wen mag es sich wohl bei Tschitschikow handeln, der durchs Land reist und menschliche Seelen (Die toten Seelen) aufkauft? Oder bei Chlestakow (von chlestat’ = geißeln), der als vermeintlicher Revisor die schwachen Staatsbeamten in Versuchung bringt?
Und es ist just diese Zeit, in der ein weiterer literarischer Held erscheint – Fjodor Dostojewski. Auch wenn es den Liebhabern des Spätwerks schwerfällt, dies zu glauben, doch seinen Anfang hat Dostojewski in der Romantik. Die frühen Texte, allen voran Der Doppelgänger (1846), könnten durchaus in einer Reihe mit E. T. A. Hoffmann, Eugène Sue oder Edgar A. Poe stehen. (Für den letzteren hegt unser Autor die allergrößte Wertschätzung und publiziert dessen Erzählungen erstmalig auf russisch.)
Und so ist es kaum erstaunlich, daß der Teufel auch bei ihm seinen Platz findet. Denn auch wenn die sowjetische Literaturgeschichte sich bemüht, den großen Schriftsteller zum Realisten zu erklären, so bleibt er in seiner schillernden Welt, zwischen Himmelsvision und Höllenspelunke, auch tatsächlich ein »magischer Realist«. Wohl am deutlichsten in seinen Dämonen, wo der satanische Duktus der politischen Umwälzungen sich fest in die russische Geschichte einschreibt.
Mit Lew Tolstoj, Iwan Turgenjew, Iwan Gontscharow und Nikolaj Leskow breitet sich die realistische Kunstprosa aus, wie sie heute überall auf der Welt bekannt ist. Daneben aber existieren manche seltenen Sumpfblüten, die sehr viel eigenwilligere Wege gehen. So zum Beispiel Alexander Weltman, ein Dichter aus Puschkins Freundeskreis, der aber in seinem späten Schaffen einen Bogen zu Dostojewski schlägt. Sein erster Roman, Der Wanderer (1831), ist hochgradig experimentell – eine Reise, die sich auf einer Landkarte abspielt!
Dabei werden alle Genres aufgebrochen, manche Passagen sind in Versen verfaßt, andere in verteilten Rollen als Drama. Das Werk besteht aus zahllosen kurzen Kapiteln, von denen etliche nur ein paar Sätze lang sind, oft genug auch tatsächlich aus nur einem Satz. Andere Romane, wie etwa Koschtschej der Unsterbliche, tauchen in die Atmosphäre des uralten sagenumwobenen Rußlands mit Personen aus russischen Märchen ein. Sie sind in einer atemberaubenden Collagetechnik verfaßt, die von der sprachlichen Machart her den Futurismus vorwegnehmen. Aus seiner Feder stammt aber auch der Roman MMMCDXLVIII, der im Jahr 3448 spielt. In seiner letzten Lebensphase arbeitet Weltman an einem großen Zyklus aus fünf Romanen, Abenteuer, geschöpft aus dem Meer des Lebens. Um die Publikation des Abschlußbandes bemüht sich noch Dostojewski, doch ohne Erfolg. So ist er bis heute unveröffentlicht geblieben.
Ein anderer Sonderling ist Apollon Grigorjew, der unseren Zeitgenossen meistens als großer Literaturkritiker bekannt ist. Dabei ist dieser Dostojewski-Freund (als Person steht er Pate für Mitja Karamasow!) in erster Linie ein Poet, der sein Werk in Gedanken als eine »Odyssee des letzten Romantikers« betrachtet. Verstörend wirken seine kurzen Romane Einer von vielen und Noch einer von vielen, in denen er einen negativen diabolische Helden entwirft, der – mitten in der Gesellschaft – aus tiefster Überzeugung ohne Moral lebt und zahllose Menschen in den Selbstmord treibt.
In einem Fall wird diese Haltung sogar auf okkulte Hintergründe zurückgeführt – als Zögling eines mystischen Geheimordens glaubt der bildhübsche junge Mann, ein Gott zu sein, für den keine menschlichen Gesetze gelten. Grigorjew schreibt einen großen Sonettzyklus über Venedig, überträgt masonische Tempellieder, spielt als Schüler des nach Rußland ausgewanderten John Field virtuos Klavier und Gitarre und verbringt viel Zeit in den Außenbezirken in der Gesellschaft von umherziehenden Zigeunern.
Eine weitere aufsehenerregende Fehlfarbe ist der Fürst Wladimir Odojewski. Mit seinem Studium esoterischer Lehren und der Musiktheorie genießt er den Ruf als der »russische Faust«. In beinahe Hoffmannscher Manier verfaßt er bizarre Novellenzyklen mit allerlei Spuk und astralen Reisen. Manche handeln von Komponisten wie Beethoven. Er bewundert Bach, komponiert vertrackte Fugen und konstruiert 1864 ein vierteltöniges Klavier, das immer noch im Moskauer Glinka-Museum zu bestaunen ist.
Diese Geister präsentieren die russische Prosa von einer ganz anderen Seite her – sie ist nicht, wie etwa bei Tolstoi, in glattpolierten Sätzen gearbeitet, mit einem allwissenden Erzähler ausgestattet und an der »Realität« ausgerichtet, sondern zutiefst subjektiv, exzentrisch und nonlinear, was ihre Einordnung in die schulmäßige Literaturgeschichte so schwierig und unbequem macht.
Am Ende des 19. Jahrhunderts finden neue Versuche statt, aus dem Raster des Realismus auszubrechen. Es ist der Einbruch der Moderne, als dessen erste Bewegung der Symbolismus auftritt. Hier erfolgen ganz neue Definitionen von Wirklichkeit, geschult an Philosophie und Okkultismus. In der Dichtung äußert sich das in der Hinwendung zu exotischen Themen, möglichst fremden Kulturen und ausgefallenen poetischen Formen.
Auch das Erotische zeigt sein Gesicht, und der Tabubruch ist an der Tagesordnung. Sich an Äther, Promiskuität und Spiritismus berauschende Dichter streben a realibus ad realiora – vom Realen zum Überrealen. Auf einmal erscheint sogar Puschkins Parlando mit seinen beflügelten Geistesblitzen als ein Brevier der mystischen Erfahrung – seine Rose, einst Symbol der schlichten Schönheit, mutiert zur paradiesischen Rose Dantes oder zur blutenden Rose für das Kreuz.
Die Sprache wird entweder in gestochene Phrasen eines Walerij Brjussow gegossen oder in akrobatische Kunststücke eines Andrej Belyj. Brjussow, ein Wortführer des Symbolismus, ist Autor des Schlüsselromans Der feurige Engel (1907), der im Köln der frühen Neuzeit spielt – mit Alchemie, Scheiterhaufen und Hexensabbaten. Die Geschichte der drei Personen – Ruprecht, Graf Heinrich und Renate – ist eine kaum verhüllte Kodierung der Dreiecksbeziehung zwischen Brjussow, Andrej Belyj und Nina Petrowskaja.
Das Werk wird in viele Sprachen übersetzt und später von Sergej Prokofjew als Oper vertont. Andrej Belyj bemüht sich, die verborgenen Triebfedern der Sprache herauszufinden und mit beinahe naturwissenschaftlichem Eifer in gültigen Gesetzen zu formulieren. Rhythmus und Klang werden in ihre kleinsten Einzelteile zerlegt, gemessen und gewogen. In seiner Prosa, wie dem großen Roman Petersburg, schlagen die Sätze Purzelbäume, und der Schriftsteller wird zum Jongleur.
Als seltsamer Außenseiter des Symbolismus tritt Boris Sawinkow in Erscheinung, seines Zeichens Terrorist. In den zwei Romanen Das fahle Pferd (1908) und Das schwarze Pferd (1923) folgt er Dostojewski in die Abgründe der menschlichen Seele. Seine kristalline Sprache, die komplett auf Emotionen verzichtet, erinnert an die unterkühlten Filme eines Michelangelo Antonioni mit ihrem schmerzhaften existentialistischen Zug. Wie bei Dostojewski entfaltet sich das Drama der Apokalypse mitten auf der Erde vor aller Augen, und in jedem Menschen offenbart sich der Himmel im Kampf wider die Hölle.
Nach der Oktoberrevolution von 1917 setzt in Rußland eine neue Ära ein – ein Siegeszug der Moderne. Bis zur Proklamation des Sozialistischen Realismus im Jahre 1934 liegt noch ein weiter Weg. Und die frühen Werke der Sowjetliteratur sind keineswegs fotografische Abbildungen der sogenannten Wirklichkeit. Vielmehr Patchwork, Mosaik und Pyrotechnik. Es ist die Zeit, in der Schriftsteller mit kühnen Rhythmen und grellen Metaphern groteske Welten erschaffen, die an Bilder eines Otto Dix oder George Grosz gemahnen.
Etwa in der unheimlichen Dystopie Wir (1920) von Jewgenij Samjatin oder dem großen Ukrainekrieg-Roman Die weiße Garde von Michail Bulgakow. Das Auge des Lesers verliert sich andauernd in Labyrinthen der Urbanität, in denen satanische Kräfte wüten. Und was satanische Kräfte anbelangt, darf das letzte Werk Bulgakows, der Roman Der Meister und Margarita, nicht unerwähnt bleiben. Denn vieles, was für die russische Literatur so typisch ist, zeigt sich hier in aller Offenheit: die burleske Anlage, die fantastische Kollage, die klangliche und rhythmische Plastizität, die sprachliche Extravaganz und die Konfrontation zwischen Paradies und Inferno.
Doch in diesem Opus magnum ist die Konfrontation zu einem Dialog geworden, zur Frage, ob das Licht ohne Dunkel überhaupt existieren kann, jedenfalls aus der irdischen Perspektive betrachtet. Moskau erweist sich als Spiegelung Jerusalems, die Passion Christi als das Seelendrama eines jeden denkenden Menschen. Puschkin, Lermontow, Gogol, Dostojewski grüßen praktisch aus jedem Absatz, werden zur lebenden Tradition.
Und das ist wichtig hervorzuheben: Eben weil die russische Literatur so jung ist, existieren ihre großen Gestalten niemals allein zwischen Buchdeckeln. Vielmehr sind sie Teil des allgemeinen menschlichen Lebens, haben Fleisch und Blut, sind realer als real. Noch heute wird in St. Petersburg das Haus gezeigt, in dem die Pique Dame gewohnt hat.
Noch heute werden Moskauer Touristen am Patriarchenteich durch die Orte geführt, wo Iwan Besdomny dem Leibhaftigen begegnet ist. Und der Dichter Wladislaw Chodassewitsch ehrt den Puschkin-Freund Peter Wjasemski als den glücklichsten russischen Poeten. Warum? Weil Puschkin ihn in seinem Eugen Onegin neben Tatjana sitzen läßt – dem reinsten Archetyp der russischen Seele!
Erst mit dem Eindringen der vom Westen übernommenen Marktausrichtung der Literatur löst sich dieser gute alte Brauch, mit den Protagonisten der Klassiker zusammenzuleben, nach und nach in Luft auf. Doch die Hoffnung bleibt, daß sie fortbestehen und alle Krisen und Kriege überdauern.