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Guten Morgen!
Die erste gute Nachricht ist, daß mein Besuch in diesem Jahr nicht von einem solchen Aufruhr begleitet wurde wie der im letzten Jahr: Dieses Jahr haben wir – zumindest ich – keine Protestnote aus Bukarest erhalten; statt dessen bekam ich eine Einladung zu einem Treffen mit dem Ministerpräsidenten, das gestern stattgefunden hat.
Als ich letztes Jahr die Gelegenheit hatte, den rumänischen Ministerpräsidenten zu treffen, sagte ich nach der Zusammenkunft, sie sei „der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“; am Ende des diesjährigen Treffens konnte ich sagen: „Wir machen Fortschritte.“
Wenn wir uns die Zahlen ansehen, stellen wir in den Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen unseren beiden Ländern neue Rekorde auf. Rumänien ist heute der drittwichtigste Wirtschaftspartner Ungarns. Wir haben mit dem Ministerpräsidenten auch über einen Hochgeschwindigkeitszug – eine Art TGV – gesprochen, der Budapest mit Bukarest verbinden soll, sowie über den Beitritt Rumäniens zum Schengenraum. Ich habe versprochen, dieses Thema auf die Tagesordnung der Oktobersitzung und, wenn nötig, der Dezembersitzung des Rats für Justiz und Inneres der EU zu setzen und nach Möglichkeit voranzubringen.
Aus Bukarest haben wir keine Protestnote erhalten – aber damit wir uns nicht langweilen, haben wir eine aus Brüssel erhalten: Man hat die ungarischen Friedensbemühungen verurteilt. Ich habe – erfolglos – versucht, zu erklären, daß es so etwas wie eine christliche Pflicht gibt. Das heißt, wenn man etwas Schlechtes in der Welt sieht – vor allem: etwas sehr Schlechtes – und eine Möglichkeit erhält, es richtigzustellen, dann ist es eine christliche Pflicht, ohne unnötiges Nachdenken oder Zaudern zu handeln.
Bei der ungarischen Friedensmission geht es um diese Pflicht. Ich möchte uns alle daran erinnern, daß die EU einen Gründungsvertrag hat, in dem es heißt, das Ziel der Union sei der Frieden. Brüssel ist auch empört darüber, daß wir das, was dort getrieben wird, als eine Pro-Krieg-Politik bezeichnen. Man läßt uns wissen, daß man den Krieg im Interesse des Friedens unterstütze. Mitteleuropäer wie uns erinnert das sofort an Wladimir Iljitsch Lenin, der lehrte, daß mit dem Aufkommen des Kommunismus der Staat absterben, aber dabei zunächt noch immer stärker werde.
Auch Brüssel schafft Frieden, indem es andauernd den Krieg unterstützt. So wie wir in unseren Universitätsvorlesungen über die Geschichte der Arbeiterbewegung Lenins These nicht verstanden, verstehe ich in den Sitzungen des Europäischen Rats die Brüsselaner nicht. Vielleicht hatte Orwell doch recht, als er schrieb, daß auf „Neusprech“ Frieden Krieg und Krieg Frieden bedeute.
Trotz aller Kritik sollten wir uns daran erinnern, daß seit Beginn unserer Friedensmission die Kriegsminister der USA und Rußlands miteinander gesprochen haben, die Außenminister der Schweiz und Rußlands Gespräche geführt haben, Präsident Selenskyj endlich mit Präsident Trump telefoniert und der ukrainische Außenminister Peking besucht hat. Es hat also zu gären begonnen, und wir bewegen uns langsam, aber sicher von einer europäischen Pro-Krieg-Politik hin zu einer Pro-Frieden-Politik.
Das ist unvermeidlich, denn die Zeit steht auf der Seite der Friedenspolitik. Den Ukrainern ist die Wirklichkeit allmählich klargeworden, und nun liegt es an den Europäern, zur Vernunft zu kommen, bevor es zu spät ist: Trump ante portas. Wenn Europa nicht bis dahin zu einer Friedenspolitik übergegangen ist, dann wird es das nach Trumps Sieg tun und außerdem voller Scham seine Niederlage eingestehen sowie die alleinige Verantwortung für seine Politik übernehmen müssen.
Aber, meine Damen und Herren, das Thema des heutigen Vortrags ist nicht der Frieden. Bitte betrachten Sie das, was ich bis jetzt gesagt habe, als Abschweifung. Tatsächlich gibt es für jene, die über die Zukunft der Welt und der Ungarn darin nachdenken, heute drei große Themen.
Das erste ist der Krieg – oder, genauer gesagt: ein unerwarteter Nebeneffekt des Kriegs. Das ist die Tatsache, daß der Krieg die Wirklichkeit enthüllt, in der wir leben. Diese Wirklichkeit war zuvor nicht sichtbar und konnte nicht beschrieben werden, aber sie ist durch das gleißende Licht der in diesem Krieg abgefeuerten Raketen erhellt worden.
Die zweite große Frage ist, was nach dem Krieg geschehen wird. Wird eine neue Welt entstehen, oder wird die alte fortbestehen?
Und wenn eine neue Welt kommt – das ist unser drittes großes Thema –, wie soll Ungarn sich auf diese neue Welt vorbereiten? Fakt ist, daß ich über alle drei sprechen muß, und ich muß hier über sie sprechen – zum einen, weil dies die großen Themen sind, die am besten im Rahmen einer „freien Universität“ wie dieser diskutiert werden. Zum anderen brauchen wir einen panungarischen Ansatz, da eine Beschäftigung mit diesen Themen aus der Sicht eines „Kleinungarn“ allein zu beschränkt wäre; daher ist es gerechtfertigt, vor Ungarn außerhalb unserer Grenzen über sie zu sprechen.
Dies sind große Themen mit vielfältigen Verflechtungen, und natürlich kann ich auch von diesem geschätzten Publikum nicht erwarten, alle wichtigen Grundinformationen zu kennen, also werde ich von Zeit zu Zeit abschweifen müssen.
Das ist eine schwierige Aufgabe: Wir haben drei Themen, einen Vormittag und einen unerbittlichen Moderator. Ich habe die folgende Herangehensweise gewählt: ausführlich über die reale Lage der Macht in Europa zu sprechen, wie sie der Krieg offenbart hat, dann einige Einblicke in die neue Welt zu geben, die im Entstehen ist, und schließlich auf die diesbezüglichen ungarischen Pläne zu sprechen zu kommen – eher in Form einer Auflistung, ohne Erläuterung oder Argumentation. Diese Methode hat den Vorteil, daß sie auch gleich die Thematik für die Veranstaltung im nächsten Jahr vorgibt.
Das Unterfangen ist ambitioniert, ja sogar heldenhaft: Wir müssen uns fragen, ob wir es überhaupt schaffen können oder ob es nicht über unsere Möglichkeiten hinausgeht. Ich halte es für ein realistisches Vorhaben, denn im Laufe des letzten Jahrs – oder der vergangenen zwei oder drei Jahre – sind in Ungarn und im Ausland einige hervorragende Studien und Bücher veröffentlicht worden, die im letzteren Fall von Übersetzern auch der ungarischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.
Auf der anderen Seite müssen wir uns in aller Bescheidenheit daran erinnern, daß wir die dienstälteste Regierung in Europa haben. Ich selbst bin der dienstälteste europäische Regierungschef – und ich darf dezent darauf hinweisen, daß ich auch derjenige Regierungschef bin, der die längste Zeit in der Opposition verbracht hat. Ich habe also alles, worüber ich jetzt sprechen werde, selbst gesehen. Ich spreche über Dinge, die ich erlebt habe und noch immer erlebe. Ob ich sie verstanden habe, ist eine andere Frage; das werden wir am Ende dieses Vortrags herausfinden.
Kommen wir zur Realität, die der Krieg offenbart hat. Liebe Freunde, der Krieg ist unsere rote Pille. Denken Sie an die Matrix-Filme. Der Held steht vor der Entscheidung. Er hat zwei Pillen zur Auswahl: Wenn er die blaue Pille schluckt, kann er in der Welt der oberflächlichen Erscheinungen bleiben; wenn er die rote Pille schluckt, kann er in die Realität schauen und in sie eintauchen.
Der Krieg ist unsere rote Pille: Er ist, was uns gegeben wurde, er ist, was wir schlucken müssen. Und jetzt, mit neuen Erfahrungen gerüstet, müssen wir über die Realität sprechen. Es ist ein Klischee, daß Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Wichtig ist, hinzuzufügen, daß Krieg die Fortsetzung der Politik aus einer anderen Perspektive ist. Der Krieg in seiner Unerbittlichkeit verschafft uns also einen neuen Blickwinkel, einen hohen Aussichtspunkt. Und von dort aus ermöglicht er uns eine völlig andere – zuvor unbekannte – Sicht. Wir finden uns in einer neuen Umgebung und in einem neuen, verfeinerten Kräftefeld wieder.
In dieser reinen Realität verlieren die Ideologien ihre Macht, statistische Taschenspielertricks verlieren ihre Macht, die Verzerrungen der Medien und taktischen Verstellungen der Politiker verlieren ihre Macht. Weit verbreitete Wahnvorstellungen – oder gar Verschwörungstheorien – verlieren ihre Bedeutung. Was bleibt, ist die nackte, brutale Realität. Es ist schade, daß unser Freund Gyula Tellér nicht mehr bei uns ist, denn jetzt könnten wir einige überraschende Dinge von ihm hören. Da er aber nicht mehr unter uns weilt, müssen Sie sich mit mir begnügen.
Aber ich denke, es wird nicht zu wenige Schocks geben. Der Klarheit halber habe ich alles, was wir seit unserem Schlucken der roten Pille – seit dem Ausbruch des Kriegs im Februar 2022 – gesehen haben, in Stichpunkten zusammengefaßt.
Erstens: In diesem Krieg hat es brutale Verluste gegeben, die in die Hunderttausende gehen – auf beiden Seiten. Ich habe die Verantwortlichen beider Seiten unlängst getroffen und kann mit Sicherheit sagen, daß sie sich nicht einigen wollen. Woran liegt das?
Es gibt zwei Gründe. Der erste ist, daß jede Seite glaubt, gewinnen zu können, und bis zum Sieg kämpfen will. Der zweite ist, daß beide von ihrer jeweils eigenen tatsächlichen oder vermeintlichen Wahrheit getrieben werden. Die Ukrainer glauben, dies sei eine russische Invasion, eine Verletzung des Völkerrechts und der territorialen Souveränität, und daß sie tatsächlich einen Selbstverteidigungskrieg um ihre Unabhängigkeit führen. Die Russen glauben, daß es in der Ukraine ernst zu nehmende militärische Projekte der NATO gegeben habe, daß der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft versprochen worden sei, und sie wollen keine NATO-Truppen oder ‑Waffen an der russisch-ukrainischen Grenze sehen. Deshalb sagen sie, daß Rußland das Recht auf Selbstverteidigung habe und dieser Krieg in Wirklichkeit provoziert worden sei.
Jeder hat also eine Art von Wahrheit, vermeintlich oder tatsächlich, und wird nicht aufhören, Krieg zu führen. Dies ist ein Weg, der geradewegs in die Eskalation führt; wenn es von diesen beiden Parteien abhängt, wird es keinen Frieden geben. Der Frieden kann nur von außen gebracht werden.
Zweitens: In den letzten Jahren hatten wir uns daran gewöhnt, daß die Vereinigten Staaten China zu ihrem primären Herausforderer oder Gegner erklärten, doch nun sehen wir, daß sie einen Stellvertreterkrieg gegen Rußland führen. Und China wird unablässig beschuldigt, heimlich Rußland zu unterstützen. Wenn das so ist, dann müssen wir die Frage beantworten, warum es sinnvoll sein sollte, zwei so große Länder in einem feindlichen Lager zusammenzupferchen. Diese Frage ist bislang nicht sinnvoll beantwortet worden.
Drittens: Die Stärke und Widerstandskraft der Ukraine hat alle Erwartungen übertroffen. Immerhin haben seit 1991 elf Millionen Menschen das Land verlassen, es wurde von Oligarchen regiert, die Korruption stieg ins Unermeßliche, und der Staat hatte im Prinzip aufgehört, zu funktionieren. Und doch erleben wir jetzt einen beispiellos erfolgreichen Widerstand von ihm.
Trotz der genannten Bedingungen ist die Ukraine tatsächlich ein starkes Land. Die Frage ist, was der Quell dieser Stärke ist. Abgesehen von ihrer kriegerischen Vergangenheit und dem persönlichen Heldentum Einzelner ist hier etwas Wichtiges zu verstehen:
Die Ukraine hat ein höheres Ziel gefunden, sie hat einen neuen Daseinssinn entdeckt. Denn zuvor hatte die Ukraine sich als Pufferzone betrachtet. Eine Pufferzone zu sein, ist psychologisch lähmend: Darin liegt ein Gefühl der Hilflosigkeit, ein Gefühl, daß man sein Schicksal nicht selbst in der Hand habe. Das ist eine Folge einer solchen zweifach exponierten Position.
Nun aber gibt es die verheißungsvolle Aussicht darauf, zum Westen zu gehören. Die neue, selbstgestellte Aufgabe der Ukraine ist es, die östliche militärische Grenzregion des Westens zu sein. Die Bedeutung und Wichtigkeit ihrer Existenz hat sich in ihren eigenen Augen und den Augen der ganzen Welt gesteigert. Das hat sie in einen Zustand der Aktivität und des Handelns versetzt, den wir Nichtukrainer als aggressive Hartnäckigkeit auffassen – und es ist nicht zu leugnen, daß sie ziemlich aggressiv und hartnäckig ist. Tatsächlich handelt es sich dabei um das Verlangen der Ukrainer, daß ihr höherer Zweck international offiziell anerkannt werde. Das ist es, was ihnen die Stärke verleiht, die sie zu beispiellosem Widerstand befähigt.
Viertens: Rußland ist nicht das, was wir bisher darin gesehen haben, und Rußland ist nicht das, was man uns bisher darin sehen lassen wollte. Die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Lands ist hervorragend. Ich erinnere mich an Tagungen des Europäischen Rats – die Gipfeltreffen der Ministerpräsidenten –, auf denen die großen europäischen Staats- und Regierungschefs mit allerlei Gesten ziemlich anmaßend behaupteten, daß die Sanktionen gegen das Land und sein Ausschluß aus dem sogenannten SWIFT-System, dem internationalen Auslandszahlungsverkehrssystem, Rußland in die Knie zwingen würden. Sie würden die russische Wirtschaft in die Knie zwingen, und auf diesem Wege auch die russische politische Elite.
Wenn ich den Fortgang der Ereignisse beobachte, fühle ich mich an die Weisheit von Mike Tyson erinnert, der einmal sagte: „Jeder hat einen Plan, bis er einen Schlag in die Fresse bekommt.“ Denn die Realität ist, daß die Russen aus den Sanktionen gelernt haben, die nach der Invasion der Krim 2014 verhängt wurden – und sie haben daraus nicht nur Lehren gezogen, sondern diese auch in die Tat umgesetzt.
Sie haben die notwendigen IT- und Bankwesenverbesserungen vorgenommen. Das russische Finanzsystem ist also nicht kollabiert.
Sie haben die Fähigkeit entwickelt, sich anzupassen, und nach 2014 sind wir diesem Umstand zum Opfer gefallen, weil wir früher einen erheblichen Teil der ungarischen Lebensmittelerzeugnisse nach Rußland exportiert haben. Wegen der Sanktionen konnten wir das nicht mehr, die Russen haben ihre Landwirtschaft modernisiert, und heute reden wir über einen der größten Lebensmittelexportmärkte der Welt; dies ist ein Land, das einmal auf Importe angewiesen war.
Die Art und Weise, wie uns Rußland beschrieben wird – als starre, neostalinistische Autokratie –, ist also falsch. Tatsächlich sprechen wir von einem Land, das technische und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zeigt – und vielleicht auch gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit, aber das werden wir noch sehen.
Die fünfte wichtige neue Lektion aus der Realität: Die europäische Art, Politik zu machen, ist zusammengebrochen. Europa hat es aufgegeben, seine eigenen Interessen zu verteidigen: Alles, was Europa heute tut, ist, der außenpolitischen Linie der US-Demokraten bedingungslos zu folgen – selbst um den Preis seiner eigenen Selbstzerstörung.
Die Sanktionen, die wir verhängt haben, schaden grundsätzlichen europäischen Interessen: Sie treiben die Energiepreise in die Höhe und sorgen dafür, daß die europäische Wirtschaft nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Wir haben die Sprengung der „Nord-Stream“-Pipeline widerspruchslos hingenommen; Deutschland selbst hat einen Terrorakt gegen sein eigenes Staatseigentum – der offensichtlich unter amerikanischer Anleitung verübt wurde – widerspruchslos hingenommen, und wir sagen kein Wort dazu, wir ermitteln nicht, wir wollen es nicht aufklären, wir wollen es nicht in einem juristischen Zusammenhang thematisieren.
Genauso haben wir im Fall der Telefonüberwachung von Angela Merkel, die mit Unterstützung Dänemarks durchgeführt wurde, versäumt, das Richtige zu tun.
Dies ist also nichts anderes als ein Akt der Unterwerfung. Es gibt hier einen komplizierten Zusammenhang, aber ich werde versuchen, ihn in einer zwangsläufig vereinfachten, aber umfassenden Form darzustellen. Die europäische Politik ist seit Beginn des Russisch-Ukrainischen Kriegs auch deshalb zusammengebrochen, weil der Kern des europäischen Machtsystems die Achse Paris-Berlin war, die einmal unumgänglich war: Sie war der Dreh- und Angelpunkt.
Seit Ausbruch des Kriegs haben sich ein anderes Zentrum und eine andere Achse der Macht etabliert. Die Achse Berlin-Paris gibt es nicht mehr – und wenn doch, dann ist sie unbedeutend geworden und kann leicht umgangen werden. Das neue Machtzentrum und die neue Achse bestehen aus London, Warschau, Kiew, den baltischen Staaten und den Skandinaviern.
Wenn der deutsche Bundeskanzler zum Erstaunen der Ungarn verkündet, daß er nur Helme in den Krieg schickt, und er dann eine Woche später bekanntgibt, daß er tatsächlich Waffen schicken wird, dann glauben Sie nicht, daß der Mann den Verstand verloren habe. Wenn dann derselbe deutsche Bundeskanzler ankündigt, daß es zwar Sanktionen geben könne, diese sich aber nicht auf Energie erstrecken dürften, und dann zwei Wochen später selbst an der Spitze der Sanktionspolitik steht, dann glauben Sie nicht, daß der Mann den Verstand verloren habe.
Im Gegenteil, er ist sehr wohl bei klarem Verstand. Er weiß sehr wohl, daß die Amerikaner und die von diesen beeinflußten liberalen Meinungsformungsinstitutionen – Universitäten, Denkfabriken, Forschungsinstitute, Medien – die öffentliche Meinung nutzen, um deutsch-französische Politik zu bestrafen, die nicht im Einklang mit amerikanischen Interessen steht. Deshalb gibt es das Phänomen, von dem ich gerade gesprochen habe, und deshalb kommt es zu den eigenartigen Fehltritten des deutschen Kanzlers.
Das Machtzentrum in Europa zu verschieben und die deutsch-französische Achse zu umgehen, ist keine neue Idee, es wurde nur erst durch den Krieg ermöglicht. Die Idee gab es schon vorher, sie ist tatsächlich ein alter polnischer Plan, um das Problem zu lösen, daß Polen zwischen einem großen deutschen und einem großen russischen Staat eingezwängt war, indem man Polen zum wichtigsten amerikanischen Stützpunkt in Europa macht. Ich könnte es so beschreiben, daß sie die Amerikaner eingeladen haben, sich zwischen die Deutschen und die Russen zu setzen.
Fünf Prozent des polnischen Bruttoinlandsprodukts werden jetzt für Militärausgaben aufgewendet, und die polnische Armee ist die zweitgrößte in Europa nach der französischen – wir sprechen von Hunderttausenden Soldaten. Dies ist ein alter Plan, um Rußland zu schwächen und Deutschland zu überholen.
Auf den ersten Blick scheint das Überholen der Deutschen eine Schnapsidee zu sein. Aber wenn man sich die Dynamik der Entwicklung Deutschlands und Mitteleuropas, Polens, anschaut, scheint das gar nicht mehr so unmöglich zu sein – vor allem, wenn Deutschland in der Zwischenzeit seine eigene Industrie von Weltrang abbaut.
Diese Strategie hat Polen dazu veranlaßt, die Zusammenarbeit mit der Visegrád-Gruppe aufzugeben. Die Visegrád-Gruppe stand für etwas anderes: Sie bedeutet, daß wir anerkennen, daß es ein starkes Deutschland und ein starkes Rußland gibt, und daß wir – in Zusammenarbeit mit den mitteleuropäischen Staaten – eine dritte Größe zwischen den beiden schaffen. Die Polen haben sich daraus zurückgezogen und statt der Visegrád-Strategie, die deutsch-französische Achse zu akzeptieren, die alternative Strategie einer Beseitigung der deutsch-französischen Achse eingeschlagen.
Wenn wir gerade über unsere polnischen Brüder und Schwestern sprechen, lassen Sie uns sie hier nur am Rande erwähnen. Da sie uns jetzt kräftig in den Hintern getreten haben, können wir uns vielleicht erlauben, aufrichtig und brüderlich ein paar unbequeme Wahrheiten über sie zu sagen. Nun: Die Polen betreiben die scheinheiligste und heuchlerischste Politik in ganz Europa. Sie belehren uns über Moral, sie kritisieren uns für unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu Rußland, und gleichzeitig machen sie selbst munter Geschäfte mit den Russen, kaufen ihr Öl – wenn auch auf Umwegen – und betreiben damit die polnische Wirtschaft.
Die Franzosen sind noch besser: Erst letzten Monat haben sie uns bei den Gaseinkäufen aus Rußland überholt – aber wenigstens belehren sie uns nicht über Moral. Die Polen machen Geschäfte und belehren uns auch noch. Eine derart widerlich heuchlerische Politik habe ich in Europa in den letzten zehn Jahren nicht erlebt.
Das Ausmaß dieses Wandels – die Umgehung der deutsch-französischen Achse – können ältere Menschen dann wirklich begreifen, wenn sie vielleicht zwanzig Jahre zurückdenken, als die Amerikaner den Irak angriffen und die europäischen Länder dazu aufforderten, mitzumachen. Wir zum Beispiel sind als NATO-Mitglied mitgezogen. Der damalige deutsche Bundeskanzler Schröder und der damalige französische Staatspräsident Chirac traten zusammen mit dem russischen Präsidenten Putin auf einer gemeinsamen Pressekonferenz gegen den Irakkrieg auf. Damals gab es also noch eine eigenständige deutsch-französische Logik, wenn es um europäische Interessen ging.
Meine Damen und Herren, bei der Friedensmission geht es nicht nur darum, Frieden zu suchen, sondern auch darum, Europa zu drängen, endlich eine unabhängige Politik zu betreiben.
Rote Pille Nummer sechs: die spirituelle Einsamkeit des Westens. Bislang hat der Westen so gedacht und sich verhalten, als ob er sich selbst als Bezugspunkt, als eine Art Weltmaßstab ansähe. Er hat die Werte geliefert, die die Welt zu akzeptieren hatte – liberale Demokratie oder die „Energiewende“ zum Beispiel.
Aber der größte Teil der Welt hat das bemerkt, und in den letzten zwei Jahren hat es eine Wende um 180 Grad gegeben. Einmal mehr hat der Westen seine Erwartung verkündet, seine Anweisung, daß die Welt moralisch gegen Rußland und für den Westen Stellung beziehen solle. Statt dessen haben sich alle nach und nach auf die Seite Rußlands gestellt.
Daß China und Nordkorea das tun, ist vielleicht keine Überraschung. Daß der Iran es auch tut, ist – angesichts der Geschichte des Lands und seiner Beziehung zu Rußland – schon etwas überraschend. Aber die Tatsache, daß Indien, das von der westlichen Welt als bevölkerungsreichste Demokratie bezeichnet wird, ebenfalls auf der Seite der Russen steht, ist verblüffend. Daß die Türkei sich weigert, die moralisch begründeten Forderungen des Westens zu akzeptieren, selbst obwohl sie ein NATO-Mitglied ist, ist wirklich überraschend. Und die Tatsache, daß die muslimische Welt Rußland nicht als Feind, sondern als Partner sieht, kommt völlig unerwartet.
Siebtens: Der Krieg hat die Tatsache offenbart, daß das größte Problem, vor dem die Welt heute steht, die Schwäche und Zersetzung des Westens ist. Das ist natürlich nicht das, was die westlichen Medien sagen: Im Westen wird behauptet, die größte Gefahr und das größte Problem für die Welt seien Rußland und die Bedrohung, die es darstellt.
Das ist falsch! Rußland ist zu groß für seine Bevölkerung, und es wird hyperrational geführt – es ist in der Tat ein Land mit einer Führung. Es gibt nichts Mysteriöses an seinem Handeln: Sein Vorgehen folgt logisch aus seinen Interessen und ist daher verständlich und vorhersehbar.
Das Verhalten des Westens hingegen – wie aus dem, was ich bisher gesagt habe, erkennbar sein dürfte – ist nicht verständlich und nicht vorhersehbar. Der Westen wird nicht geführt, sein Verhalten ist nicht rational, und er kann nicht mit der Situation umgehen, die ich im vergangenen Jahr in meinem Vortrag hier beschrieben habe: die Tatsache, daß zwei Sonnen am Himmel erschienen sind. Dieser Aufstieg von China und Asien ist die Herausforderung an den Westen. Wir sollten in der Lage sein, damit umzugehen, aber das sind wir nicht.
Punkt acht: Daraus ergibt sich für uns die eigentliche Herausforderung, noch einmal zu versuchen, den Westen im Lichte des Kriegs zu verstehen. Denn wir Mitteleuropäer betrachten den Westen als irrational.
Aber, liebe Freunde, was ist, wenn er sich logisch verhält, wir aber seine Logik nicht verstehen? Wenn er in seinem Denken und Handeln logisch ist, dann müssen wir fragen, warum wir ihn nicht verstehen. Und wenn wir die Antwort auf diese Frage finden könnten, würden wir auch verstehen, warum Ungarn in geopolitischen und außenpolitischen Fragen regelmäßig mit den westlichen Ländern der Europäischen Union in Konflikt gerät.
Meine Antwort ist die folgende. Stellen wir uns vor, daß das Weltbild von uns Mitteleuropäern auf Nationalstaaten basiert. Der Westen hingegen denkt, daß es keine Nationalstaaten mehr gibt; für uns ist das unvorstellbar, aber er denkt trotzdem so. Das Koordinatensystem, innerhalb dessen wir Mitteleuropäer denken, ist also völlig irrelevant.
Unserer Vorstellung nach besteht die Welt aus Nationalstaaten, die ein innerstaatliches Gewaltmonopol ausüben und dadurch einen Zustand des allgemeinen Friedens schaffen. In seinen Beziehungen zu anderen Staaten ist der Nationalstaat souverän – mit anderen Worten: Er ist in der Lage, seine Außen- und Innenpolitik unabhängig zu bestimmen.
Unserer Vorstellung nach ist der Nationalstaat keine juristische Abstraktion, kein rechtliches Konstrukt: Der Nationalstaat ist in einer besonderen Kultur verwurzelt. Er hat einen gemeinsamen Wertekanon, er hat anthropologische und historische Tiefe. Und daraus ergeben sich von allen geteilte moralische Gebote, die auf einem allgemeinen Konsens beruhen.
Das ist es, was wir uns unter dem Nationalstaat vorstellen. Und darüber hinaus sehen wir ihn nicht als ein Phänomen, das sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat: Wir glauben, daß Nationalstaaten eine biblische Grundlage haben, weil sie zur Schöpfungsordnung gehören. Denn in der Heiligen Schrift lesen wir, daß am Ende der Zeit Gericht nicht nur über die Menschen, sondern auch über die Nationen gehalten wird. Folglich sind Nationen unserer Vorstellung nach keine provisorischen Gebilde.
Westler aber glauben ganz im Gegenteil, daß es keine Nationalstaaten mehr gibt. Sie leugnen daher die Existenz einer geteilten Kultur und einer darauf beruhenden gemeinsamen Moral. Sie haben keine gemeinsame Moral; wenn Sie die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele gesehen haben, dann haben Sie das gesehen. Deshalb denken sie auch anders über Migration. Für sie ist Migration keine Bedrohung oder ein Problem, sondern vielmehr eine Möglichkeit, der ethnischen Homogenität, die Grundlage einer Nation ist, zu entkommen. Das ist die Essenz des progressiven, liberalen, internationalistischen Raumbegriffs.
Deshalb ist ihnen die Absurdität nicht bewußt – oder sie sehen es nicht als absurd an –, daß wir im Westen Europas hunderttausende Menschen fremder Zivilisationen hereinlassen, während in der östlichen Hälfte Europas hunderttausende Christen einander umbringen. Aus unserer mitteleuropäischen Sicht ist das der Inbegriff von Absurdität. Dieser Gedanke kommt dem Westen nicht einmal.
(In Klammern merke ich an, daß die europäischen Staaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg insgesamt etwa 57 Millionen angestammte Europäer verloren haben. Hätten sie, ihre Kinder und Enkelkinder gelebt, hätte Europa heute keine demographischen Probleme.)
Die Europäische Union denkt nicht einfach nur so, wie ich es beschreibe, sondern sie erklärt sich auch so. Wenn man die EU-Dokumente sorgfältig liest, wird klar, daß das Ziel darin besteht, die Nation abzulösen. Es ist wahr, daß sie eine seltsame Art haben, dies zu schreiben und zu sagen, indem sie erklären, die Nationalstaaten müßten abgelöst werden, während eine kleine Spur von ihnen bleibt. Aber am Ende geht es darum, daß Macht und Souveränität von den Nationalstaaten auf Brüssel übertragen werden sollten.
Das ist die Logik hinter jeder größeren Maßnahme. Für sie ist die Nation eine geschichtliche oder Übergangsschöpfung, die im 18. und 19. Jahrhundert entstanden ist – und so, wie sie gekommen sei, könne sie auch wieder verschwinden. Für sie ist die westliche Hälfte Europas bereits postnational.
Das ist nicht nur eine politisch andere Situation, sondern ich will damit sagen, daß es sich um eine neue Art des Denkens handelt. Wenn man die Welt nicht mehr aus dem Blickwinkel der Nationalstaaten betrachtet, eröffnet sich eine völlig andere Realität. Darin liegt das Problem, der Grund dafür, daß die Länder der westlichen und der östlichen Hälfte Europas einander nicht verstehen, der Grund, weshalb wir nicht an einem Strang ziehen können.
Wenn wir all dies auf die Vereinigten Staaten übertragen, ist dies der eigentliche Kampf, der dort stattfindet. Was sollen die Vereinigten Staaten sein? Sollen sie wieder ein Nationalstaat werden, oder sollen sie ihren Marsch hin zum postnationalen Staat fortsetzen? Präsident Donald Trumps ausdrückliches Ziel ist es, das amerikanische Volk aus dem postnationalen liberalen Staat zurückzuholen, es zurückzuzerren, es zurückzuzwingen, es wieder zum Nationalstaat zu erheben.
Aus diesem Grund steht bei den US-Wahlen so viel auf dem Spiel. Deshalb erleben wir Dinge, die wir noch nie zuvor gesehen haben. Deshalb wollen sie Donald Trump daran hindern, bei den Wahlen anzutreten. Deshalb wollen sie ihn ins Gefängnis stecken. Deshalb wollen sie ihm sein Vermögen wegnehmen. Und wenn das nicht klappt, wollen sie ihn deshalb umbringen. Und seien Sie sich sicher, daß das, was geschehen ist, vielleicht nicht der letzte Anschlag in diesem Wahlkampf gewesen sein wird.
Nebenbei: Ich habe gestern mit dem Präsidenten gesprochen, und er hat mich gefragt, wie es mir gehe. Ich habe ihm gesagt, es gehe mir gut, weil ich hier in einem geographischen Gebiet namens Transsilvanien sei. Es ist nicht so einfach, das zu erklären, vor allem nicht auf Englisch und vor allem nicht Präsident Trump. Aber ich sagte, daß ich hier in Transsilvanien bei einer freien Universität sei, wo ich einen Vortrag über die Lage der Welt halten würde. Und er sagte, ich solle den Teilnehmern seine persönlichen, herzlichen Grüße ausrichten.
Wenn wir nun zu verstehen versuchen, wie dieses westliche Denken – das wir der Einfachheit halber als „postnationales“ Denken und Dasein bezeichnen sollten – entstanden ist, dann müssen wir auf die große Illusion der 1960er Jahre zurückblicken.
Die große Illusion der 1960er Jahre nahm zwei Formen an: Die erste war die sexuelle Revolution, und die zweite war die Studentenrevolte. Tatsächlich war sie ein Ausdruck des Glaubens, daß das Individuum freier und großartiger würde, wenn es von jeder Art von Kollektiv befreit wäre. Mehr als 60 Jahre später ist klar geworden, daß das Individuum im Gegenteil nur durch eine und in einer Gemeinschaft großartig werden kann, daß es allein niemals frei sein kann, sondern immer einsam und zum Verkümmern verurteilt ist.
Im Westen wurden die Bindungen nacheinander gelöst: die metaphysischen Bindungen, die Gott darstellt, die nationalen Bindungen, die das Heimatland darstellt, und die familiären Bindungen – die Auflösung der Familie. Ich beziehe mich wieder auf die Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris. Nun, da es ihnen gelungen ist, all das loszuwerden, in der Erwartung, daß das Individuum großartiger werde, stellen sie fest, daß sie ein Gefühl der Leere verspüren. Sie sind nicht großartig, sondern klein geworden. Denn im Westen streben sie nicht mehr nach großen Idealen oder großen, inspirierenden gemeinsamen Zielen.
Hier müssen wir über das Geheimnis der Großartigkeit sprechen. Was ist das Geheimnis der Großartigkeit? Das Geheimnis der Großartigkeit besteht darin, etwas Größerem als sich selbst dienen zu können. Dazu müssen Sie zunächst anerkennen, daß es in der Welt etwas oder einige Dinge gibt, die größer sind als Sie, und dann müssen Sie sich dem Dienst an diesen größeren Dingen hingeben.
Davon gibt es nicht viele. Man hat seinen Gott, sein Land und seine Familie. Aber wenn Sie das nicht tun, sondern sich auf Ihre eigene Größe konzentrieren, wenn Sie denken, daß Sie klüger, schöner, talentierter sind als die meisten Menschen, wenn Sie Ihre Energie darauf verwenden, all das anderen mitzuteilen, dann ist das, was Sie herausbekommen, nicht Großartigkeit, sondern Größenwahn. Und das ist der Grund, warum wir heute, wann immer wir mit Westeuropäern im Gespräch sind, in jeder Geste Größenwahn statt Großartigkeit spüren. Ich muß sagen, daß sich eine Situation entwickelt hat, die wir als Leere bezeichnen können, und das damit einhergehende Gefühl der Überflüssigkeit führt zu Aggressionen. So ist der neue Menschentypus des „aggressiven Zwergs“ entstanden.
Zusammenfassend möchte ich Ihnen sagen, daß wir nicht über Meinungsverschiedenheiten sprechen, wenn wir von Mitteleuropa und Westeuropa sprechen, sondern über zwei unterschiedliche Weltanschauungen, zwei Denkweisen, zwei Instinkte, und damit zwei unterschiedliche Argumente. Wir haben einen Nationalstaat, der uns zum strategischen Realismus zwingt. Die haben postnationalistische Träume, die nationaler Souveränität gegenüber gleichgültig sind, nationale Größe nicht anerkennen und keine gemeinsamen nationalen Ziele haben. Das ist die Realität, der wir uns stellen müssen.
Und schließlich, Punkt neun, ist das letzte Element der Realität, daß dieser postnationale Zustand, den wir im Westen sehen, eine ernste – und ich würde sagen: eine dramatische – politische Konsequenz hat, die die Demokratie erschüttert. Denn innerhalb der Gesellschaften gibt es einen wachsenden Widerstand gegen Migration, gegen Gender, gegen Krieg und gegen den Globalismus. Und daraus ergibt sich das politische Problem der Elite und des Volks – von Elitismus und Populismus.
Dies ist das bestimmende Phänomen der heutigen westlichen Politik. Wenn Sie die Texte lesen, brauchen Sie sie nicht zu verstehen, und sie ergeben sowieso nicht immer einen Sinn; aber wenn Sie die Wörter lesen, werden Sie die folgenden Ausdrücke am häufigsten finden. Sie zeigen an, daß die Eliten das Volk dafür verurteilen, daß es nach rechts driftet. Die Gefühle und Gedanken der Menschen werden als Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und Nationalismus abgestempelt.
In Reaktion darauf beschuldigen die Menschen die Eliten, sich nicht darum zu scheren, was ihnen wichtig ist, sondern in einer Art von gestörtem Globalismus zu versinken. Folglich können sich die Eliten und das Volk nicht auf eine Zusammenarbeit einigen. Ich könnte viele Länder nennen. Aber wenn sich das Volk und die Eliten nicht auf eine Zusammenarbeit einigen können, wie soll das dann eine repräsentative Demokratie ergeben? Denn wir haben eine Elite, die das Volk nicht vertreten will und stolz darauf ist, es nicht vertreten zu wollen, und wir haben das Volk, das nicht vertreten wird.
Tatsächlich sehen wir uns in der westlichen Welt konfrontiert mit einer Situation, in der die Menschen mit Hochschulabschluß nicht mehr weniger als zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, sondern 30 bis 40 Prozent. Und aufgrund ihrer Ansichten respektieren diese Menschen diejenigen nicht, die weniger gebildet sind – die normal berufstätige Menschen sind, Menschen, die von ihrer Hände Arbeit leben.
Für die Eliten sind nur die Werte der Akademiker akzeptabel, nur sie sind legitim. Aus diesem Blickwinkel sind die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament zu verstehen. Die Europäische Volkspartei sammelte die Stimmen der „Plebejer“ auf der Rechten, die Veränderungen wollten, ging mit diesen Stimmen dann zu den Linken und wurde sich mit den linken Eliten, die ein Interesse an der Erhaltung des Status quo haben, handelseinig.
Das hat Folgen für die Europäische Union. Die Folge ist, daß Brüssel von einer liberalen Oligarchie besetzt bleibt. Diese Oligarchie hat die EU in ihrem Griff. Diese linksliberale Elite organisiert in Wahrheit eine transatlantische Elite: nicht europäisch, sondern global, nicht nationalstaatlich, sondern föderal, und nicht demokratisch, sondern oligarchisch.
Das hat auch Folgen für uns, denn in Brüssel gelten wieder die „drei Gs“: „gebannt, gestattet und gefördert“. Wir gehören zur Kategorie „gebannt“. Die Patrioten für Europa haben deshalb keinerlei Posten bekommen. Wir leben in der Welt der gestatteten politischen Gemeinschaft. Unterdessen gehören unsere einheimischen Gegner – vor allem die Neulinge in der Europäischen Volkspartei – zur Kategorie „stark gefördert“.
Und vielleicht gibt es noch einen letzten, zehnten Punkt. Dieser betrifft die westlichen Werte und wie sie – die das Wesen der sogenannten Soft power ausmachten – zum Bumerang geworden sind. Es hat sich herausgestellt, daß diese westlichen Werte, die man für universell hielt, in immer mehr Ländern der Welt demonstrativ als unannehmbar abgelehnt werden.
Es hat sich herausgestellt, daß die Moderne, die moderne Entwicklung, nicht westlich oder zumindest nicht ausschließlich westlich ist – denn China ist modern, Indien wird zunehmend modern, und auch die Araber und Türken modernisieren sich. Und sie werden keineswegs auf Grundlage westlicher Werte modern. In der Zwischenzeit ist die westliche Soft power durch die russische Soft power ersetzt worden, denn der Schlüssel zur Verbreitung westlicher Werte ist jetzt LGBTQ. Jeder, der dies nicht akzeptiert, gehört nach Ansicht der westlichen Welt in die Kategorie „rückständig“.
Ich weiß nicht, ob Sie es verfolgt haben, aber ich halte es für bemerkenswert, daß in den letzten sechs Monaten Länder wie die Ukraine, Taiwan und Japan Pro-LGBTQ-Gesetze erlassen haben. Aber die Welt ist damit nicht einverstanden. Folglich ist die stärkste taktische Waffe Putins heute der westliche LGBTQ-Zwang und der Widerstand, die Opposition dagegen. Das ist zu Rußlands stärkster internationaler Anziehungskraft geworden; so hat sich das, was einmal westliche Soft power war, nun in russische Soft power verwandelt – wie ein Bumerang.
Alles in allem, meine Damen und Herren, kann ich sagen, daß der Krieg uns geholfen hat, die wahren Machtverhältnisse in der Welt zu verstehen. Er ist ein Zeichen dafür, daß sich der Westen auf seiner Mission selbst ins Knie geschossen hat, und daß er deshalb die Veränderungen, die die Welt umgestalten, beschleunigt.
Mein erster Vortrag ist zu Ende.
Umlautkombinat
Ich bin Aussenstehender, aber registriere durchaus die Kritik an Orban's innenpolitischem Verhalten. Beim Lesen dieses Vortrags wie auch vorheriger Einlassungen geht es mir aber wie immer: Es ist ein Genuss schon allein dem realpolitischen Grundton zu folgen, die seine ueber sein Land hinausgehenden Betrachtungen praegen. Das ist keine Frage seiner inhaltlichen Praeferenzen, es geht mir bei Friedman (der Autor von 'Flashpoints' ist gemeint) z.B. auch so, der politisch gesehen ein Gegner ist.
Das raeumt immer all den negativen kognitiven Ballast weg, der in Form von Ideologie und Irrationalitaet bei Auseinandersetzungen z.B. hier im Land unvermeidbar ist und jeglichen inhaltlichen und realen Fortschritt schon im Ansatz aggressiv zu ersticken versucht. Was natuerlich, aber eben schwer bekaempfbar, auch "nur" ein Werkzeug realer Interessendurchsetzung ist.
Und im Fall Orban ist seine Art Darlegung verbunden mit immerhin einem aktiven Politiker, dessen auch ins Philosophische gehenden Locken immer verantwortlich rueckgebunden werden, ganz seltene Persoenlichkeit. Wenn er sich in der Beurteilung irrt, zahlen er und sein Land real. Freue mich auf den zweiten Teil, den ich damit hier einmal abwarte.