Zu diesem Zweck sollten sich nach bundesdeutschem Vorbild die Wahlverlierer zusammenaddieren, um eine mehrheitsfähige Koalition aus ÖVP, SPÖ und NEOS (9,1%) zu bilden. Dieses Manöver war von Anfang an so unpopulär, daß die Umfragewerte für die FPÖ rasch höher waren als das Wahlergebnis.
Jedem mitdenkenden Menschen war klar: Selbst wenn es gelingen würde, ein derartige Regierung auf die Beine zu stellen, so würden sich diese rasch als äußerst wacklig erweisen. Die nächsten Wahlen würden mit Sicherheit nicht erst in fünf Jahren stattfinden, Nettosieger wäre Herbert Kickl, der von dem erwartbaren Versagen seiner Verhinderer enorm profitieren würde.
Daß dieses ganze Gebilde bereits in der Aufbauphase zusammenbrechen würde, hätte ich allerdings auch nicht erwartet.
Es begann am 3. 1. mit dem Ausstieg der NEOS (eine extrem überflüssige Partei; immerhin hatte ihre Chefin Meinl-Reisinger offenbar keine Lust, der ÖVP als bloßes Mehrheitenfüllsel zur Verfügung zu stehen) aus den Verhandlungen, dem am nächsten Tag der Absprung der SPÖ bzw. der Abbruch der Verhandlungen durch die ÖVP folgte, offenbar weil die Sozialisten auf der Durchsetzung höherer Steuern bestanden (dies auch konträr zu Kickls Programm). Nehammer hat sich in einer Videobotschaft zu Wort gemeldet.
Es ist augenscheinlich, dass die destruktiven Kräfte in der SPÖ die Oberhand gewonnen haben. Die Volkspartei kann und wird kein Programm unterschreiben, das wirtschaftsfeindlich, wettbewerbsfeindlich und leistungsfeindlich ist”, sagt der ÖVP-Chef. Die Volkspartei habe hier immer mit offenen Karten gespielt. (…) “Mit uns gibt es keine Bevormundung, keine Zerstörung von Arbeitsplätzen und keine Vernichtung von Wohlstand”, sagt Nehammer. Er habe immer deutlich gesagt, Vermögens- und Erbschaftssteuern nicht zuzustimmen, so Nehammer: “Ich halte mein Wort, solche Steuern schaden unserem Land.
Das bedeutete jedoch, daß es nur mehr zwei Möglichkeiten gab: Entweder würde die zweitstärkste Partei ÖVP in den sauren Apfel beißen, und sich erstmalig in der Geschichte der 2. Republik als Juniorpartner den Blauen anbieten, oder es würden Neuwahlen angesetzt werden.
Letzteres hätte der FPÖ wahrscheinlich astronomische Ergebnisse verschafft und die Position der Türkisen (inzwischen wohl wieder “Schwarzen”) noch mehr geschwächt; ersteres war mit der Person des Kickl-Intimfeindes Nehammer nicht möglich.
Bevor es zum letzten Akt, Nehammers Rücktritt als Bundeskanzler und Parteiobmann, kam, tauchte noch der Kaschperl auf der Bühne auf, um für ein paar Lacher zu sorgen: das Gespenst einer Rückkehr von Sebastian Kurz als Retter der ÖVP.
Bereits einen Tag nachdem dieses Gerücht medial die Runde gemacht hatte, veröffentlichte die Kronen-Zeitung das Ergebnis einer Blitzumfrage, wonach 71% der Befragten gegen ein solches Comeback wären (und 37% FPÖ wählen würden, “wenn am kommenden Sonntag Wahlen wären”).
Sollte dies in ÖVP-Kreisen ernsthaft überlegt worden sein, so mag das ein Zeichen für die Verzweiflung sein, die dort geherrscht haben muß. Kurz konnte 2017 die ÖVP mit einem “FPÖ-light”-Programm und einem flotten Auftreten in die Regierung hieven; heute will ihn niemand mehr.
Nehammer mußte sich also endlich seine Rundum-Niederlage eingestehen. Kickl hatte diesem morschen Baum längst den tödlichen Axthieb versetzt; Nehammer konnte seinen unvermeidlichen Sturz nur noch um ein paar Monate Galgenfrist hinauszögern.
Nun hatte auch Bundespräsident Van der Bellen keine andere Wahl mehr, als das zu tun, was er bereits im Oktober hätte tun sollen: Kickl mit der Regierungsbildung beaufzutragen. Er begründete dies unter anderem mit den Worten:
Der Respekt vor dem Wählervotum gebietet es, dass der Bundespräsident die Mehrheit achtet, die sich im Nationalrat findet oder eben nicht findet.
Eine gewisse Rechtfertigung für sein Vorgehen im Oktober hatte Van der Bellen allerdings: Sowohl Nehammer als auch SPÖ-Chef Babler hatten kategorisch abgelehnt, mit Herbert Kickl zusammenzuarbeiten. Hier wäre also von Anfang an eine Patt-Situation gegeben gewesen.
Der Knackpunkt war die Person Karl Nehammers. Eine Koalition mit der SPÖ unter Babler wäre auch aus Kickls Sicht undenkbar gewesen, eine Koalition mit der FPÖ unter Nehammer hätte bedeutet, daß dieser die ultimative Demütigung hätte hinnehmen müssen, seinem langjährigen Erz- und Intimfeind die Steigbügel zu halten.
Hinzu kommt, daß Nehammer für viele Wähler immer noch ein prominenter, exemplarischer “Täter” des unverziehenen Corona-Regimes ist – zuerst als Innenminister, der für die Repression der Proteste zuständig war, dann als Bundeskanzler, dem ab Dezember 2021 der “schwarze Peter” zufiel, die extrem polarisierende, dabei kaum durchführbare Impfpflicht durchsetzen zu müssen (die ebenfalls über weite Strecken “von innen” zusammengebrochen ist).
Nun haben aber ÖVP und FPÖ wesentlich mehr politische Programmpunkte und Tendenzen gemeinsam als ÖVP und SPÖ. Die Front “Kickl verhindern” hat nicht ausgereicht, um eine Einigung zu erzielen, und das lag auch daran, daß diese Parteien mitsamt den NEOs nur deshalb zusammengewürfelt wurden, um Kickl zu verhindern (und letzten Endes Nehammers Gesicht zu wahren, denn vermutlich hätte die Mehrzahl der ÖVP-Wähler schon im Oktober lieber eine Koalition mit der FPÖ als mit den Sozis gewünscht.)
Nachdem der Nehammer-Krampf endlich aufgelöst war, stand flugs ein Mann der alten, “schwarzen” ÖVP zur Stelle, um den Bundeskanzler und Parteiobmann (interimistisch) zu ersetzen, ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker (Jg. 1960).
Dieser bot sich gleich in seinem ersten Statement Kickl als Partner an, in einem Tonfall, der fast schon nach Aufatmen klingt:
Ich begrüße die Entscheidung des Bundespräsidenten, den Obmann der stimmenstärksten Partei morgen in der Hofburg zu treffen, und ein Gespräch zu führen. Ausdrücklich. Denn so wie unser Bundeskanzler bereits in der Vergangenheit mehrfach betont hat [ mußte herzhaft lachen. – M.L.], erwarte auch ich mir, daß der Obmann der stimmenstärksten Partei mit der Bildung einer zukünftigen Bundesregierung betraut wird.
Das ist äußerst amüsant angesichts etlicher garstiger Dinge, die Stocker in der Vergangenheit über Kickl gesagt hat:
Im Parlament sagte Stocker zuletzt in Richtung des FPÖ-Parteichefs etwa: „Es ist nicht nur so, dass Sie in diesem Haus niemand will, es ist auch so, dass Sie in dieser Republik niemand braucht!“ (…) Nach dem ORF-Sommergespräch 2024 attestierte Stocker dem FPÖ-Chef, dass ihm „jegliches Format für einen Kanzler“ fehle. Er sei „ein Sicherheitsrisiko“ und „ein Wendehals“. Und: „Die Wahrheit ist: Kickl ist ein radikaler Verschwörungstheoretiker.“
Überhaupt sei Kickl „gefährlich“ für die Demokratie. Denn er wolle „ein Volkskanzler sein, haben aber Verbindungen zu den Volksverrätern“. Die FPÖ sei der Russland-Trojaner in Österreich, sagte Stocker in einer Aussendung im April des Vorjahres und versprach: „Als Volkspartei werden wir nicht zulassen, dass Kickl jemals wieder die Sicherheit der österreichischen Bevölkerung gefährdet.“
Kickl hat nun sehr gute Karten. Die nunmehr nehammerfreie ÖVP zeigt sich überaus begierig, mit ihm ins Bett zu steigen, offenbar aus der Erwägung heraus, daß es nun keine andere Möglichkeit mehr gäbe, sich “oben”, an der Macht zu halten.
Die “Eleganz und Schönheit” dieser vollendeten Selbstdemontage der Wahlverlierer und Kickl-Verhinderer resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, daß Kickl selbst dazu keinen Finger rühren mußte. Ab dem Zeitpunkt, an dem Van der Bellen Karl Nehammer mit der Regierungsbildung beauftragt hatte, mußte er sich nur zurücklehnen, eine Popcorntüte aufreißen und das Kino genießen.
Es ist eine große Freude und Befriedigung, miterleben zu dürfen, wie sich Vertreter dieses Systems aufgrund ihrer eigenen Inkompetenz und Starrköpfigkeit von selber zerlegt und blamiert haben.
Noch ist Kickl aber nicht Kanzler. Auch diese Verhandlungen könnten scheitern, und vielleicht werden bei etwaigen Neuwahlen die Karten wieder neu gemischt. Manche meinen zum Beispiel, eine SPÖ unter Rudi Fussi könnte erfolgreicher werden als der momentane abgehalfterte Laden unter dem verstockten Neomarxisten Babler, der sich von realitätsfremden Antifa-Knallfröschen wie Natascha Strobl beraten läßt.
Und selbst wenn es Herbert Kickl tatsächlich gelingen sollte, Bundeskanzler zu werden, liegen harte Arbeit und hohe, schwer zu überwindende Hürden vor ihm. Ein drittes “Schwarz-Blau” darf nicht eine weitere enttäuschende Episode im immergleichen Weitergewurschtel werden, sondern muß grundlegende strukturelle Veränderungen anstossen und durchsetzen.
Sonst können die Probleme unseres Landes nicht gelöst werden.
MARCEL
Zu hoffen wäre es!
Mittlerweile glaube ich, dass wir an Grenzen politischer Handlungsfähigkeit gekommen sind. Beispielsweise hört man von G. Wilders in den Niederlanden nichts mehr. Und Meloni? Und bald Trump?
Irgendwann ist es einfach zu spät, insbesondere in Westeuropa.
Es sind nicht mehr "nur" Probleme, es ist eine ganze Struktur entstanden, die herkömmliches politisches Handeln kaum mehr zulässt.
Vielleicht sehe ich zu schwarz, aber meine Abneigung gegen Parteipolitik (rechte inbegriffen) sitzt tief.