Denn: Wir lesen, loben und kritisieren, wie es uns beliebt. Aus unserer Feder gibt es weder Gefälligkeitsrezensionen noch andererseits Wutschnauben gegen einen mutmaßlichen Gegner. Liegt einer aus unserem Milieu daneben: Er wird die Kritik sicher sportlich nehmen. Wenn ein Linker ein kluges Buch schreibt – her damit! Unser Tip an unsere Leser wäre: “Lest es!”
Abteilungsleiter Hoffmann hat für die taz herausgefunden:
In neurechter Literaturpolitik wird gekämpft und gekuschelt. Diese paradoxe Doppelstrategie muss als solche erkannt und ernst genommen werden, da sie metapolitischen Erfolg verspricht. Deshalb ist es fahrlässig, wenn der FAZ-Redakteur Patrick Bahners 2021 auf Twitter eine Rezension von Ellen Kositza lobend erwähnt und verlinkt, als sei die Sezession eine gewöhnliche literaturkritische Institution.
Gut. Dann eben eine ungewöhnliche literaturkritische Institution. In unserer neuen Ausgabe, der Sezession 121, versammelte ich als Redakteurin vierzehn Besprechungen aktueller Bücher. Einige davon möchte ich hervorheben.
Ich selbst habe Schizoid Man besprochen, das Buch eines wahrhaft erratischen Debütanten. (Hier ist die vollständige Besprechung.) Ein junger Mann auf der Suche nach nietzscheanischer Rechtwinkligkeit, mit zuviel Testosteron und zuwenig von der Tugend, die man antik als „Maß“ beschrieb und heute besser als „Disziplin“ faßt. Nimm Houellebecq-Vibes, eine Prise Christian Kracht und die ziellose Dynamik eines John Hoewer (Europa Power Brutal), mische es gut durch und laß es als Roman des Jahres 2024 von der Leine. Nichts für Zartbesaitete.
Martin Lichtmesz hat eine wirklich illustre Besprechung des Buches Undemokratische Emotionen der jüdischen Soziologin Eva Illouz eingereicht. Darf ich aus dem Nähkästchen plaudern und erzählen, daß es RICHTIG schwierig ist, Lichtmesz zum Verfassen einer Rezension zu bewegen? Was mein Lieblingsmetier ist (Bücher lesen und beurteilen), quält ihn fast, und er benötigt habituell einen langen Anlauf. Dann aber…
Ich (die ich Illouz seit langem lese und schätze) wußte – das ist ein Buch für ihn! Er hat nun eine wirklich leidenschaftliche Rezension eingereicht, die sehr genau beleuchtet, wo Illouz‘ (und übrigens auch Netanjahus) blinde Flecken sind. Er lobt die aufschlußreichen Interviews, die Illouz mit Israelis unterschiedlicher politischer Färbung führte.
Es ergibt sich ein recht überzeugendes und abschreckendes Bild einer im permanenten Kampfmodus lebenden Gesellschaft, insbesondere, was das an Paranoia grenzende Sicherheitsbedürfnis angeht, das es dem Staat ermöglicht, nicht nur den seit Jahrhunderten schikanierten Feind, sondern auch die eigenen Bürger zu kontrollieren.
Haarsträubend kontrafaktisch sei ihre Darstellung der „Freunde“ Netanjahus wie etwa Trump und Orbán, die sie allen Ernstes als „antisemitisch“ bezeichne!
Weiter: Benedikt Kaiser nimmt Philip Manows Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Feinde unter die Lupe.
Philip Manow ist anders. Der Politikwissenschaftler, der an der Universität Siegen lehrt, weicht deutlich vom Mainstream seines Faches ab. Das heißt nicht, daß er prinzipiell weiter „rechts“ stünde als die linksliberale universitäre Mehrheit. Das heißt aber schon, daß er Fragen beantwortet, die seine Kollegen nicht mal stellen.
Äußerst verdienstvoll, resümiert Kaiser.
Caroline Sommerfeld hingegen rühmt eine Nischenpublikation. Thorsten Schulte und Michael Hesemann haben gemeinsam ein Buch mit einem etwas alarmistischen Titel verfaßt: Die große Täuschung. John F. Kennedys Warnung und die Bedrohung unserer Freiheit.
Wir kennen Caroline Sommerfeld als eine Autorin, die sich auch den sinistresten Winkelzügen auf die Fersen heftet. Für sie war diese Publikation ein Augenöffner, und sie lobt die unorthodoxe Zusammenarbeit der beiden Autoren. Co-Autor Schulte ist nicht einverstanden mit Hesemanns proisraelischem Engagement und vice versa. Dennoch sei daraus ein erhellendes Werk entstanden, lobt Sommerfeld.
Und noch einmal Sommerfeld. Sie rät zur Lektüre von Rose Hu: Mit Christus im chinesischen Straflager. Rose Hu hatte 26 Jahre in verschiedenen chinesischen Straflagern verbracht – um des Glaubens willen. Stimmen solcher Opfer sind weitgehend unerhört.
Erik Lehnert befaßt sich mit dem Buch der jungen, widerspenstigen Juristin Frauke Rostalski über Die vulnerable Gesellschaft. Er findet sehr gute Ansätze – „Verletzlichkeit“ ist heute ein Mittel im Kampf um Macht und Deutungshoheit. Lehnert hält das Buch für gediegen, allerdings sei Rostalski noch zu sehr in der Habermasschen Diskurstheorie verstrickt.
Felix Dirsch empfiehlt mit Abstrichen einen echten Wälzer (knapp 1000 Seiten) aus dem Verlag Matthes & Seitz: Otto Kallscheuers Papst und Zeit. Heilgeschichte und Weltpolitik. Kallscheuer sei ein echter, funkelnder Grenzgänger, so progressiv einerseits wie konservativ andererseits. Wieviel Welt ist heute in der Kirche? Und umgekehrt? Auf jeden Fall setzt Kallscheuer Maßstäbe, meint Dirsch.
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Lesen Sie alle diese und viele weitere Rezensionen in der aktuellen Sezession.
Adler und Drache
Zur "angeteasten" Literatur mag ich nichts sagen, ich werde nichts davon lesen - ich kann es nicht mehr, obwohl ich bis Ende 30/Anfang 40 eine Leseratte war. Das hat sich fast schlagartig geändert, es geht nicht mehr. Ganz egal, um welches Buch es sich dabei handelt, ich schaffe es nicht mehr, dranzubleiben. (1000 Seiten - um Himmels Willen!) Ich hab es mit allem möglichen ausprobiert. Als hätte ich ein Talent verloren - oder den Glauben an die Literatur. Kohelet 12,12!
Schön und interessant finde ich das Titelbild der neuen Sezession. Die alte Schrifttype, und wie sich die Sättigung zum Seitenende hin auflöst, gerade bei dem wichtigen Satz ... Vielsagend!