Um zu verdeutlichen, warum, und was Eggers mit dem Stoff gemacht hat, muß ich ein wenig ausholen.
Das bahnbrechende Original aus dem Jahr 1922 zählt zu meinen ewigen Lieblingsfilmen. Ich sah die “Symphonie des Grauens” zum ersten Mal im Herbst 1989 spätnachts im österreichischen Fernsehen, im Rahmen der damals legendären Sendeleiste “Kunst-Stücke”, moderiert von Quadratkopf Dieter Moor, der sich heute unerklärlicherweise “Max” Moor nennt. Ich besitze noch die originale VHS-Kassette, auf der ich die Ausstrahlung aufgezeichnet habe.
Damals wurde die von Enno Patalas restaurierte Fassung aus den achtziger Jahren gezeigt, mit einer neu komponierten, fantastisch guten Filmmusik von Hans Posegga (die ich der Originalpartitur von Hans Erdmann vorziehe). Leider wurde diese Version (meines Wissens) bislang nicht auf DVD veröffentlicht.
Seither habe ich den Film wohl an die vierzig Mal gesehen, darunter etliche Male im Kino mit Live-Musikbegleitung (auf Youtube gibt es mehrere Versionen, eine qualitativ gute mit deutschen Titeln z. B. hier.)
Über diesen enorm einflußreichen Film wurde so viel geschrieben, daß ich mir hier die großen Worte ersparen kann. Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens ist so etwas die Ur-Mutter aller Vampirfilme, wenn nicht (zusammen mit Das Cabinet des Dr. Caligari und Der Golem, wie er in die Welt kam von 1920) des Horror-Genres überhaupt.
Kaum ein Blutsaugerstreifen, der sich nicht in irgendeiner Form an ihm bedient hätte, ob nun direkt oder über bewußte und unbewußte ikonographische Genealogien. Zugleich ist Nosferatu einer der ganz wenigen Stummfilme, die heute noch, nach über hundert Jahren, einem größeren Publikum geläufig und zugänglich sind.
F. W. Murnau (1888–1931) gilt als einer der Giganten des frühen Kinos. Er hat eine Vielzahl bedeutender und einflußreicher Werke hinterlassen – Der letzte Mann, Faust, Sunrise oder Tabu. Murnau, sein auf Phantastik spezialisierter Drehbuchautor Henrik Galeen und der geheimnisumwitterte Produzent Albin Grau, der auch für das optische Design hauptverantwortlich war, verlegten den viktorianischen Roman Dracula (1897) von Bram Stoker in ein hoffmanneskes Biedermeier-Deutschland, in eine fiktive, am Meer gelegene Stadt namens Wisborg, im Film eine Mischung aus Originalschauplätzen in Wismar und Lübeck.
Galeens Drehbuch reduzierte das Figurenensemble des Romans auf drei Hauptgestalten, denen er neue Namen gab: Dracula/Orlok, Jonathan Harker/Hutter und seine Verlobte Mina/Ellen. Der seinem untoten “Meister” verfallene, wahnsinnige Insektenfresser “Renfield” taucht als Häusermakler Knock wieder auf, die Van Helsing-Rolle hat zumindest ein leises Echo in der Gestalt des “Paracelsianers” Dr. Bulwer (benannt nach dem Romancier Bulwer-Lytton) auf, der allerdings kein Vampirjäger ist.
Nachdem Orlok an Bord eines von Geisterhand gesteuerten Schiffes, dessen ganze Besatzung er nach der Reihe getötet hat, in Wisborg ankommt, weicht die Handlung stark vom Original ab: Aus den Kisten mit verfluchter Erde “von den Äckern des schwarzen Todes” entsteigen Heerscharen von Ratten, die in der Stadt eine Pestepidemie auslösen.
Als Hutters Braut Ellen in einem von ihrem Verlobten aus Transylvannien mitgebrachten Buch “Von Vampyren, erschröcklichen Geistern, Zaubereyen und den sieben Todsünden” liest, daß nur ein “sündlos Weib”, das sich dem Vampir hingibt und ihn den ersten Hahnenschrei vergessen macht, den Bann brechen kann, beschließt sie, sich zu opfern, um das große Sterben zu beenden.
Galeens Bearbeitung des Romans ist schlichtweg genial. Aus dem teilweise etwas verworrenen und verschachtelten Plot des Originals destilierte er ein schaurig-romantisches Märchen, in dem die weibliche Hauptfigur, bei Stoker nicht mehr als ein passives Opfer, durch die Kraft ihrer Liebe zur Heldin wird.
Er schuf einen “germanisierten” Alternativ-Dracula, der seither ein legitimes Eigenleben an der Seite des angelsächsischen Originals führt, das erst 1930 mit Bela Lugosi in der Hauptrolle unter seinem Originaltitel verfilmt wurde (allerdings auf der Grundlage eines damals populären Theaterstücks, nicht des Romans selbst).
Murnau/Galeen/Grau kreirten darüberhinaus einen Vampir-Typus, der in der Popkultur bis heute überdauert hat: Hager, glatzköpfig, mit spitzen Ohren, rattenartigen Vorder- statt Eckzähnen, spinnengleichen Händen mit langen Krallen und einer Körperhaltung und Motorik, als hätte bereits die Leichenstarre eingesetzt – das ist “Nosferatu”, nicht “Dracula”.
Gespielt wurde er von einem enigmatischen Schauspieler, der passenderweise Max Schreck hieß, und der allein aufgrund dieser einen Rolle heute noch bekannt ist. Dank ihm ist Nosferatu der einzige Film, in dem ich jedesmal von Neuem glaube, einen tatsächlichen Vampir zu sehen (eine Idee, die 2000 für den eher enttäuschenden Film Shadow of the Vampire aufgegriffen wurde).
Diesen merkwürdigen Eindruck des “Authentischen” haben unzählige Zuschauer des Films empfunden, paradoxerweise umso mehr, wenn das erste Schauerlebnis eine ausgewaschene Kopie der xten Generation im Fernsehen oder auf einer VHS-Kassette war. Auch Robert Eggers hat es als Kind so erlebt.
Der Typus “Nosferatu”, ein animalischer Verwandter der Ratten und Fledermäuse, dem kaum mehr etwas Menschliches anfhaftet, ist weit entfernt von den späteren verführerischen Grafen wie Bela Lugosi, Christopher Lee und ihren zahllosen Erben oder den erotischen Rockstars aus den Romanen von Anne Rice. Er hat sich als reizvolle Alternative erhalten, und tauchte unter anderem auch in der Stephen-King-Verfilmung Salem’s Lot von 1979 (und ihrem “diversifizierten” Remake von 2024) auf.
Im selben Jahr drehte Werner Herzog ein Remake mit Klaus Kinski in der Titelrolle, sekundiert von Bruno Ganz (Hutter/Harker) und Isabelle Adjani (Ellen/Mina/Lucy) unter dem Titel Nosferatu – Phantom der Nacht. Diese Version basiert also nicht (oder nur indirekt) auf Bram Stoker (obwohl die Hauptfiguren im Gegensatz zu Galeens Adaption ihre Originalnamen tragen), sondern auf dem Film von Murnau.
Herzog hat dessen Bildkompositionen und Inszenierungen mehr oder weniger kopiert, in Farbe, und mit Schauspielern, die teilweise im Stummfilmstil agieren und die Gesten ihrer Vorgänger von 1921 exakt wiederholen. Andere Szenen wiederum hat er spielerisch variiert und modifiziert.
Phantom der Nacht ist also eher ein “Re-enactment” als ein Remake von Symphonie des Grauens. Dahinter steckt wohl ein bißchen die Idee, ein Filmkunstwerk wie ein Musikstück nachzuspielen und zu variieren (Gus van Sant hat es 1998 noch extremer, aber mit geringem Erfolg mit Hitchcocks Psycho versucht.)
Wie sein Vorbild Murnau zog Herzog die atmosphärische Magie aus Originalschauplätzen, die zum Teil die gleichen sind, etwa die Hohe Tatra in der Slowakei und die Lübecker Salzspeicher, die im Film dem Vampir als artgerechte Behausung dienen. In Wismar zu drehen war nicht möglich, da es nun auf DDR-Staatsgebiet lag, stattdessen dienten die Kanäle des holländischen Delft als Kulisse für die fiktive deutsche Biedermeierstadt.
Auch Herzogs Film, effektvoll untermalt mit dem Vorspiel zu Richard Wagners “Rheingold”, Charles Gounods “Cäcilienmesse” und Klängen der Krautrockband Popol Vuh, atmet den Geist der deutschen Romantik. Es ging dem Regisseur aber auch darum, eine bewußte Verbindung zu 1933 abgerissenen Traditionen des deutschen Films herzustellen, zu den Urvätern des deutschen Kinos wie eben Murnau und Fritz Lang.
Lotte H. Eisner, eine von Herzog religiös verehrte Autorin von einflußreichen Büchern über den “expressionistischen” Film der Weimarer Republik, attestierte ihm generös das Gelingen dieses Vorhabens: „Das ist kein Remake, das ist eine Wiedergeburt.”
Klaus Kinski ist unter dicken Schichten von Makeup wie gehabt virtuos, aber eben doch sichtbar Klaus Kinski und kein geheimnisumwitterter Niemand oder Anonymus, der genauso gut tatsächlich ein Vampir sein könnte. Er gibt dem Grafen Orlok/Dracula eine schwermütige, tieftraurige Note. Anders als Murnaus und Galeens Nosferatu sehnt er sich nach Erlösung von seinem Dasein als ruheloser, hungriger Schatten.
Natürlich wäre Herzog nicht Herzog, wenn er dem Stoff trotz aller Treue zum Vorbild nicht seinen ureigenen poetischen Stempel aufgedrückt hätte – das beginnt schon im Vorspann, in dem echte mexikanische Mumien zu sehen sind. Manche Szenen bewegen sich, nicht zuletzt durch herzogtypische skurrile Nebenfiguren, am Rand der unfreiwilligen Komik, was den Film zur leichten Beute eines unfreundlichen Publikums macht, wie ich (zu meinem Leidwesen) einmal in einer Kinovorführung in Berlin erlebt habe.
Die bedeutendste Abweichung von Murnau ist das “pessimistische” Ende: Graf Dracula wird zwar, hingehalten von der schönen, blassen Frau, die ihm ihr Blut gibt, von den Strahlen der aufgehenden Sonne vernichtet, das von ihm gebissene Opfer Jonathan Harker wandelt sich jedoch zum sonnenlichtunempfindlichen Nachfolgevampir, der in der Schlußszene des Films davonreitet, um das Böse weiter in die Welt zu tragen (ähnlich dem berüchtigen Ende von Polanskis Tanz der Vampire).
Herzogs Film besticht heute durch einen Stil, der dem “Hollywood” damals wie heute komplett entgegengesetzt ist: Lange, statische Einstellungen und ein generell entschleunigtes, geradezu “tranceartiges” Tempo, das dem Zuschauer Zeit läßt, in den filmischen Raum gleichsam “hineinzutauchen”. Die Landschaften und Drehorte sind, was sie sind, allenfalls durch die Beleuchtung verändert und entfremdet.
Nun aber zu Robert Eggers und seiner Bearbeitung des Stoffes. Der Regisseur, Jahrgang 1983, seit seiner Kindheit besessen von Murnaus Film, hat über ein Jahrzehnt lang daran gearbeitet.
Seit seinen ersten Kurzfilmversuchen (etwa “Hänsel und Gretel”, 2007) konzentriert sich Eggers auf das Horrorfilmgenre mit einer dezidiert “nordeuropäischen” Sensibilität. Dies und die Tatsache, daß seine Filmen bislang frei von “Diversity” und “Wokeness” sind, haben ihn zu einem Favoriten der angloamerikanischen dissidenten Rechten gemacht, die nicht müde wird, zu preisen, wie “weiß” Eggers Filme doch seien (siehe etwa hier und hier), obwohl sich dieser selbst natürlich ideologisch in einem völlig mainstreamkompatiblen Rahmen positioniert.
Auch wenn nicht alle seine Filme zu 100% in die “Horror”-Schublade passen, so handeln sie durchweg von düsteren, dämonischen Kräften, die in jedem seiner Filme zu Zerstörung, Tod und Wahnsinn führen. Das Böse gewinnt immer. In The Witch (2015) wird eine puritanische Familie im Neu-England im 17. Jahrhundert von satanischen Hexen korrumpiert und vernichtet, in The Lighthouse (2019) verlieren zwei Leuchtturmwächter im 19. Jahrhundert aufgrund von Isolation, exzessivem Suff und dunklen, okkulten Einflüssen den Verstand.
The Northman (2022) ist zwar ein Wikinger-Film, aber ebenfalls voll mit übernatürlichen Erscheinungen, schamanistischen Delirien und vor allem brachialem Blutvergießen ohne Ende. Die Welt, die er zeichnet, ist zwar von großer optischer Schönheit und mythischer Faszination, hat aber auch etwas Alptraumhaftes und Absurdes in ihrer stumpfsinnigen Fixierung auf Blutrache, Kampf und Totschlag.
Der nihilistische Zug von Eggers’ bisherigen Filmen kulminiert in Nosferatu auf geradezu unüberbietbare Weise (achtung, nun beginnen die Spoiler). Genau hier liegt auch der Grund meines Aberwillens, trotz der unleugbaren Qualitäten der Inszenierung. Der Film ist eine Augenweide: Die Kostüme, die Ausstattung, die Optik, all dies operiert auf einem zuweilen spektakulären Niveau.
Die Handlung folgt größtenteils eng der Murnau-Galeen-Vorlage, kehrt aber in vielerlei Hinsicht wieder zum Urquell Bram Stoker zurück. Gelungen ist vor allem die Titelfigur. Dies war wohl eine der größten Herausforderungen für den Regisseur, denn Vampire sind inzwischen ziemlich ausgelutschte (wenn man so sagen darf) Gestalten, die nicht mehr sehr gruselig sind.
Eggers gibt seinem Grafen den Horror zurück. Wie in der Romanvorlage trägt er einen wuchtigen Schnauzbart, wie ein walachischer Fürst des 15. Jahrhunderts ihn getragen haben mag; und ähnlich wie bei Stoker ist er – im Gegensatz zu den zum Klischee gewordenen Darstellungen seit Lugosi – eine abstoßende, faulige Gestalt, in der Tat ein buchstäblich lebender Leichnam mit einem verwesenden Körper. Gleichzeitig sind die Züge des “Nosferatu”-Typs deutlich erkennbar. Eggers hat die Figur geschickt variiert, ohne sie zu wiederholen.
Gelungen ist auch, was er mit der Stimme des Vampirs gemacht hat. Sie klingt rauh, tief, metallisch, bleiern, unmenschlich. Orlok muß tiefe, schepperende Atemzüge tun, bevor er spricht, als würde es ihm unendliche Mühe bereiten. Er hat einen starken slawischen Akzent und spricht (so entnehme ich Wikipedia, ich wäre nicht draufgekommen) zuweilen “dakisch”, die Sprache der Ur-Rumänen in der Antike (authentisch antiquierte Sprache ist ein bedeutsames Element in allen Eggers-Filmen).
Ähnlich wie Herzog spielt auch Eggers virtuos mit Versatzstücken von Murnau, seien es Sets, Requisiten, bestimmte Gesten, Bildkompositionen oder optische Motive (wie den über die Wände huschenden Schatten). Wer die deutschen Vorgänger dieses amerikanischen Wiedergängers gut kennt, wird einen besonderen Genuß an Eggers’ lustvoller Hingabe an Details, Zitaten und Variationen haben.
Wo Murnau und Herzog das Unheimliche in der Natur finden, ist Eggers’ digital bearbeitete Welt durch und durch “künstlich”. Ihre Perfektion macht sie aber auch steril. Diese Art von Filmlandschaften und Szenerien wird wohl künftig via KI fabriziert werden.
Das “dämonische” Element wird stark herausgekehrt und betont. Schon Albin Grau, Mitglied des magischen Ordens der “Fraternitas Saturni” und später mit Aleister Crowley bekannt, lies den Häusermakler Knock, der dem Grafen Orlok ein “schönes, düsteres Haus” in Wisborg verkauft, einen Brief seines Klienten lesen, der in einer Geheimschrift aus Sigillien und okkulten Symbolen verfaßt ist. Eggers buchstabiert konsequent aus, was Murnau und Galeen nur andeuten: Knock praktiziert schwarze Magie, um seinen “Meister” nach Deutschland zu rufen.
Es ist bezeichnend, daß sein Gegenspieler, ein Van Helsing mit dem Namen Albin Eberhart von Franz (gespielt von Willem Dafoe, der in Shadow of the Vampire Max Schreck darstellte), der seinen akademischen Ruf verloren hat, weil er sich mit Okkultismus zu beschäftigen begonnen hat, anstelle von Kreuzen, Weihwasser und geweihten Hostien ebenfalls zu magischen Waffen und Bannsprüchen greift, um den Nosferatu zu besiegen.
Von Franz hingegen kommt nicht einmal von ferne auf die Idee, es mit diesen genretypischen Mitteln zu versuchen, die von den wissenschaftlich “aufgeklärten” Vampirjägern der klassischen Filme routinemäßig eingesetzt wurden wie auf Knopfdruck funktionierende Wunderwaffen. Im vampirisch heimgesuchten Deutschland von Robert Eggers gibt es zwar Weihnachtsbäume, aber es sind keine Priester und keine Kirchen zu sehen (im Gegensatz zum archaischen, orthodoxen Rumänien). Ein kleines Kreuz am Hals von Ellens Freundin Anna bietet nicht den geringsten Schutz.
Wie immer gibt es in Eggers Welt keinen Gott und keinen Christus, sondern ausschließlich dämonische, teuflische, magische, übelwollende Mächte, die uneingeschränkt triumphieren.
Auch bei Murnau finden sich im Gegensatz zur späteren Ikonographie des Genres keine Kruzifixe und Hostien (bei Herzog haben letztere zwar noch eine gewisse Bannkraft, sind aber in ihrer Wirkung aber stark abgeschwächt), keine Priester und keine Gebete, auch dann nicht, als die Pest in der Stadt wütet.
Die Frau, die sich opfert, um dem Sterben Einhalt zu gebieten, wird allerdings als “rein” und “sündlos” beschrieben; bereits zuvor hat ihre Liebe, die Raum und Zeit überwindet, in einer der berühmtesten Szenen des Films den Vampir telepathisch zurückgerufen, als er ihrem Verlobten den letzten tödlichen Biß versetzen wollte. Bei Murnau-Galeen ist “die Liebe stärker als der Tod”, auch wenn die Braut des Helden am Schluß stirbt.
Eggers sabotiert diese Idee, indem er einen doppelten Boden einführt, eine dämonische Besessenheit, die die weibliche Hauptfigur zentral motiviert. Aber auch hier kann kein Exorzist mit Gebeten, Weihwasser und Beschwörungen weiterhelfen, auch hier wird es gar nicht erst versucht.
Ellen, mehr noch als bei Murnau zentrale Figur des Films, hat in ihrer Kindheit aus Einsamkeit und Verzweiflung einen Dämon angerufen, der seither von ihr Besitz ergriffen hat und sie in Träumen, Trancen und dunklen Ekstasen heimsucht. Bereits in der allerersten Szene des Films sieht man, wie sie, laut Zwischentitel Jahre vor Beginn der Handlung, ihren “demon lover”, den sie “Schutzengel” nennt, sehnsüchtig herbeiruft, und sich unter bizarren, übernatürlichen, konvulsischen Zuckungen windet, als dieser ihr “Gebet” erhört und von ihr brutal Besitz ergreift.
Der Film hatte kaum angefangen, und ich war bereits verstimmt. Man sah als Einstieg auf 180 Grad, was eigentlich ein Höhepunkt am Schluß sein sollte. Im Grunde war mit dieser Horrorsexattacke alles gesagt, kein Spannungsbogen mehr möglich: Ellen gehört von Anfang an dem Dämon, der sich als identisch mit Nosferatu heraustellt. Er ist im Grunde der Tod selbst. Ihr Ehemann kennt ihre Heimsuchungen, die sie seit ihrer Kindheit verfolgen. Sie erzählt ihm, ebenfalls bereits im ersten Akt, von einem Traum (man kann die Szene im Trailer sehen):
Es war unsere Hochzeit. Als wir uns umdrehten, waren einfach alle tot. Der Gestank ihrer Körper war einfach abscheulich. Vor mir stand… der Tod. Aber ich war niemals so glücklich.
Als sie den letzten, widersinnig-ungeheuerlichen Satz ausspricht, zerplatzen ihre Gesichtszüge in eine seltsame Grimasse voller perverser, schmerzvoller, ununterdrückbarer Freude, während ihr ein nervöses Lachen entschlüpft. Je näher der Vampir heranrückt, umso häufiger verliert sie die Kontrolle über ihren Geist und Körper, der immer wieder zwanghaft in unnatürlichen, obszönen Posen erstarrt, nach dem Modell der von Jean-Marie Charcot am Ende des 19. Jahrhunderts beschriebenen und fotografierten Hysterikerinnen (auch Linda Blairs diabolische Verrenkungen in Friedkins The Exorcist scheinen ein Vorbild gewesen zu sein.)
Eggers ist zwar zu raffiniert, um daraus eine platte freudianische Geschichte über die unterdrückte Sexualität von Frauen in präfeministischen Zeiten zu machen. Dennoch unternimmt er ein paar halbherzige Vorstöße in diese Richtung. Der entsprechende Motiv ist nicht ganz wegzuleugnen, und was der Regisseur daraus macht, ist reichlich konfus.
In vielen Szenen scheint auch ein anderer (Quasi-)Horrorfilm Pate gestanden zu sein, Andrzej Zulawskis Possession aus dem Jahr 1981, ein groteskes Beziehungsdrama, in dem Isabelle Adjani, die Heldin aus Herzogs Nosferatu, ihren entfremdeten Ehemann mit psychotischen Anfällen terrorisiert, während sie ihn mit einem Esoteriker betrügt und heimlich ein schleimiges Tentakelmonster großzieht. Auch in diesem Film verschwinden die Grenzen zwischen psychischen Störungen, Traumvisionen und dämonischen Einwirkungen.
Direkt von Possession scheint etwa eine wirre Szene inspiriert zu sein, in der Ellen ihren Mann in einen histrionisch eskalierenden Streit hineinzieht, an dessen Höhepunkt sie ihn mit den Worten “Du könntest mich nie so befriedigen wie er” provoziert, was ihn auf der Stelle forsch zur Tat schreiten läßt, um diese Schmach nicht auf sich sitzen zu lassen. Das ist eine von etlichen Stellen, in der der Film in eine krasse, selbstzweckhafte Vulgarität abgleitet.
Vampire und Sex, der Biß als Ersatz oder Metapher für den Koitus, das sind nun freilich keinen neuen Motive, sondern alte und fixe Bestandteile des Genres. Sie sind schon im originalen Film präsent, freilich auf unendlich subtilere Weise. Sehnsüchtig streckt die schlafwandelnde Ellen die Arme nach ihrem Geliebten aus, während Murnau mittels Parallelmontage Hutter und den Grafen Orlok gleichzeitig herannahen läßt, den einen zu Land, den anderen zur See. Wer von beiden wird nun ihr Bräutigam werden? Am Ende Orlok, der die Nacht an ihrem Hals saugend verbringt, bis der Hahn kräht und die Sonnenstrahlen ihn zu Staub auflösen.
Eggers hat nun diesen Subtext auf drastische, fast schon pornographische Weise explizit gemacht, bei ihm wird gebissen und gevögelt. Und sonst nichts. Die Natur der Beziehung zwischen Ellen und Nosferatu ist keine schwülstige Gothic-Romanze wie zwischen Gary Oldman und Winona Ryder in der opulenten Dracula-Verfilmung von Francis Ford Coppola aus dem Jahr 1992, die unter dem Slogan “Love Never Dies” beworben wurde.
Es handelt sich vielmehr um eine reine morbide Lust, die durch Angst und Gewalt und Mißhandlung gesteigert wird, um satanische Orgasmen, ähnlich wie sie die junge Hexe am Ende von The Witch erlebt. “Ich bin ein Appetit, sonst nichts”, sagt der Vampir, bevor er Ellen ein Ultimatum von zwei Nächten stellt, innerhalb dessen sie sich ihm freiwillig als seine Braut deklarieren und hingeben muß. In der Zwischenzeit vollbringt er, um sie zu erpressen, noch einige grausame Taten, wie etwa die Familie ihrer Freundin Anna auszurotten (letztere gespielt von einer Schauspielerin, die sich allen Ernstes als “non-binär” bezeichnet).
Erst sehr spät, im letzten Akt, taucht die Idee auf, daß nur das freiwillige Opfer einer Frau den Vampir zerstören (und damit die Pest beenden) kann. Sie wird nicht von Ellen, sondern von Dr. von Franz in einem dämonologischen Buch entdeckt.
Da sich aber Ellen ohnehin danach sehnt, von dem Vampir verzehrt zu werden, ja eigentlich schon seit ihrer Kindheit von ihm besessen wird, verliert ihr Opferakt jegliche Reinheit und Tragik und damit auch romantische Schönheit. Sie opfert sich am Ende nur, weil sie nicht anders kann und nicht anders will, weil es die Erfüllung ihrer geheimsten, tiefsten, dunkelsten Wünsche ist.
Das Opfer und die selbstzerstörerische Verfallenheit an die Tod-und-Sex-Lust, das paßt einfach nicht zusammen. Das Drehbuch stellt sich hier selbst ein Bein. Im Jahr 2024 , 102 Jahre nach Murnau, scheint es offenbar nicht mehr möglich zu sein, eine tugendhafte oder “sündlose” Frau zu zeigen, die sich aus reiner Selbstlosigkeit hingibt. Man würde es als lächerlich, abgeschmackt und ärgerlich empfinden, als reaktionär und frauenfeindlich abkanzeln. Ist das nicht eine Feigheit auf seiten des Regisseurs, daß er dieses Risiko vermieden hat?
Der Film endet also mit einem finalen, blutigen Todessex, der ein Ende hat, als das Tageslicht den Untoten endgültig vernichtet. Die letzte Einstellung zeigt halbtotal von oben das immer noch ineinander verschlungene, nackte, tote Paar, Ellen mit dem massigen, verwesenden Leichnam des nun hoffentlich endgültig verschiedenen Grafen zwischen den geöffneten Beinen, getaucht in ein warmes Sonnenlicht. Erlösung, Happy End?
Wofür haben wir das nun alles gesehen? Gepfählte Menschen und Untote, die Blut kotzen, nekrophile Sexualakte, Tauben, denen die Köpfe abgebissen werden, und, am schlimmsten, kreischende Kleinkinder, die vom Vampir zerrissen und wie Puppen fortgeschmissen werden (ich finde das künstlerisch nicht zu rechtfertigen. Es ist billig und widerwärtig. Wie Hitchcock und Truffaut halte ich das Töten von Kindern im Film für einen “Mißbrauch des Kinos”)?
Unter diesem Grad an Kraßheit geht es offenbar nicht mehr in heutigen Horrorfilmen, aber wirklich zu schocken scheint es auch niemanden mehr (auch mir wird lediglich übel davon). Es ist schon erstaunlich, was man inzwischen alles im Kino als “normal” oder mindestens akzeptabel hinnimmt. Bedurfte es denn wirklich eines neuen “Nosferatu”-Films, um diese Art von ohnehin schon handelsüblicher Kost zu servieren?
Ich habe bereits erwähnt, daß manche Rechte in der Anglosphäre Robert Eggers als Regisseur schätzen, der eine Vorliebe für “europäische” Ästhetik und “weiße” Sujets hat. Das mag schon so sein. Sie übersehen jedoch, daß die Welten, die er zeichnet, durchweg alptraumhaft sind und in ihnen, wie bereits gesagt, der Tod, der Wahnsinn, die Zerstörung und das Böse stets triumphieren (The Northman, der einige positive Elemente enthält, mag dabei noch der am wenigsten beklemmende Film sein). Sie sind Kunstwerke einer späten, ausgehöhlten, sterbenden Zivilisation.
Es ist allerdings nicht nur der Nihilismus und der schlechte Geschmack am Krankhaften und Extremen, der Nosferatu zu einem eher unerfreulichen Erlebnis macht.
Auch wenn Eggers einer der besseren zeitgenössischen Regisseure und einer der letzten Bannerträger der “Arthouse”-Tradition ist, so kranken seine Filme doch am selben Syndrom wie das gesamte heutige Kino: Da ist einerseits der Zwang, pausenlos die ermüdeten und abgestumpften Sensorien des Zuschauers mit Reizen zu beballern, andererseits das kreative Auf-der-Stelle-treten, das pausenlose Recyclen alter Stoffe, Bilder und Filme, ohne etwas wirklich Neues hervorzubringen, während gleichzeitig die technischen Möglichkeiten zur Umsetzung kühnster Visionen größer und (vergleichsweise) billiger sind als je zuvor.
Nosferatu ist eine weitere schal schmeckende Frucht des Zeitalters der Remakes, Reboots, Franchises, Sequels und Prequels, trotz seines gehobenen Anspruches und seiner handwerklichen Meisterschaft. Ein Klassiker wird aus diesem Wiedergänger nicht werden, sondern vermutlich allenfalls eine Fußnote zu den Filmen, die er vampirisiert hat.
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Eine englischsprachige Version dieser Besprechung gibt es auf meiner neuen Substack-Seite.
Ekstroem
"Wofür haben wir das nun alles gesehen?" Ihre Frage, werter @ML beantworten Sie nicht bis unzureichend. All diese Flime, angefangen mit dem von Murnau, haben einen Bezug zu schwarzer Magie. Wer sich das antun möchte, tut das auf eigene Verantwortung. Randbemerkung: Sie erwähnen Hitchcock. Der hat unmittelbar nach der Kapitulation in Deutschland Propadanda-Dokumentationen gemacht (ich vermeide das Wort gefaked), die Teil des Auftakts der Re-education waren. Da haben noch andere spätere Hollywoodgrößen wie Billy Wilder mitgemacht.
ML: Hitchcock hat keine "Propaganda-Dokumenationen" gemacht, das ist ein dummer Fake, den ich immer wieder auf "revisionistischen" Seiten lese. Billy Wilder war schon stärker in "Re-Education"-Aktivitäten involviert. Aber das tut Null zur Sache, was das Werk der beiden angeht.