Schon das Buch in den Händen zu halten, ist ein Genuß. Es wurde 1980 (!) gedruckt, offenbar in zu großer Zahl und seither im Bestand gehalten. Man schlägt es auf und findet darin eine angebräunte Bestellkarte – damals schickte man noch Karten an die Verlage –, die im Vorsatzblatt einen Gilbfleck hinterlassen hat. Die Schrift ist angenehm in der Größe, der Zeilenabstand optimal, ein breiter Rand läßt Raum für Notizen, das Cover attraktiv und dezent … das Buch ist haptisch und optisch eine Freude: wo findet man so etwas heute noch?
Weiß brachte es deswegen aufs Tapet, weil es eine Art Menschenpark-Utopie beschreibt, denn Maurice Renards Roman spielt zwar im Jahre 1912, wurde aber zwei Jahre zuvor veröffentlicht und muß also als utopischer Roman oder Science Fiction gelten. Letzteres noch mehr als ersteres, denn was er entwirft, ist wahrhaft umstürzend.
Die Geschichte von den Sarvanten, eine Art irdischer und celestialer Zivilisation, die am Rande der Stratosphäre leben – 50 Kilometer über dem Erdboden –, die auf der „Luft“ schwimmen wie Enten auf dem Wasser oder auf ihr stehen wie Tiere auf der Flur, dem menschlichen Auge unsichtbar sind und die am Boden dieses Luftmeeres nun das Leben dort und die Menschen entdecken, Expeditionen und Raubzüge unternehmen, so wie wir heutzutage per U‑Boot den Meeresgrund erforschen und berauben, diese ihnen fremden Wesen – Mensch, Tier und Pflanze – dann einpferchen, untersuchen, mit Experimenten quälen und letztlich gar sezieren … die Geschichte ist so abenteuerlich wie visionär.
Renard bietet den Menschen einen Draufblick auf sich selbst, und zwar von unten her und diese Kapriole ist nur einer von zahlreichen verschlagenen literarischen und epistemologischen Tricks.
Tatsächlich hatte Sloterdijk in seiner typischen Umdrehung der Optik an einer Stelle davon gesprochen, daß Außerirdische – kämen sie zur Erde – die Menschen als eine Spezies verstehen müßten, die am Grunde eines Luftmeeres kriecht. Die Luft-Sphäre, unter deren Druck wir leben, weben und sind – das „Schweben“ drängt sich fast auf –, ist das Unbedachte, das still und meist unreflektiert Vorausgesetzte, weil Unsichtbare, und für uns das in-ihm-Seiende. Könnte man sie sichtbar machen, dann sähen wir Strömungen und Wellen und Wirbel und Löcher und Hügel.
Einer Weihe beim Flug zuzusehen, gibt uns eine Vorstellung des „Schwimmens“ in und auf der Luft, so wie die Forelle sich im Wasser der Stromschnellen bedient oder die Möwe auf dem Wasser schaukelt, so nutzt der Vogel das unsichtbare Element.
Renard ist trotz seiner visionären Begabung auch Sohn seiner Zeit und behandelt also Themen seiner Epoche, von denen einige philosophisch relevante erwähnt werden sollen – sie darzustellen fehlt hier der Platz und mir die Zeit.
Mit seiner komischen Figur Tiburce legte sich Renard ostentativ mit einem Granden der Kriminalliteratur an, mit Conan Doyle oder besser: mit Sherlock Holmes persönlich. Dieser Tirburce nennt sich selbst einen „Sherlockist oder Holmesianer“, beruft sich auf dessen klassische Vorlage, Voltaires „Zadig“ und versucht mit seiner „deduktiven Logik“, von der er gleich zu Beginn ganz im Stile seines Vorbildes eine Kostprobe gibt, den Fall zu lösen – ein Effekt, den auch Umberto Eco in seinem Bestseller Der Name der Rose nutzte.
Tatsächlich bedient er sich dabei eher der Abduktion, jener dritten Schlußart, die auf den amerikanischen Pragmatizisten Charles Sanders Peirce zurückgeht und die bis heute umstritten ist. Tiburces Vorführung wird zur kompletten Blamage, denn obwohl er messerscharf deduziert oder abduziert und obwohl er sich das Holmessche Mantra zu eigen gemacht hatte, möglichst etwas über Vieles zu wissen, schrammen alle seine Schlußfolgerungen an der Wahrheit vorbei.
Renard mischt sich hier in eine philosophische Debatte seiner Zeit ein und versucht, die Holmessche Methode zu ironisieren und das vollkommen zu recht und überzeugend, denn so, wie Tiburce am Ende blamiert dasteht, so hätte auch Sherlock Holmes dastehen können.
Allein: Holmes hatte den Vorteil, eine literarische Figur zu sein und verfügte damit über den Luxus, in Form seines Autors und Schöpfers nicht in die Realität hinein zu deduzieren oder abduzieren, sondern in die Phantasie oder das Vorabwissen seines Schöpfers, der alles rund machen kann – denn: beim Autor ist nichts unmöglich. Umberto Eco nannte das den „Fiktionenvertrag“.
Die Sarvanten überhaupt erst als Wesen zu entdecken und zu erkennen, darin erschöpft sich der erste Teil des Romans. Ein Zufall hilft, als dem Astronomen Le Tellier, der Hauptfigur, bei der Sternenbeobachtung für wenige Sekunden ein Stern abhanden kommt, die mangelnde „Vollzähligkeit der Sterne“ zu einer existentiellen Erschütterung führt.
Große kosmologische Fragen tun sich auf. Das bestätigt sich auch in der Himmelfahrt des Robert Collin, der sich selbst opfert – ebenfalls auf der Suche nach der schönen Dame –, der alles richtig deduziert, die Sarvanten als erster zu verstehen beginnt, sie sogar austricksen kann, um doch dem Irrtum zu erliegen und mit dem Leben zu bezahlen.
Immerhin gelingt es ihm, mit seinem toten Körper ein Tagebuch zurück auf die Erde zu schmuggeln und damit Le Tellier den Schlüssel in die Hand zu geben, das Rätsel zu lösen. Der Schlüssel aber mußte von innen kommen – das ist erkenntnistheoretisch relevant.
Er lebt ein paar Wochen dort oben im „Museum“, im „Menschenmuseum“ der Sarvanten, also im „Menschenpark“, im „Aquarium“, nein: im „Aerium“. Er ist auch der erste Mensch, der uns eine Beschreibung der Erde aus dem Orbit hinterlassen hat – ihm danken wir das eigentliche Ur-Selfie.
Renard mußte das Kunststück meistern, das Neue, das vollkommen Unbekannte und das Unsichtbare in Worte zu fassen, die seine Leser verstehen konnten – das ist eine Schwierigkeit aller Science Fiction – und also auf bekannte Begriffe, Bilder und Metaphern zurückgreifen, die sich gerade dadurch auszeichnen, daß sie den Gegenstand verfehlen müssen.
Er mußte sich mit seinem hypothetischen Experiment die Frage stellen, wie man mit herkömmlicher Logik und wissenschaftlichem Denken auf dem Stand der Zeit, Phänomene wahrnimmt und beschreibt, die dieser absolut nicht entsprechen. „Wissenschaft und Unwissenheit“ – solche Problemstellungen deuten darauf hin, daß der Autor wußte, mit welch heißer Materie er hier hantierte.
Das, was Sloterdijk unsere „Augen-Ontologie“ nannte, wird hier radikal in Frage gestellt, denn die Differenz zwischen Wahrnehmung – oder Nichtwahrnehmung – und Faktischem wurde immer evidenter, insbesondere in einer Zeit, in der man die Strahlen und Wellen entdeckte und Atome deduzierte, Relativitätstheorien aufstellte, Unschärferelationen ausmachte und Kräfte und Geschwindigkeiten neu interpretierte … Kein Wunder, daß Renard immer wieder ins „Sphärische“ auszuweichen versucht, stets erkenntnistheoretischen Grundmaxime bewußt:
Die Unsichtbarkeit ist nichts anderes als eine Eigenschaft von Dingen, die keinen Eindruck auf unserer Netzhaut hervorrufen.
Renard war auch die lingo-logische Konsequenz bewußt, etwa wenn er die denkbestimmende Metapher der „Blauen Gefahr“, die sich weltweit durchgesetzt hatte und die zum Verständnishindernis wurde, thematisiert. Es war einmal mehr Hans Blumenberg, der in seiner Metaphorologie die Gefahr der metaphorischen oder überhaupt sprachlichen Irreführung des Denkens philosophisch behandelte – Blumenberg, Eco, Sloterdijk; das sind nur drei Denker, denen man die Kenntnis dieses Romans gewünscht hätte oder – falls sie ihn kannten – man gern gewußt hätte, was sie damit angefangen haben.
Kurz und gut – ich breche hier ab und schweige über Tesla, die Ökologie, die Vorurteilslogik, die Glaubensfragen, die Tierethik usw. –, wir haben hier wesentlich mehr als eine frühe Variation zum Thema „Menschenpark“ vor uns. Was Konrad Weiß und sein Verlag uns hier entdeckte und 45 Jahre in Reserve hielt, ist ein pralles Stück Denk- und Phantasiestoff, das vollkommen zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.
An der Oberfläche eine Kriminalgeschichte mit Science-Fiction-Elementen – oder umgekehrt –, mit Gruseleffekten und Baudelaireschem Ekel angereichert, in der Tiefe ein philosophisches und visionäres Wagestück, das ungeheure Fragen aufwirft und das weit bessere Interpretationen verdiente, als sie hier geleistet werden kann.
Maurice Renard: Die blaue Gefahr. Karolinger, Wien 1980. 398 Seiten, 22 € – unbedingt hier bestellen.
Den Vortrag des Verlegers Konrad Weiß über diesen Roman aus seine Haus kann man hier ansehen:
Franz Bettinger
Nicht dass es wichtig wäre, aber der Begriff Menschenpark find ich mehr als unglücklich. Er stößt mich ab. Was soll das sein? Ein Zoo für Menschen? Eine gepflegte Anlage zum Bewundern der Spezies Mensch? Oder ein Areal, wo man analog eines Löwen-Geheges oder eines Parks für Wildschweine Jagd auf Menschen machen kann? Ob Sloterdijk oder sonst wer der Wort-Erfinder war, egal, kann weg.