Meiner Meinung nach entsteht eine neue Welt. Man kann uns nicht vorwerfen, unter beschränkter Vorstellungskraft oder intellektueller Trägheit zu leiden, aber selbst wir – und ich persönlich, wenn ich in den letzten Jahren hier sprach – haben das Ausmaß des Wandels, der sich vollzieht und den wir miterleben, unterschätzt.
Wir befinden uns zweifelsohne in einem Wandel. Ein Wandel steht bevor, wie es ihn seit 500 Jahren nicht gegeben hat. Das ist uns nicht aufgefallen, weil es in den letzten 150 Jahren große Veränderungen in uns und um uns herum gegeben hat, aber bei diesen Veränderungen hat die dominierende Weltmacht immer im Westen gelegen. Und wir gehen davon aus, daß die Veränderungen, die wir jetzt erleben, wahrscheinlich dieser westlichen Logik folgen werden.
Dies ist aber im Gegenteil eine neue Situation. In der Vergangenheit war der Wandel westlich: Die Habsburger stiegen auf und fielen wieder, Spanien war im Aufwind und wurde zum Zentrum der Macht, es fiel und die Engländer stiegen auf, der Erste Weltkrieg erledigte die Monarchien, die Briten wurden als Herren der Welt von den Amerikanern abgelöst, dann wurde der russisch-amerikanische Kalte Krieg von den Amerikanern gewonnen. Aber all diese Entwicklungen blieben innerhalb unserer westlichen Logik.
Das ist jetzt nicht mehr der Fall, und damit müssen wir uns auseinandersetzen; denn die westliche Welt wird diesmal nicht von innen herausgefordert, und das hat die Logik des Wandels unterbrochen. Wovon ich spreche, und womit wir es zu tun haben, ist eigentlich ein globaler Systemwechsel. Und das ist ein Vorgang, der von Asien ausgeht.
Um es kurz und einfach auszudrücken: Für die nächsten Jahrzehnte – oder vielleicht Jahrhunderte, denn das vorherige Weltsystem hatte 500 Jahre lang Bestand – wird das beherrschende Zentrum der Welt in Asien liegen: China, Indien, Pakistan, Indonesien, ich könnte noch viele nennen.
Sie haben bereits ihre Institutionen, ihre Plattformen geschaffen, es gibt diese BRICS-Vereinigung, in der sie bereits präsent sind. Und es gibt die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, in der diese Länder die neue Weltwirtschaft aufbauen. Ich denke, daß dies ein unvermeidlicher Vorgang ist, denn Asien hat den demographischen Vorteil, es hat in immer mehr Bereichen den technologischen Vorteil, es hat den Kapitalvorteil, und ist dabei, ein militärisches Gleichgewicht mit dem Westen herzustellen.
Asien wird das meiste Geld haben – oder hat es vielleicht schon –, die größten Finanzfonds, die größten Unternehmen der Welt, die besten Universitäten, die besten Forschungsinstitute und die größten Börsen. Es wird die fortschrittlichste Weltraumforschung und die fortschrittlichste medizinische Wissenschaft haben – oder hat sie schon.
Wir im Westen – und auch die Russen – sind brav in dieses neue Gebilde, das sich gerade ausformt, hineingetippelt. Die Frage ist, ob sich dieser Vorgang umkehren läßt oder nicht – und falls nicht, wann er unumkehrbar geworden ist. Ich denke, das geschah 2001, als wir im Westen beschlossen, China zum Beitritt zur Welthandelsorganisation – besser bekannt als WTO – einzuladen. Seither ist dieser Vorgang nahezu unaufhaltsam und unumkehrbar.
Präsident Trump arbeitet daran, die amerikanische Antwort auf diese Situation zu finden. In der Tat ist Donald Trumps Bemühen wahrscheinlich die letzte Chance für die USA, ihre Weltherrschaft zu bewahren. Man könnte sagen, daß vier Jahre nicht genügen, aber wenn Sie sich ansehen, wen er als Vizepräsidenten ausgewählt hat, einen jungen und sehr starken Mann, dann wird, wenn Donald Trump jetzt gewinnt, in vier Jahren sein Vizepräsident kandidieren.
Er kann zwei Amtszeiten lang regieren, also kommen wir insgesamt auf zwölf Jahre. Und in zwölf Jahren läßt sich eine nationale Strategie implementieren. Ich bin davon überzeugt, daß viele Menschen denken, die Amerikaner werden, wenn Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt, ihre Weltherrschaft bewahren wollen, indem sie ihre Position in der Welt beibehalten.
Ich glaube, daß das falsch ist. Natürlich gibt niemand von sich aus seine Position auf, aber das wird nicht das wichtigste Ziel sein. Im Gegenteil, die Priorität wird darauf liegen, Nordamerika wieder aufzubauen und zu stärken. Damit sind nicht nur die USA gemeint, sondern auch Kanada und Mexiko, denn sie bilden zusammen einen Wirtschaftsraum.
Und Amerikas Platz in der Welt wird weniger wichtig sein. Sie müssen ernst nehmen, was der Präsident sagt: „America first, alles hier, alles wird nach Hause kommen!“ Deshalb wird die Fähigkeit ausgebaut, von überall her Kapital zu beschaffen. Als Folge dessen leiden wir bereits jetzt: Die großen europäischen Unternehmen investieren nicht in Europa, sondern in Amerika, weil die Fähigkeit, Kapital anzuziehen, am Horizont aufscheint. Sie werden den Preis für alles aus uns herauspressen.
Ich weiß nicht, ob Sie gelesen haben, was der Präsident gesagt hat: Zum Beispiel seien die USA keine Versicherungsgesellschaft, und wenn Taiwan Sicherheit wolle, solle es zahlen. Sie werden uns Europäer, die NATO und China den Preis der Sicherheit zahlen lassen; sie werden auch durch Verhandlungen ihre Handelsbilanz ins Gleichgewicht mit der von China bringen und sie zugunsten der USA verändern. Sie werden eine massive Entwicklung der US-Infrastruktur, der militärischen Forschung und der Innovation anstoßen. Sie werden eine Energie- und Rohstoffautarkie erreichen – oder haben sie vielleicht schon erreicht.
Und schließlich werden sie sich ideologisch verbessern und den Demokratieexport aufgeben. „America first.“ Der Export von Demokratie ist am Ende. Das ist die Essenz des Experiments, das Amerika als Reaktion auf die von mir beschriebene Situation durchführt.
Was ist die europäische Antwort auf den globalen Systemwechsel? Wir haben zwei Möglichkeiten. Die erste wollen wir „Freilichtmuseum“ nennen. Das ist das, was wir jetzt haben. Wir bewegen uns darauf zu. Das von den USA absorbierte Europa wird in einer unterentwickelten Rolle zurückbleiben. Es wird ein Kontinent sein, über den die Welt staunt, der aber in sich keine Entwicklungsdynamik mehr trägt.
Die zweite Option, die von Präsident Macron angekündigt wurde, ist die strategische Autonomie. Mit anderen Worten: Wir müssen in den Wettbewerb um den globalen Systemwechsel eintreten. Immerhin tun die USA das nach ihrer eigenen Logik auch. Und wir sprechen hier in der Tat von 400 Millionen Menschen.
Es ist möglich, die Fähigkeit Europas, Kapital anzuziehen, wiederherzustellen, und es ist möglich, Kapital aus Amerika zurückzuholen. Es ist möglich, große Infrastrukturentwicklungen zu unternehmen, vor allem in Mitteleuropa – etwa den TGV Budapest–Bukarest und den TGV Warschau–Budapest, um die zu nennen, an denen wir beteiligt sind.
Wir brauchen ein europäisches Militärbündnis mit einer starken europäischen Rüstungsindustrie, ‑forschung und ‑innovation. Wir brauchen europäische Energieautarkie, die ohne Kernenergie nicht möglich sein wird. Und nach dem Krieg brauchen wir eine neue Aussöhnung mit Rußland. Das bedeutet, daß die Europäische Union ihre Ambitionen als politisches Projekt aufgeben muß, daß sich die Union als wirtschaftliches Projekt stärken muß, und daß sich die Union als Verteidigungsprojekt aufbauen muß.
In beiden Fällen – ob Freilichtmuseum oder Beitritt zum Wettbewerb – müssen wir uns darauf einstellen, daß die Ukraine nicht Mitglied der NATO oder der Europäischen Union werden wird, weil wir Europäer dafür nicht genug Geld haben. Die Ukraine wird in die Position eines Pufferstaats zurückkehren. Wenn sie Glück hat, wird dies mit internationalen Sicherheitsgarantien verbunden sein, die in einem Abkommen zwischen den USA und Rußland festgeschrieben sein werden, an dem wir Europäer vielleicht teilnehmen können werden.
Das polnische Experiment wird scheitern, weil sie nicht die Mittel haben: Sie werden nach Mitteleuropa und in die Visegrád-Gruppe zurückkehren müssen. Warten wir also auf die Rückkehr der polnischen Brüder und Schwestern.
Der zweite Vortrag ist vorbei. Es bleibt nur noch einer.
Le Chasseur
"Was ist die europäische Antwort auf den globalen Systemwechsel? Wir haben zwei Möglichkeiten. Die erste wollen wir „Freilichtmuseum“ nennen."
Vielleicht wäre das nicht das schlechteste.