Die Ehefrau Hättaschs hat uns das handschriftliche Tagebuch ihres Mannes zur Abschrift und zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Es ist nicht nur in diesem Fall wichtig, die andere Seite zu hören, die Seite der Verhafteten und Angeklagten also. Denn ihr Leben ist von einem Tag auf den anderen so sehr beschädigt worden, daß der Staat beste und schwer belastbare Argumente beibringen muß, um begründen zu können, warum er seine Einsatzkräfte so handeln ließ.
Die Aufzeichnungen werden unverändert wiedergegeben – allenfalls Fehler sind korrigiert. Wir enthalten uns der Kommentierung. Die Schilderungen und Gedanken sind authentisch und erschütternd. Sie zeigen als Dokument eines absoluten Ausnahmezustands viel vom Menschen Hättasch selbst, also auch etwas von einem Lagehumor, der aus einer großen inneren Festigkeit stammen muß: Wer so erzählt, schaut sich selbst von oben zu. Seinem Bericht stellte er folgende Zeilen voran:
Ich beginne diese Aufzeichnung am Tag 24 meiner U‑Haft, gerechnet ab dem Tage meiner Festnahme. Bis auf Namen ist dieser Bericht vollständig und aufrichtig und schildert meine Wahrnehmung der Geschehnisse. Die Wahrheit ist hierbei zum Teil abenteuerlich genug, sodass sie auf Übertreibungen verzichten kann – im Gegenteil zur „Wahrheit“ der etablierten Medienlandschaft, die sich, wie so oft, alles zurechtbiegen muß.
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4. bis 6. Tag, 8. bis 10. November – viel Betrieb und ein erstes Wochenende
Mit Puddingfrühstück und Ärztevisite beginnt der Tag. Bei der Visitation wird festgestellt, dass mein rechter Oberarm nicht funktioniert. Den ausgestreckten Arm kann ich im Liegen gerade so über das Bein heben. Die Physiotherapeutin kontrolliert alles und stellt eine Muskel- und Nervenverletzung fest, die einige Wochen zur Regeneration brauchen wird. Mit ihr gehe ich die erste Runde durch mein Zimmer, was nicht gut geht, da ich im Fuß noch die Flexüle habe. Ich darf aber endlich ein wenig durch die Gegend wanken und mache die ersten Erkundungsgänge auf das Klo.
Mein Zimmer in dem Raum im Krankenhaus sehr ähnlich, nur größer, etwas moderner und für Besucher unwirtlicher eingerichtet. Es gibt keinen Fernseher und auch sonst nichts, um sich abzulenken, aber ich bekomme ein kleines Radio und kann etwas Musik hören. Es stehen zwei Krankenbetten bereit, aber nur meines ist belegt. Das Bad hat ein Waschbecken und eine Toilette. Direkt vor dem Bad steht ein weiteres Waschbecken mit Seifenspender, Spiegel und Ablage. Ich erhalte eine Grundausstattung für die Körperhygiene, bestehend aus Kamm, Zahnbürste, Zahnpaste, Rasierschaum, Duschgel und einem Becher. Mir werden zwei Handtücher gegeben, doch heute waschen mich noch die Pfleger.
Ich sage, dass ich mit meinem Anwalt telefonieren möchte und erhalte die Antwort, dass man sich darum kümmern werde. Eine Mitarbeiterin vom Sozialdienst besucht mich und gibt mir eine sehr lange Belehrung über Fortsetzung oder Beendigung diverser Versicherungen, den Verbleib bei den Krankenkassen, Beendigung oder Neubeantragung von Arbeitslosengeld usw. Sie erweckt den Eindruck, sehr auf Seiten der Häftlinge zu stehen und sagt, man solle hier keinem was erzählen und nur mit dem Anwalt arbeiten. Offenbar wurde die Ehrlichkeit mancher schon ausgenutzt.
Sie fragt nach Alkohol‑, Nikotin- und Drogenabhängigkeit und rät, sich davon fernzuhalten, weil viele Gefangene dadurch erpressbar würden. Ein Psychologe besucht mich und fragt nach meinem Befinden, er sorgt sich in der Hauptsache um Suizidalität. Ich kann mich mit ihm gut unterhalten, und es entsteht zwischen uns ein angenehmes Gespräch, auch wenn viele Fragen eher für einen anderen Typ Mensch zugeschnitten sind. Mir wird der ‚Fahrplan‘ erläutert. Der sieht vor, dass mit mir drei psychologische Gespräche geführt werden, im Anschluss ein viertes mit einem ortsfremden Psychologen, und dass bei positiver Einschätzung die Verlegung in ein Einzelzimmer angestrebt wird, in dem ich nicht rund um die Uhr beobachtet werde.
Die Leitung mit meinem Anwalt steht endlich. Da ich noch kein eigenes Festnetztelefon besitze, erhalte ich ein Mobilgerät. Eine Wache wählt für mich die Nummer und überwacht das Gespräch aus einigen Metern Entfernung. Ich erfahre einen Teil der Medienberichte. Es ist eine glatte Schande, mit welcher Selbstzufriedenheit der Ruf eines Menschen zu Staub zertreten wird. Ohne den geringsten Anstand oder ein Fünkchen Zurückhaltung werden Fakten geschaffen und die Verurteilung praktisch vorgezogen.
Ich erfahre, dass ein Freund der Familie meine Frau besucht hat, ein Journalist der LVZ (Leipziger Volkszeitung) das Gespräch bespitzelte und die gewonnenen Informationen dergestalt veröffentlichte, als habe meine Frau sie ihm gegenüber im Gespräch geäußert. Es wird eine Aufgabe für die Zukunft sein, einen Begriff für die Art Presse zu finden, die ständig lügt.
Aber mich kümmern diese blutleeren Gestalten kein Stück und der Heuschreckenschwarm der unproduktiven Schreiberlinge wird bald über das nächste Opfer herfallen. Kein Mensch, der noch ganz bei Trost ist, nimmt das Geschwafel dieser Kaste noch ernst. In meiner Heimat wenigstens gehen die Zeitungsabonnements seit Jahren stark zurück und das ist wahrlich kein Wunder.
Mein Umfeld, Freunde und Familie, stehen zu mir, und das besänftigt viele Sorgen. Besonders rührend ist, dass auch politische Gegner und ausgesprochene Linke ihre Wünsche ausgerichtet haben und mir die baldige Heimkehr wünschen. Die Anklage ist einfach zu stumpf, als dass vernünftige Menschen sie bedenkenlos schlucken.
Das Telefonat geht lange, und nachdem es vorbei ist, denke ich lange über das Gesagt nach. Als der Faden nach draußen abreißt, wird es auch wieder dunkler im Zimmer und ich fühle mich allein. Ich stehe am vergitterten Fenster und schaue auf eine Dachterrasse, auf der ein kleines Fleckchen Moos wächst, ansonsten ist alles grau und schwarz. Es wird Abend, aber selbst am Tag konnte ich die Sonne nicht sehen, da sie nicht über das Gebäude steigt.
Frühstück, Mittagessen und Abendbrot bestehen aus einer Schüssel mit Pudding, der ein starkes und künstliches Vanillearoma hat. Gelegentlich gibt es die Variation der ‚Puddingsuppe‘, die nochmals mit Milch durchgerührt ist. Ich esse das Zeug nicht mehr lange. Der dunkle Abend ist lang und traurig. Ich kann nicht schlafen. Wenn ich liege, dann fließt ungemein viel Wasser und Schleim in meinem Hals, als wollte es die Wunde umspülen. Ich kann aber noch immer nicht ordentlich schlucken, daher huste ich viel und verbringe so die Nacht.
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„Ihnen ein schönes Wochenende und bis Montag!“ ist der erste gutgemeinte Spruch, den ich am Freitag von vielen Mitarbeiter zu hören bekomme. Nun ist es da, das segenreiche Wochenende, an dem ‚endlich mal Zeit für die Hobbys, die Familie, den Hund da ist, wo man eine Wanderung macht, zu einer Veranstaltung fährt, was Feines isst, und abends einen Film anschaut.
Ich bekomme eine Schüssel mit Pudding und höre Radio. Mir ist sterbenslangweilig und ich fühle mich unendlich einsam. Ich gehe auf Toilette und wie ich wieder zu meinem Bett gehe, betritt eine Schwester den Raum. Unter dem Arm trägt sie einen Stapel Kleider, den sie auf mein Nachbarbett legt. Ich schaue sie an, sie schaut mich an. „Ja! Die Wache muss ja nicht ständig Ihren Hintern sehen!“ Sie sagt es hart, aber meint es lieb. Ich sage, dass man mich nur heimlassen muss, dann sieht auch keiner mehr meinen Hintern.
Was soll sie darauf antworten? Sie sagt nichts dazu, und das zeigt mir, dass sie es nachvollzieht. Jedenfalls sichte ich nun meine neuen Sachen: Unterwäsche, Socken, T‑Hemd, Jogginghose, Badelatschen und ein graues Jäckchen. Ich ziehe mich an, und das dauert durchaus lange, da mein Arm nicht mittut. So ist man schon eher wieder ein Mensch. Die Kleider sind bequem und warm, aber man sieht darin wirklich wie ein Verbrecher aus.
Bei der nächsten Gelegenheit frage ich eine Schwester nach Büchern, weil die Zeit doch gar nicht vergeht. Sie bringt mir aus einer kleinen Stationssammlung zwei Thriller: ‚In ewiger Schuld‘ und ‚Das Lied der Sirenen‘. Das ist nun wirklich nicht meine Sparte, aber was soll ich sagen; also lese ich sie. Ich erhalte im Laufe des Tages einen Bücherkatalog der Gefängnisbibliothek, der sehr umfangreich und inhaltlich nicht so verkehrt ist. Ich mache eine Bestellung und gebe einen Zettel ab, der leider verlorengehen wird.
Ich höre ein Klicken, und das Gebläse der Klimaanlage geht an. Das hat mir gerade noch gefehlt, denn ich gehöre zu dem bedauernswerten Teil der Weltbevölkerung, der durch Klimaanlagen immer krank wird. Eine dicke Erkältung wäre in meinem Fall aber, ohne übertreiben zu wollen, womöglich eine Gefahr für meine Luftversorgung, denn die Schwellungen sind bislang kaum zurückgegangen.
Das Mysterium mit dem Gebläse klärt sich allerdings nie auf. Die Anlage ist ohne jeden Zweifel auf ‚Aus‘ gestellt und man kann die Gebläsetätigkeit nur vergrößern. Das sind Momente, die zur Zerreißprobe werden können. Wenn ich im Bett liege und mir der Wind aufs Gesicht bläst, dann könnte ich bald verrückt werden! Ich schlafe nur noch mit offenen Fenstern, da so der Luftstrom anders fließt.
Die Pfleger und Schwestern wechseln am Tag in drei Schichten. Die Wachen, die mich beobachten, wechseln viel öfter, aber ich erkenne keinen klaren Rhythmus – vielleicht alle drei Stunden? Sie sind sehr verschieden: Der Mann vom ersten Tag im Krankenhaus kommt ab und zu zu mir und fragt, wie es geht; eine Frau hilft mir sehr freundlich bei der Beantragung eines Zellentelefons und einiger administrativer Angelegenheiten. Ein paar Wachen kommen zu Antritt ihrer Schicht zu mir und stellen sich vor, einige bringen knapp ihre Zweifel zum Ausdruck. Viele Wachen beziehen stumm ihren Posten.
Einer kommt in der Nacht zwischen zwei und vier Uhr in mein Zimmer und schaltet das Licht an, weil er mich andernfalls nicht beobachten könne. Ein junger Araber ist sehr diensteifrig, denn wenn ich auf Toilette sitze, kann man mich vom Beobachtungsraum her nicht sehen. Dann wechselt er seine Stellung auf die Schwesternstation, um mich beobachten zu können. Er hatte sich allerdings auch vorgestellt und gehört der Gruppe der freundlichen Wachen an.
Es wird Abend, und eine nette Schwester gibt mir Weißbrot und Frischkäse. Ich entferne den Rand und schneide alles sehr klein, bevor ich es vorsichtig, aber bereitwillig vertilge. Ich frage nach Schreibzeug und erhalte Papier und einen Kugelschreiber. Ich fange an, das Geschehene zu notieren, aber es fällt mir sehr schwer, da ich mit dem kaputten Arm schreiben muss. Meine Hand funktioniert zwar, aber der Arm schmerzt sehr und ich muss viele Pausen machen. Ich schreibe auf, was mir in der vergangenen Woche passiert ist, um es meiner Familie zu schicken. Die Eindrücke sind noch frisch und das ist gut so, weil man geschehenes Unrecht zu schnell vergisst und zu großzügig verzeiht.
Es ist schwer, alles nochmal zu durchleben, aber es muss sein, und ich glaube, es hilft. Der Sonntag vergeht ewig langsam mit Essen, Lesen, Schreiben und Radiohören. Es ist draußen grau und wolkig, es regnet. Am Sonntag wird gewogen: 90,5 Kilogramm – da habe ich fast acht Kilo Gewicht verloren, in den letzten sechs Tagen…
Mein Arm schmerzt, und ich weiß nicht, wie ich liegen soll. Ich kann den Mund ein wenig weiter öffnen, aber viel ist mit dem Kiefer nicht anzufangen. Was wird meine Frau jetzt machen? Wie geht es der Kleinen? Wie soll alles weitergehen? Die Fragen kreisen im Kopf, und es ist keiner da, der sie beantworten kann. Ich schreibe den ersten Brief an meine Familie, abgesehen von meiner Zusammenfassung der ersten Woche. Es wird langsam Abend und langsam Nacht: So habe ich dem Leben wieder eine Woche abgerungen… Wie lange wird dieser Zustand anhalten?
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3. Tag, 7. November – Verlegung ins Haftkrankenhaus
Ich wache wieder sehr früh auf. Eigentlich habe ich gar nicht wirklich geschlafen. Auf der Intensivstation sind so viele Geräusche, dass man nicht zur Ruhe kommt. Außerdem haben meine Wachen vor der Tür ständig so tiefschürfende Diskussionen geführt, durch die ich nicht abschalten könnte. Ich bekomme von einer Schwester eine Fernbedienung, aber im Fernsehen kommt früh um acht nur Grütze und ich schalte nach wenigen Minuten wieder aus. Vor der Tür unterhalten sich einige Ärzte, von denen ich einen sagen höre: „Das Verletzungsbild war wirklich einzigartig. Er hat keinen Zahn verloren, und das Projektil hat vom Unterkieferknochen abgesehen nur Weichteile getroffen. Kleinste Abweichungen der Flugbahn wären tödlich gewesen. Bei ihm hat der liebe Gott wirklich seine schützende Hand drüber gehalten.“ Die Aussage trifft mich tief und lässt mich lange über das Leben nachdenken. Ich bekomme von einer Schwester einen Becher mit Wasser und einen sehr schmalen Strohhalm. Ich ziehe etwas Wasser hoch und schlucke, wobei ich direkt husten muss. Alles ist noch so stark geschwollen und nur ein kleiner Kanal frei.
Gegen zehn Uhr werde ich für den Transport vorbereitet, und es wird nach Handschellen für mich gesucht. Es gibt wieder eine ausufernde Diskussion darüber, ob man mit oder ohne Blaulicht fahren soll, aber diesmal entscheidet man sich dagegen. Ich werde von meinem Bett auf eine Rolltrage hinübergehievt und zum Krankenwagen gerollt. Auf dem Weg wünschen mir Ärzte und Chirurgen noch alles Gute.
Die Fahrt geht durch die Stadt, und ich bin völlig orientierungslos. Ich frage nach einer Decke, weil ich wiederum praktisch nichts trage als das OP-Hemd. Wir fahren durch eine Schleuse in mit Stacheldraht bewehrten Mauern und Zäunen und stehen zunächst eine Weile und warten auf weitere Anweisungen. Dann dürfen wir weiterfahren, passieren eine zweite Schleuse und erreichen nach wenigen Minuten das Haftkrankenhaus. Raus aus dem Auto, rein ins Gebäude, Fahrstuhl hoch, durch den Gang, rein ins Zimmer, und ich werde aufs Bett gehoben.
Die ehrenwerten Mitarbeiter des BKA verlassen mich endlich, und es kommt eine Truppe von vier Ärzten in den Raum, von denen drei Ausländer sind. Wir verstehen uns gut und sind sehr freundlich miteinander. Darüber hätte sich der Staatsanwalt bestimmt sehr geärgert, da das gar nicht zu seinem Bild von mir passt. Es geht um viele medizinische Fragen, die ich so gut ich kann beantworte.
Im Anschluss füttert mich eine Pflegerin mit einem kleinen Löffel mit Pudding, der, nachdem ich nun lange nichts mehr gegessen hatte, sehr angenehm ist, obwohl ich ihn schlecht herunterbekomme. Als mich das medizinische Personal verlässt, sehe ich, dass im Raum noch drei Personen stehen, die von der Justiz sind. Ein höherer Beamter stellt sich, den Abteilungsleiter und eine Wache vor und erzählt ein bisschen von der JVA und wie hier alles läuft, aber mir ist das zu viel und ich habe noch mit meinem Körper zu tun.
Der Abteilungsleiter fährt fort und wir gehen einige Belehrungen über die Hausordnung, das allgemeine Verhalten, Geschlechtsverkehr, strafwürdige Handlungen und Versicherung durch. Er sagt mir, dass bei mir sehr starke Auflagen seitens des Gerichts vorlägen und die JVA nur sehr wenig bestimmen könne, weil bei allem nachgefragt werden müsse. Er versucht, die Sache etwas humorvoll zu entkrampfen, und dieser Versuch ist ebenso liebenswert wie erfolglos.
Er sagt zuletzt, dass wir zusammen die Zeit so schmerzlos wie möglich verbringen sollten und ich gebe ihm Recht. Dann verlassen er und sein Vorgesetzter den Raum und wünschen alles Gute. Ich bleibe also mit der Wache allein im Zimmer, und er weiß zuerst nicht recht, wie er anknüpfen soll. Er fängt dann an und fragt, wie es zu der Verletzung kam. Ich erzähle ein wenig, und je mehr ich sage, desto ungläubiger wird er.
Zuletzt berichtet er von ein paar Geschichten, die er so kennt. Nach weiterer Stille sagt er zu mir, dass er jetzt in den Nebenraum gehen wird, und weist links von mir zu einem in meinen Raum vorspringenden Zimmerteil mit einer großen Scheibe. Frisch eingelieferte Gefangene im Krankenhaus müssen zu Anfang überwacht werden, und mit diesen Worten verlässt er meinen Raum über den Korridor und betritt das Wachzimmer von der anderen Seite. Ich bin allein.
Meine Gedanken kreisen unnütz zwischen Geschehenem und Zukünftigen, aber die Finalität meiner derzeitigen Lage wirkt bedrückend und beängstigend. Immer, wenn ein Pfleger kommt, einen neuen Tropf anhängt oder etwas kontrolliert, verschwinden die Gedanken kurz, um dann bei erneuter Einsamkeit von Neuem anzulaufen. Ich beginne mit sehr kurzen Ausflügen zum Klostuhl neben meinem Bett, aber es kostet alles viel Kraft und ich döse viel vor mich hin. Schlafen kann ich nicht…
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2. Tag, 6. November – Verhandlung
Ich erwache und fühle mich unendlich elend. Es dauert eine ganze Weile, bis ich alle Gliedmaßen durchprobiert habe, und ich stelle nur fest, dass mein rechter Arm nicht so ganz will und ich meinen Kopf kaum bewegen kann. Nach und nach wird mir bewusst, was alles an mir hängt: Ich habe in beiden Armbeugen Zugänge, zudem im rechten Fuß; ich habe einen Blasenkatheder, eine Magensonde für flüssige Ernährung und bin intubiert, das heißt, dass meine selbstständige Atmung überbrückt wurde. Eine große Gruppe von Ärzten kommt in meinen Raum, und beglückwünscht mich zur erfolgreich verlaufenen OP. Die Atemwege waren vollständig zugeschwollen, was das Gerät in meinem Hals erforderlich machte. Nun ist man sehr gespannt, wie das Extubieren laufen würde und direkt zur Stelle, falls etwas schiefgehen sollte. Mir wird sehr unangenehm ein großes Teil aus dem Hals gezogen, das ich nicht genauer betrachten kann. Ich bekomme eine Sauerstoffmaske und bin lange Zeit damit beschäftigt, ruhig zu atmen. Unter meiner Zunge ist eine große und stark gespannte Blutblase und mein Gesicht ist am Hals durch einen harten Bluterguss schief geschwollen. Ich bekomme nicht gut Luft, aber im Vergleich zu gestern ist es ein nie endender Segen!
An meinen Wunden sind Beutel angehängt, in die blutige Lymphflüssigkeit einfließen kann. Leider halten diese nicht besonders gut und fallen immer wieder ab. Ich merke, dass meine Handgelenke mit weißen Schlaufen am Bett befestigt sind, welche die Schwester immer wieder lösen und neu befestigen, weil sie bei der Arbeit stören. Diese Schlaufen dienen offensichtlich dazu, mich von einer abenteuerlichen Flucht abzuhalten, jedoch wird ihre Zwecklosigkeit vom medizinischen Personal im Laufe des Tages erkannt: Niemand glaubt ernsthaft, dass ich in meinem Zustand flüchten könnte. Ich schlafe immer wieder für etwa zwanzig Minuten ein, länger geht es nicht. Ansonsten starre ich die Wand vor mir an. Die Zeit versickert langsam, und es vergehen Generationen, bis es 12 Uhr wird – der Tag nimmt kein Ende.
Ich höre, dass meine Familie draußen vor der Intensivstation wartet, aber niemand darf zu mir, bevor mir der Haftbefehl eröffnet wurde. Ein Beamter kommt zu mir und teilt mir diese Gedanken mit, sagt auch, dass ein Verteidiger für mich organisiert wird, aber ich widerspreche seinen Bemühungen und nenne meinen eigenen Anwalt. Das führt auf der anderen Seite zu einiger Verwirrung, aber ich kann dem Gewirr nicht folgen und schlafe wieder kurz. Es vergeht weitere Zeit, bis Richterin und Staatsanwalt mit wesentlicher Verspätung eintreffen. Ziemlich zeitgleich kommt auch mein Anwalt an, und es entsteht wieder Gemurmel vor der Tür, in dem sich sehr kritisch darüber geäußert wird, dass mein Anwalt „vor der Verhandlung noch mit seinem Mandanten sprechen will“. Obwohl dies scheinbar ein unerhörter Wunsch ist, wird ihm nachgegeben, und mein Anwalt betritt mein Zimmer. Ein weiterer Eklat folgt auf dem Fuße, denn der Mann verlangt tatsächlich, mit mir ohne die Anwesenheit der Vermummten im Raum zu sprechen. Das ist nun wirklich die Höhe! Mein Anwalt lässt aber nicht locker und so kommt ein weiterer Mann, wahrscheinlich ein BKA-Beamter, in den Raum und kontrolliert intensiv die ca. 2,5 Meter hohen und 40 Zentimeter breiten Fenster, die nur angekippt werden können – darüber hinaus im ersten oder zweiten Obergeschoss des Gebäudes. Seiner fachmännischen Ansicht nach kann eine Flucht durch die Fenster ausgeschlossen werden, also verlassen die anderen den Raum.
Mit meinem Anwalt allein, versuchen wir uns klar zu werden, was genau in den letzten beiden Tagen eigentlich passiert ist, und studieren den Haftbefehl. Das Schreiben ist eine anhaltende und bodenlose Frechheit voller Theorien, Annahmen und Interpretationen, frei von Beweisen und frei von strafwürdigen Handlungen meinerseits. Ungeachtet dessen ist der sehr umfangreiche Haftbefehl ein Meisterwerk und spart an keinem der vielen abgestumpften Schlagwörter, mit denen ein Rechter 2024 verunglimpft werden kann. In der Hauptsache werden Handlungen anderer vorgetragen, denen der Staatsanwalt auf diese oder jene Art eine Strafwürdigkeit abzuringen versucht, wenngleich auch dies an verschiedenen Stellen stark im Bereich des Spekulativen bleibt. Diese Handlungen anderer werden dann allerdings einfach allen Angeklagten unterstellt. So klingt mein zu erwartendes Strafmaß ziemlich ernst, obwohl mein Name im 25-seitigen Haftbefehl nur in vier Absätzen Erwähnung findet und meine „Handlungen“ in keiner Weise das Strafrecht berühren.
Mein Anwalt notiert sich viele fragwürdige Schlüsse und Gedankengänge, und derart vorbereitet teilt er der Richterin mit, dass wir fertig sind. Sie beginnt nun, in meinem Zimmer einen Gerichtssaal nachzubilden, plaziert eine Schreibmaschine und eine Protokollantin am Tisch, lässt eine Kamera zur Aufnahme aufstellen und meinen Anwalt und den Staatsanwalt Stellung beziehen. Als alles vorbereitet ist, wählt sie sich ihren Standort zur Linken der Protokollantin und trägt mir den ellenlangen Haftbefehl nochmals vor. Ich kann mich kaum konzentrieren, halluziniere, werde aber oft ermahnt, dem Wortlaut zu folgen, den ich doch nun schon kenne und der eine Aneinanderreihung geplanter Gewalt- und Hassphantasien ist, aber eben kaum Belege enthält. Als sie geendet hat, beginnt mein Verteidiger und trägt eine Vielzahl von Handlungen vor, an denen ich mich nicht beteiligt hatte, die aber wesentlich das geforderte Strafmaß rechtfertigen sollen. Richterin und Staatsanwalt ziehen sich zur Beratung zurück, im Anschluss teilt mir die Richterin ihr Ergebnis mit. In der Hauptsache stimme die Darstellung meines Anwaltes, dass vieles nicht bewiesen werden könne, aber es sei einerlei und bleibe bei den angestrebten vorläufigen Anordnungen. Insbesondere sei es undenkbar, bis zu einem Gerichtstermin eine Kaution zu hinterlegen oder mit einer Fußfessel nach Haus entlassen zu werden. Vielmehr müssten die härtesten Haftbeschränkungen angeordnet und durchgeführt werden, das heißt: Überwachung und Mitlesen der Briefwechsel, alle Anträge müssen vom BGH bestätigt werden, Besuche nur mit Trennscheibe, nur einzelner Transport, in der JVA keine Beschäftigungen ohne Aufsicht, kein Einbringen von Gegenständen aller Art, Mithören der Telefongespräche mit Angehörigen und Überwachung von Schriftverkehr und Telefonaten mit dem Anwalt.
Nach so einer Ankündigung liegt man tatsächlich erst einmal da, als hätte die Polizei einen tags zuvor niedergeschossen. Da fragt man sich, ob man nicht ganz auf der Höhe ist, weil man wie ein waschechter Terrorist behandelt wird, obwohl man nur ein Handwerker und Familienvater ist, der in seiner Freizeit Jugendarbeit macht und im Stadtrat tätig ist. Der Beschluss ist doch ungeheuerlich, aber es gibt nichts, was man dagegen tun könnte. Die stecken mich ins Gefängnis, und so wie ein heißes Messer durch Butter gleitet, werden alle persönlichen Anstrengungen glatt zerschnitten. Alles ist vorbei, und die eigenen Ansichten sind ebenso unbedeutend wie der Nachweis strafwürdiger Handlungen. „Mildere Mittel sind nicht ersichtlich“ ist der Spruch am Ende des Haftbefehls, und die Zertrümmerung einer Familie wird als Kollateralschaden hingenommen.
Mein Vater, meine Frau und mein kleines Mädchen dürfen nach ewigem Warten endlich zu mir und sind schwer erschüttert, mich in diesem Zustand zu sehen. Meine Frau weint. Unter uns breitet sich die Fassungslosigkeit über so viel Niedertracht einmal weit aus, als mein Vater kurz beginnt, vom Sturm auf unser Haus zu erzählen, davon, wie Tor und Tür gesprengt worden sind, Scheiben zerschlagen wurden, mein Vater an der Treppe niedergeschlagen und in allen Räumen ein heilloses Chaos angerichtet worden ist. Ein Beamter weist darauf hin, dass wir darüber nicht weiter sprechen dürften, und ich frage mich, ob sich vom Schweigen darüber die Tatsachen ändern würden. Meine Tochter zappelt auf dem Arm ihres Großvater und lächelt mich an. Du glücklicher kleiner Mensch, denke ich mir, du weißt noch nichts von Staatsgewalt und kennst nur die Sorgen, die in der Windel liegen. Du verstehst das Spiel nicht, dass dein Vater in dem Bett vor dir spielt und warum all die Schläuche an ihm sind. Vor allem verstehst du nicht, warum der Papi dich nicht nimmt und mit dir eine kleine Runde geht, weil du seine Fesseln unter der Decke nicht sehen kannst. Du bist gesegnet, weil du dieses Scheitern deines Landes noch vergessen kannst, aber wie soll ich damit zurechtkommen?
Der Besuch ist viel zu kurz und es lässt sich nicht alles sagen. Die Tränen fließen, aber das kümmert keinen. Als meine Familie geht, wird die Welt dunkel und grau. Ich starre zur Wand und durchwache die Nacht.
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1. Tag: 5. November – Festnahme
Bevor ich mit der unmittelbaren Schilderung der Ereignisse beginne, möge sich der Leser kurz gedanklich vorstellen, er sei ein höherer Polizeibeamter, betraut mit der Aufgabe, einen Mann früh morgens in oder an seiner Wohnstatt festzunehmen. Es stehen alle Mittel zur Verfügung, die Hauptsache ist nur, dass es ein verhältnismäßiger Einsatz ist, der nicht übertrieben viel Aufmerksamkeit erregt, der vor allem zielgerichtet ist: Der Beschuldigte soll schnell und ohne viel Ruß festgenommen werden.
Die Mittel können sein: Eine gewisse Anzahl an Beamten, Lautsprechern, Blaulicht wären optimal, und außerdem die wesentliche Kennzeichnung der eigenen Leute als Hoheitsträger des Staates… Es zeigt sich, dass wir von professioneller Polizeiarbeit wenig Ahnung haben, denn ein erfolgreicher Einsatz der Polizei sieht folgendermaßen aus:
Es ist kurz vor sechs Uhr. Ich werde wach. Eine gewisse Unruhe hat mich geweckt und der Blick aus dem Fenster zeigt, dass tatsächlich in der sonst so ruhigen Straße mehr los ist, als es die frühe Stunde erlaubt. Meine Frau wird wach. Draußen öffnen sich Wagentüren und es ist leises Geplapper zu vernehmen. Wir sprechen kurz, was das zu bedeuten hätte, da leuchten etliche Scheinwerfer auf und strahlen in die Fenster. Gleichzeitig beginnt ein wildes Rufen, dessen Sinn schwer festzustellen ist.
Ich springe aus dem Bett auf und bin zunächst nicht ganz auf der Höhe, muss mich erst kurz sammeln. ‚Was passiert denn jetzt?‘, denke ich. Meine Frau öffnet das Fenster und ruft heraus, sie sollen nicht so schreien, da bei uns unsere neun Monate alte Tochter schläft. Als Reaktion werden die Rufe wüster und unverständlicher. Ich denke im ersten Moment an die Festnahme eines betrunkenen Fahrers, der sich in unsere Straße verirrt hat, und werfe mir schnell eine Hose und ein Oberteil über, um mir das Spektakel anzusehen.
Ich gehe zur Haustür. Diese ist von der Straße abgewandt und auch etwa fünfzehn Meter von der Straße entfernt. Ich öffne sie, schaue um den Vorbau herum, um zu sehen, was los ist. Wilde Rufe tönen mir entgegen, sie sind unverständlich und bedrohlich. Gleichzeitig sehe ich, wie mehrere Rotlaser-Zielpunkte zu mir wandern und mich fassen wollen. In meinem Kopf beginnt es sehr schnell zu arbeiten, und einer der ersten Gedanken aus meiner Analyse (nämlich was das wohl bedeuten könnte: Scheinwerfer zur Verhinderung der Sicht, schwarz vermummte Gestalten, wildes Rufen und schwarze Fahrzeuge ist): Terror, Antifa.
Ich ziehe mich ins Haus zurück, lasse in meiner Aufregung die Tür offenstehen. Wie ich durch den Flur eile, beginnt draußen einer über ein Mikrophon etwas zu sagen. Leider lässt es sich kaum verstehen, weil die Truppe draußen jetzt beginnt, Böller auf das Grundstück zu werfen, die mit lautem Krachen an verschiedenen Stellen explodieren. Ich erreiche die Küche, greife zum Telefon, wähle die 110. Kurze Warteschleife, dann habe ich einen am Hörer. Mit gepresster Stimme sage ich Name und Adresse. „Mehrere vermummte Personen bedrohen mich auf meinem Grundstück, sie werfen Böller, schreien und verhalten sich bedrohlich.“ Der Polizeibeamte teilt mir mit, dass Beamte auf dem Weg zu mir seien, ich lege auf.
Was nun? Da entsinne ich mich, dass ich die Haustür offengelassen habe. Ich stürze also zurück zur Tür und es ist, als ob der Zauber etwas nachgelassen hätte. Ich luge um die Hausecke herum, und es beginnt mit neuer Intensität. Böller krachen, Laserpunkte leuchten, Scheinwerfer sind auf mich gerichtet, es lässt sich nichts erkennen. Clever, denke ich – durch das Licht erkennt man nicht, wer vorne steht. Wie die Wilden zerren sie am Hoftor und ich höre Dachziegel splittern. Ich ziehe mich wieder zurück und verschließe die Tür.
„Eindeutig Linke“, denke ich mir, denn die Polizei wäre in der Zeit, in der ich telefonierte, längst durch die offene Tür hereinmarschiert. Aber die da vorne wollen ja nicht rein, die wollen nur Stress machen und Schaden anrichten – mit Erfolg. Ich werde aufgefordert, vor ans Tor zu kommen. Na klar, solche Fälle hat es schon zuhauf gegeben: Antifa gibt sich als Polizei aus und prügelt ihre Opfer dann ins Krankenhaus.
Ich habe Sorge, dass die Truppe gleich ausreißt, bevor die Polizei da ist, um sie festzunehmen. Ich flitze also wieder in die Küche und rufe erneut die 110. Kurze Vorstellung, man sagt mir, die Beamten seien bereits auf dem Weg, aber ich sage, dass das schneller gehen muss. Unterdessen setzen sich die Rufe und die Böllerexplosionen fort. Ich lege wieder auf und stürme zu meinem Vater in den ersten Stock. Der steht mit nacktem Oberkörper am Fenster und versucht sich an einem verzweifelten Gespräch, während auch auf ihm die Laser-Rotpunkte wandern.
Aus den Rufen von unten höre ich: „Gib uns deinen Sohn!“ oder „Wir wollen deinen Sohn!“ Sehr professionell, denke ich, genau so würden es seriöse Beamten sagen. Und immer wieder diese Scheinwerfer, durch die man einfach nichts erkennen kann. Ich rufe meinem Vater zu, er brauche sich keine Mühe zu geben, es handele sich um Terroristen, und ich hätte die Polizei schon gerufen. Er hört mir leicht gehetzt zu und führt sein Gespräch mit denen unten dort fort. Ich höre noch, wie er sagt: „Kann ich mir erstmal etwas anziehen?“, während ich schon weitergehe.
Jetzt nur noch auf die Polizei warten, aber die Gefahr, dass die Truppe ausreißt, wird immer größer. Unsere Straße ist eine Sackgasse, und ich könnte durch den Hinterausgang über das Feld zur Einmündung der Straße laufen, um ihnen dort den Weg abzuschneiden. Was soll ich auch sonst tun? Vor dem Haus sind es zu viele, bestimmt zehn Mann, da lässt sich nichts ausrichten.
Ich gehe zu meinem Jagdwaffenschrank, nehme den Schlüssel und öffne die Tür. Zuerst greife ich zu einem Jagdgewehr, aber finde keine passende Munition dazu, also stelle ich es wieder zurück und greife zu einem anderen Karabiner. Ich lade aufgeregt die Patronen ein und verriegele den Schrank wieder. In einer derart bedrohlichen Angriffssituation ist ein solches Vorgehen durchaus legal, „Notwehr” oder “rechtfertigender Notstand“ heißt das, meine ich, hat man als Waffenbesitzer ja alles mal brav gelernt. Man stelle sich außerdem vor, die Extremisten stürmten tatsächlich das Haus und hätten ihrerseits Zugang zu den Waffen!
Ich gehe durch das Hinterhaus und trete heraus. Es ist kalt, und ich trage nur Hose, Oberteil und Latschen ohne Socken. Mein Weg ist etwa 200 bis 250 Meter lang bis zur Einmündung der Straße, doch so weit komme ich gar nicht. Wie ich auf das Feld treten will, stehen in 15 Metern Entfernung etwa sechs bis acht vollkommen schwarz vermummte Gestalten. Jetzt geht auch hier ein Scheinwerfer an, und ich bin wieder geblendet, aber ich habe die Typen kurz gesehen. Die haben das Haus tatsächlich umstellt, denke ich. Das durchkreuzt meinen Plan empfindlich und ich weiß für einen Moment nicht, was ich tun soll.
Dann besinne ich mich aber und wäge die Lage in Sekundenschnelle ab. Wenngleich mir an Zahl deutlich überlegen, sind sie höchstens leicht bewaffnet, daher lasse ich es auf eine Nervenprobe ankommen. Mir schlagen wieder wilde Rufe entgegen: „Wirf die Waffe weg!“ und „Ergib dich!“
Klar, denke ich, jetzt bekommen sie sicher Bammel und gleich reißen sie aus. Ich gehe auf den Halbkreis an Personen zu, Oberkörper leicht gebeugt, Gewehr auf Bauchnabelhöhe nach vorn gestreckt. Warum gehen die nicht weg, denke ich. Die Entfernung mag jetzt noch etwa vier Meter gewesen sein und ich stand schon leicht inmitten des Halbkreises. Mir schlagen dieselben Rufe entgegen und ich rufe zurück. Ich frage sie, wer sie sind und was sie von mir wollen. Dieser fruchtlose Rufwechsel wird noch einmal wiederholt, da höre ich links hinter mir einen Knall, der meine Ohren zum Pfeifen bringt. Zeitgleich kippe ich schräg nach vorn und schlage mit voller Wucht auf meine linke Seite.
Ich blicke mit angewinkeltem Kopf auf meine Hände, die an den vor der Brust liegenden Armen ein wenig Erde greifen. Das Gewehr liegt etwa parallel neben mir, und meine Finger können es gerade so nicht erreichen, aber es wäre sowieso vergebens gewesen, denn ich fühle mich vollkommen gelähmt und kann nichts bewegen. Im Bereich vor meiner Kehle beginnt sich erschreckend rasch eine Blutlache aus hellem, blasigen Blut zu bilden, die sich farblich stark von der dunklen Erde abhebt. Für einen schaurigen Moment fühlt sich das alles großartig an, und es gibt nichts außer mir und dem Tod. Ich atme die kalte Luft, fühle die kalte Erde und das angenehm warme Blut, das mir über den Hals läuft.
Für wenige Augenblicke habe ich mein Schicksal akzeptiert und hätte so sterben können. Das Gefühl verfliegt rasch und als erste neue Empfindung richtet sich Schmerz ein. Der ist nicht besonders schlimm, aber er holt mich aus meiner Starre und regt den Kopf an. In kürzester Zeit überfliege ich die Lage, die sich unversehens so grundlegend geändert hatte. Das Gesindel hat also Schusswaffen dabei und mir ohne Vorwarnung direkt auf den Kopf geschossen. So etwas Niederträchtiges habe ich nicht erwartet. Ich weiß nicht, was das für eine Verletzung sein kann. Ich sehe nur, dass ich immer mehr Blut verliere. Wo zum Teufel ist die verdammte Polizei?! Sie haben mich erlegt, jetzt kann ich nur noch auf Gnade hoffen.
Ich versuche, laut um Hilfe zu rufen, aber meine Stimme klingt zu tief und kratzig und einfach erbärmlich. Ich rufe und rufe und erwarte von den Personen um mich her eigentlich wenig Hilfe. „Ich verblute“, rufe ich nochmals, aber die Gruppe kommt nur wenig in Bewegung. Einer kommt zu mir und tritt mir auf die Hand. Ein paar andere kommen hinzu. Einer will mein Gewehr aufheben, aber ein anderer rät ihm, er möge es lieber liegen lassen. Jetzt beginnt einer, meine Kleider von oben bis unten mit einem Messer komplett aufzuschlitzen, sodass ich jetzt bis auf meine Unterhose völlig nackt auf dem Feld liege. Ich werde abgetastet und ein Mann sucht in meiner Unterhose nach etwas, das er offensichtlich nicht findet. Er reibt mir vielfach am Oberschenkel und am Penis, aber hört irgendwann auf und stellt sich wieder hin.
Völlige Ratlosigkeit herrscht darüber, wie man mit meiner Verletzung umgehen soll. Die Truppe vertritt die Meinung, ich sei einfach so umgekippt und hätte mir an einem Stock den Hals in der Nähe vom Unterkiefer aufgestochen – die Tatwaffe kann allerdings niemand finden. Wie ich so munter weiterblute, wird der Rat fortgesetzt, in dem jeder seine fachliche Meinung darlegt.
Der Gewinner der Debatte ist einer, der sagt: „Wir müssen etwas hineinstopfen.“ Ich bekomme also einen Verband, der mehr schlecht als recht hält, ich werde von mehreren Leuten hochgezogen und mir werden hinter dem Rücken Handschellen angelegt. So tragen mich die Typen mehr oder weniger etwa sechzig Meter zur Straße vor, wo viele schwarze Sprinter und VW-Busse stehen.
Ich werde in ein Fahrzeug hineingestopft, in dem mir ein Mann mit Neonweste und einer Armbinde mit der Aufschrift „Medic“, der ansonsten auch vollkommen vermummt ist, gegenübersitzt. Das Fahrzeug ist in etwa wie ein Krankenwagen eingerichtet und ich komme langsam zu der Annahme, dass ich tatsächlich von der Polizei festgenommen wurde, wenngleich das eigentlich verrückter als die Annahme ist, es seien Extremisten. Bis ich ganz und gar zur Gewissheit gelange, dauert es allerdings noch eine ganze Weile.
Der Hilfsarzt oder Polizeisanitäter will zuerst wissen, wo ich verletzt bin. Ich gebe ihm röchelnd eine Antwort und seine Kollegen ergänzen ihre Erkenntnisse über den Stock. Mir wird ein neuer Verband angelegt. Er sitzt nicht viel besser als der erste, aber ziemlich straff und zieht meinen Unterkiefer mit einem seltsamen Druck zusammen. Ich kann nur noch schief beißen, habe aber im Gesicht keine Schmerzen. Dagegen zieht sich meine rechte Schulter ganz schrecklich zusammen und ich könnte bald weinen vor Schmerz.
Ich frage immer wieder, ob man die Handschellen auch vor den Körper nehmen kann, aber das erreicht die Gehörschwelle der mich umgebenden Krieger nicht. Erst nach langanhaltendem und würdelosem Gejammer meinerseits werden die Handschellen endlich nach vorne genommen und die Schmerzen aus der Schulter vergehen zum Teil. Mir werden jede Menge personenbezogene Fragen nach Alter, Name, Versicherung und weiteren Dingen gestellt. An dieser Fragerunde kann ich mich nur halbherzig beteiligen, weil sich in meinem Rachen-Halsbereich immer mehr blutiger Schleim ansammelt, den ich weder schlucken noch ausspucken kann.
Nach einer gewissen Zeit werde ich aus dem Wagen wieder herausgeholt, wobei mir der wichtige Hinweis gegeben wird, ich möge keine Faxen machen. Ich werde zu einem echten Krankenwagen gebracht, in dem ich auf die Trage gelegt werde. Da ich keine Kleidung mehr habe, wird mir eine Foliendecke übergezogen. Die Polizei wiederholt ihre Stocktheorie, und die Sanitäter wechseln den bereits durchgebluteten Verband zu einem wieder etwas besser anliegenden Exemplar.
Obwohl ich die mich umgebenden Vorgänge, soweit ich glaube, mitbekomme, fordert die Atemnot den größten Teil meiner Kraft. Ich bekomme keinen sauberen Zug Luft ohne Schleim; Blut und Speichel versperren immer wieder die Atemwege. Das Absauggerät wird zu meinem besten Freund und verschafft eine gewisse Linderung, aber die Atemwege schwellen langsam zu, bis sie in einigen Stunden den Durchgang von Luft nicht mehr zulassen werden, aber so weit sind wir jetzt noch nicht. Zuerst warten wir im Krankenwagen noch auf zwei Beamte des BKA, denn vorher können wir nicht ins Krankenhaus fahren.
Es dauert lange, bis die beiden kommen, sich vor mich in den Wagen stellen und mir mitteilen, dass ich festgenommen bin. Das ist eine Erkenntnis, die ich ohne die ausgereifte Weisheit dieser beiden Beamten wahrlich niemals hätte bekommen können. Ohne also auch nur eine Spur darüber informiert zu sein, was genau ich verbrochen haben soll, kann nun zumindest der Krankenwagen losfahren. Erst noch eine umfangreiche strategische Beratung, wer vorfahren dürfe und ob Blaulicht an oder aus sein solle (es soll an sein), geht es in die Uniklinik der nächsten Großstadt.
Im Krankenhaus angelangt, werde ich unter schwersten Sicherungsmaßnahmen an einen Rollstuhl gekettet und, von einer halben Schulklasse an Vermummten begleitet, durch das Gebäude gefahren. Hier erfolgte ein interessanter Einblick in die Diagnostik und den Wert einer richtig erfassten Unfallursache. Die These vom Stock ist bei der Polizei mittlerweile zu Lehrmeinung herangewachsen und wird wiederum den Schwestern und Ärzten weitergegeben. In Kurzform lautet die Einschätzung: Er ist umgekippt und ungebremst zu Boden gestürzt. Dabei hat er sich den Kiefer verletzt, und womöglich mit einem Stock den Mundraum aufgestochen.
Das medizinische Personal nimmt das zunächst so hin, und schickt mich zum Röntgen meines Gesichtsbereiches. Die Einstellung ist etwa von meinen Augen bis herunter zum Schulterkamm. Wie wir aus dem Raum herausgehen, wird die Tür wieder aufgezogen. Ein Arzt tritt heraus und sagt, dass er noch einmal tiefer röntgen will, weil er etwas gesehen hätte. Das führt zu einer kurzen Verwirrung unter den Vermummten, die aber nachgeben und mich wieder in den Raum lassen.
Mir ist unterdessen alles einerlei. Mein Stresslevel steigt kontinuierlich aus Angst vor dem Erstickungstod an, und ich versuche, meine Luft so gut einzuteilen, wie es eben geht. Die zweite Bildgebung ist offensichtlich zufriedenstellend, und so ziehen wir wieder durch das Krankenhaus; ich zuerst, gefolgt von einer Menge an Bewaffneten.
Ich werde in ein Krankenzimmer geschoben und vor dem Bett in meinem Rollstuhl abgestellt. Ich frage, ob ich auf Toilette gehen kann und darf das nach kurzer Beratung tatsächlich. Ich schleiche wie ein Großvater in das Bad und sehe mich erstmals im Spiegel: Ich bin nur in Unterhose und dreckig von der Erde, der Verband an meinem Unterkiefer ist längst wieder durchgeblutet, und es zieht sich von meinem Hals bis herunter zu meiner Unterhose ein breiter Streifen aus geronnenem und frischem Blut. Ich wische mit Papiertaschentüchern auf meiner Brust frisches Blut weg, doch es fließt durch die Armbewegung direkt neues nach, daher lasse ich das und setze mich auf die Kloschüssel.
Mein Blut tropft zu Boden, während ein Vermummter in die Tür tritt und mir mitteilt, ich solle etwas hinmachen. Als ich fertig bin, meine Hände gewaschen habe und wieder am Bett sitze, kommt eine Ärztin in das Zimmer hinein und stellt sich vor mich, während ich resigniert schräg vor mir auf den Boden blicke. Ich brauche erst einen Augenblick, um zu merken, dass die Frau von mir etwas wissen will. Ich schaue sie an und sie beugt sich etwas zu mir vor und fragt mich mit erregter Stimme: „Haben die auf Sie geschossen?“
Ich bin verwirrt über diese Frage und befürchte, dass die Stockhypothese ihre Zeit in der Wissenschaft beendet hat. Ich schaue zu den zwei Vermummten, die mit in dem kleinen Raum stehen, regungs- und teilnahmslos, als seien sie antike Tempelwächter. Wie ich die beiden ansehe, suche ich meine Stimme und sage knapp, was ich wusste: „Da war ein Knall links neben mir, und ich konnte mich nicht mehr bewegen, dann bin ich zu Boden gestürzt – ich weiß nicht, ob jemand geschossen hat… ich habe es nicht gesehen.“
Die Frau verlässt mich wortlos und tritt vor die Tür, wo sich eine Debatte zwischen ihr und irgendwelchen Beamten entspannt. Die denkwürdige Bitte des Beamten ist es, mich verbinden zu lassen und transportfähig zu machen, da man eigentlich noch nach Karlsruhe zum Bundesgerichtshof mit mir wolle. Diesem Gedanken lässt die Ärztin allerdings keinen Raum und teilt mit, dass das völlig ausgeschlossen sei, denn ich müsse demnächst höchstwahrscheinlich operiert werden. Sie sagt, dass man vorher noch ein MRT benötige, und die Beamten unterwerfen sich, offensichtlich unzufrieden, dem klaren Urteil.
Die Klassenfahrt geht also weiter, und ich werde zum MRT gefahren. Bei mehr Interesse hätte ich sicherlich den Großteil des Krankenhauses kennenlernen können, aber ich schaue meist zu Boden oder versuche zu ruhen. Als ich in die Röhre gelegt werde, hält mich ein Pfleger an der rechten Schulter, und ich spüre erstmals, wie ein stechender Schmerz von dort ausgeht. Ich liege nun in der engen Röhre und die Bildgebung beginnt. Ich versuche krampfhaft stillzuliegen, aber bei jedem Atemversuch röchelt es, und ich muss viel husten, ohne dass das geholfen hätte. Das MRT muss wiederholt werden, und ich versuche vergeblich, mich zusammenzureißen. Es scheint diesmal zu reichen.
Die Fahrt geht wieder hin und her. Zuletzt erreichen wir den OP-Saal, und es zeigt sich, dass, je länger ich im Krankenhaus bin, desto mehr Interesse meinem Fall zukommt. Das merke ich daran, dass die Wartezeiten immer kürzer werden. Die Vermummten streiten sich soeben mit einem Arzt, weil sie bei der OP dabei sein wollen, wegen des Fluchtrisikos. Dieser äußert seine Bedenken um Kontamination, meint aber, dass sie bestimmt eine Lösung fänden.
Ein Chirurg tritt vor mich und erklärt, was sie jetzt vorhaben: „Ihr Unterkiefer ist stark fragmentiert. Wir werden die Knochenstücke richten und den Unterkiefer durch eine Titanplatte, Schrauben und Draht in seine alte Form bringen. Das Projektil, das Ihren Unterkiefer zerschlagen hat, wurde nach dem Durchschuss abgelenkt und steckt jetzt in Ihrer rechten Schulter. Dieses werden wir entfernen und anschließend alles vernähen. Der Eingriff wird mehrere Stunden dauern, aber sie werden davon nichts mitbekommen.“
Ich werde mittlerweile auf einer Rolltrage zu einer Anästhesistin geschoben, die mich über die Narkose belehrt. Nach einer Weile legt sie mir die große Gesichtsmaske auf und ich atme den Dampf ein, der mir wieder Atemnot beschert. Ich warte noch darauf, dass ich von zehn aus abwärts zählen soll, wie ich es aus Arztsendungen kenne, aber ich bin weg, bevor die Frage kommt.
Eine Narkose ist schon eine seltsame Sache. Ich hätte vermutet, dass man unter der Narkose trotzdem etwas von der OP mitbekommt, aber da war überhaupt nichts. Es wäre unter anderen Umständen der perfekte Tod – ohne Schmerzen und ohne genau zu wissen, wann er eintrat. Der Tag begann für mich kurz vor sechs Uhr und endet jetzt ca. 14.15 Uhr. Ich werde am darauffolgenden Tag früh gegen vier aufwachen, aber es wird sich anfühlen, als wäre keine Sekunde vergangen.
deutscheridentitaerer
Ich gebe zu, ich war skeptisch angesichts der Einleitung. Denn jeder weiß, dass es von der seriösesten Person im rechten Lager nur zwei Bekanntschaften weiter braucht, um bei einem gestörten Psycho zu landen, dem man jedenfalls im Prinzip jede terroristische Tat zutrauen würde. Insofern passte das ganze Siege-Zeug und österreichische Naziclans ganz gut ins Bild. Aber dieser Bericht ist wirklich großartig und man merkt, Hättasch ist nicht einer der Guten, sondern einer der Besten.