Nur ist alle Politik – in welcher Gestalt auch immer – moralisch stets im Dilemma und daher ein unangenehmes Geschäft. Mehr noch, oft genug ist sie ein Verbrechen, zumal sich ohne Verbrechen nicht herrschen läßt. Ohne nicht mindestens potentiell des Verbrechens und mindestens der Unmoral fähig zu sein funktioniert Macht nicht. Sie muß Gewalt ausüben.
Macht hat das Vermögen, ethische Grenzen zu überschreiten und Leid und Schmerz zuzufügen; das verschafft ihr Respekt, verbreitet Angst und erzwingt Folgsamkeit. Deshalb wiederum – andererseits wegen der phänomenalen Erotik der Macht – versammeln sich so viele willfährig hinter ihr.
Verbunden mit den Mächtigen, weicht die Angst der Machtlosen. Zeitweise, denn alle Macht – als Menschenwerk – wird irgendwann entmachtet, und sei’s durch den natürlichen oder unnatürlichen Tod des Machthabers.
Mich hat immer die shakespearesche Dimension daran bewegt:
Selenski oder Putin und all die anderen, die meinen, „legitime“ Herrscher zu sein: Wie leben sie damit, wenn ihnen lebenslang die Toten folgen, die auf ihr ganz eigenes Schuldkonto gehen, die also ihre persönliche Politik zu verantworten hat. Wie halten sie das seelisch nur aus?
Jeder Mensch wird unweigerlich schuldig, aber erst die Macht ermöglicht – potentiell oder in tatsächlicher Ausübung – das Großverbrechen. In geringeren Graden gilt das für jede politische Macht; sie forciert unweigerlich die persönliche Schuld anderen gegenüber, während Machtlosigkeit Schuldfähigkeit mindert, ohne daß freilich der „kleine Mann“ ein guter Mensch sein muß.
Aber wenn der kleine Mann zu einem großen Machtapparat kommt und sich berechtigt sieht, über ihn zu verfügen, wird er für sich und andere zu einem Risiko, das um so größer ist, je eher und mehr er sich zum Gebrauch dieses Apparates befugt sieht, aus welchen Gründen, Argumentationen und Legitimationen auch immer. Macht rechtfertigt sich ganz umstandslos meist selbst.
Noch das Gottesgnadentum sah den Herrscher zwar über dem Gesetz, was uns Heutigen ungerecht erscheint, stellte ihn aber doch unter göttliches Gebot, an das wiederum wir nicht glauben wollen.
Die heutigen Machthaber meinen sich einem solcherart Höheren nicht mehr unterstellt, sondern stattdessen höchst vagen rechtsphilosophischen Konstruktionen wie etwa dem „Menschenrecht“, dem, heißt es prompt, universelle Geltung zukomme. Weshalb eigentlich? Wohl aufklärerisch gedacht, also vermeintlich vernünftig, möglichst kantianisch. Auch das ist an sich Glaube, an die Vernunft, dieses zweifelhafte Surrogat für Gott.
Oder sie sehen sich mindestens an eine Verfassung gebunden, die – bei allem Kult darum – auch nicht mehr ist als gedankliches Menschenwerk, das von anderen Gedanken und anderen Menschen aufgelöst werden kann, welcher Art die vermeintlichen Sicherheiten – Am kuriosesten die „Ewigkeitsgarantien“! – auch sein mögen.
Mit Rechtlichkeiten, auf die man sich verläßt, kann es über Nacht zu Ende sein; das ist tragische Grunderfahrung der Menschheitsgeschichte schlechthin. Und noch einfacher: Die robuste Macht zeichnet von jeher das Vermögen aus, sich nicht an das fragile Recht zu halten, weil in vollziehendem Machtgebrauch der Machthaber die stärksten Rechte innehat.
So operettenhaft Verfassungsrichter auch kostümiert sein mögen, verfügen sie aus sich selbst heraus über keine Macht und können – u. a. kraft Ausnahmezustand, siehe Carl Schmitt – ihrer Position enthoben werden.
Ob nun auctoritas – wie bei Schmitt – für eine erzwungene Macht steht oder sie im Sinne Hannah Arendts eher auf Anerkennung basiert, dürfte für die Machtausübung selbst beinahe gleichgültig sein.
Daß Politik – als Machtausübung – unweigerlich und permanent in Richtung Verbrechen tendiert, ja, daß sie per se Verbrecher ist, damit hatten die einfachen Leute von jeher Recht. Nur wird heute – wiederum von den Machthabern – suggeriert, Demokratie, für sakrosankt erklärt, käme ohne Herrschaft und Gewalt aus und wäre nunmehr so etwas wie ein umfassendes Einvernehmen in „Toleranz“, „Vielfalt“ und wohlwollender Menschenfreundlichkeit. Wie sentimental, ja dümmlich doch!
Insofern gerade zu erleben ist, wie sich „demokratische Kräfte“ des „Wir sind mehr!“, die sich selbst zu den einzig „Anständigen“ erklären, gegenüber den vermeintlich Unanständigen legitimiert sehen, diese aus dem „Diskurs“ herauszuhalten und von der „Teilhabe“ auszuschließen sowie zu diesem vermeintlich guten Zweck öffentliches Geld der Bürger für Vereine von Erfüllungsgehilfen zu mißbrauchen, die unter dem Titel einer „Zivilgesellschaft“ firmieren, aber doch eigentlich einen „deep state“ bilden, über den eine Neu-Ideologisierung mit penetranter Propaganda zugunsten der Herrschaft betrieben wird.
Mehr noch: Es geht spürbar an den Umbau des Rechts und der Gerichte, insbesondere ja der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Woher bloß rührt die Naivität, die Rechtsprechung wäre „unabhängig“? Weshalb nicken das alle, selbst die Juristen, als ganz selbstverständlich ab – im bloßen Meinen, daß Demokratie wohl durchaus hier und da fragwürdig wäre, nie und nimmer aber der „Rechtsstaat“?
Der unterliegt denselben evolutionären oder revolutionären Wandlungsprozessen wie alles andere Menschenwerk. Sonst gäbe es keine Rechtsgeschichte.
Das Volk als „Souverän“? Nominell bin ich Teil des Volkes, aber doch alles andere als souverän, jedenfalls nicht über meinen engen persönlichen Radius hinaus. Letztlich bin ich machtlos, und ob das Recht mich schützt, entscheiden Richter mit der hinter ihnen versammelten Herrschaftsmacht, von deren Vertretern ich nicht einen einzigen je gewählt habe.
Mein persönliches Verhältnis zur gegenwärtigen Staatsgewalt basiert auf einer wesentlichen Grunderfahrung:
Daß ich mit Berufsverbot belegt bin, ist als Tatsache für mich weniger ein aufregendes Problem als die Arroganz der Macht, dieses Verbot ohne inhaltliche Begründung zu praktizieren. Bislang klärte ich meine Lebensangelegenheiten wie jeder andere über Akte der Kommunikation. Ich bat die Exekutive in Gestalt von Amt und Ministerium also freundlich und respektvoll um ein klärendes Gespräch.
Meinem Ansinnen, doch bitte mit mir über das Problem zu sprechen, selbst zu meinen Lasten, wurde nicht nur nicht entsprochen, es wurde einfach beschwiegen, also ignoriert. Macht besteht zuerst darin, nicht auf die Bitte der Machtlosen reagieren zu müssen. Keine Antwort, kein Gesprächsangebot. Verblüffend. Selbst SED-Funktionäre und Stasi-Offiziere waren gesprächsbereit, allerdings, eingestanden, in einem vormundschaftlichen Staat.
Der heutige Machthaber schließt hingegen brüsk die Bürotür, verschanzt sich hinter Tastatur und Justitiar, sendet – stille Häme der kleinen Willkür – keine Antworten, sondern schweigt verkniffen und mag sich denken: Soll die rechtsextremistische Kanaille doch klagen!
Was für mich primär gar nicht nötig wäre, würde ich doch bereit sein, einfach einer stichhaltigen Begründung zu folgen, die wiederum die Macht nicht liefern muß oder nicht liefern kann. Ist ihr nicht zu trauen, so ebensowenig dem Gesetz. Für den Rechtsstreit haben die Ämter zudem von jeher umfassendere Mittel und mehr Zeit zur Verfügung als ihre Untertanen.
Nicht die vormodernen Legitimationsversuche von Herrschaft sind lächerlich, wurde doch mindestens versucht, aus einem Höheren und Umfassenden heraus zu herrschen und zu richten; nein, die moderner Rechtfertigungen sind’s, die meinen, eine mit Begründungen und Begriffen wie „Würde“ beschriebenes Papier gewährte letztgültig garantierte Sicherheit, weil man davon erwarten könne, ja müsse, das alles wäre Konsens und „unhintergehbar“. Welchen Konsens sollten es je gegeben haben, was denn wäre je unhintergehbar gewesen – und welches Recht hatte durchweg Bestand?
Nein, die Hölle ist immer offen, und die Herrschaft hat die Macht, sie jederzeit zu nutzen. Jeder Herrschafts- und Mandatsträger sollte weniger befeiert als gewarnt werden: Bedenke, daß du kraft deiner Macht noch mehr Gefahr läufst, schuldig zu werden.
Franz Bettinger
Fulminanter Text!