Wir in der DDR waren ja sozusagen von Staats wegen links, gehörten, so die propagandistische Einrede, zum besseren, dem fortschrittlichen Teil der Welt, der andere erschien uns so diskreditiert wie aggressiv: Vietnam-Krieg, CIA-Pinochet-Putsch in Chile, nukleare Hochrüstung gegen uns, am intensivsten während unserer Kinder- und Jugendzeit, als Ronald Reagan kraftvoll antisozialistisch und antisowjetisch den Kurs bestimmte.
Klar, so simpel stand es um Gut und Böse nicht, nur erschien es einem DDR-Schüler so, der zu einer Zeit Abitur machte, als ein thermonuklearer Krieg wahrscheinlicher schien als dessen Vermeidung, denn wenn all die Waffen schon aufgestellt waren, mußten sie ja irgendwann losgehen, fürchteten wir. Und wie es auch immer stehen mochte: Die Arroganz des Westens uns verlorenen Brüdern und Schwestern Ost gegenüber schwang schon im näselnden Ton der Nachrichtensprecher von ARD und ZDF mit.
Aber wir gingen dann nicht in einem Atomkrieg, sondern in einem friedlich geschlossenen Einigungsvertrag und mit scheinbar generös verteiltem Westgeld unter, und danach sah es ein paar Jahre tatsächlich nach dem Ende der Geschichte aus. Vorher hatte die bipolare Welt manichäische Ansichten bedingt, hüben wie drüben.
Aber Linke im Westen? Freunde unserer verwachsenen DDR, Mitglieder der von der SED ausgehaltenen DKP, Vollbart-Nickelbrillen-Typen mit Lenin‑, Mao‑, Che-Guevara-Postern an den Wänden?
Ja, die gab‘s da offenbar, aber als Ost-Jugendlichen befremdete mich das. Ich fand, die waren bürgerliche Möchtegern-Revoluzzer, Bürgersöhnchen und höhere Töchter, Kinder vermögender Eltern, also gerade keine Arbeiterkinder, zumal es im Westen Arbeiter im dreckigen Blaumann kaum mehr gab, jedenfalls nicht solche wie in den Zwanzigern oder wie bei uns auf dem Bau, in Bitterfeld und in der Lausitzer Kohle.
Abgesehen davon, daß die Arbeiter und kleinen Angestellten im Westen sich an die SPD hielten, diesen nach unserem Geschmack lau-opportunistischen Verein, der gewerkschaftlich immerfort nach Gehaltserhöhungen wimmerte. Sozialdemokraten wollten gleichfalls lieber bürgerlich als proletarisch sein, meinten wir; um Klassenkampf ging’s da nicht mehr, zumal die Kapitalisten ihre Leute so hielten, daß die mindestens VW-Polo fuhren und auf Mallorca urlaubten. Nein, das war kein Proletariat, und es sah physiognomisch auch nicht mehr so aus.
Die DDR entsprach zwar überhaupt nicht ihren politischen Selbstwahrnehmungen und propagandistischen Inszenierungen, aber bürgerlich war sie überhaupt nicht, abgesehen von einer da und dort, etwa in Arzt– oder Akademikerhaushalten gepflegten Lebenskultur und abgesehen auch von ein paar liebenswert antiquiert anmutenden Restbeständen wie auf dem Dresdener Weißen Hirsch.
Bürgerlich zu sein, das fanden wir DDR-Gören ziemlich unerotisch, miefig und überlebt. Bürgerlich war man im Westen, wenn man einen Mercedes hatte, ein weißes Hemd mit eingestickter schwarzer Rose trug und parfümierte Zigaretten rauchte.
Wir quarzten knisternde Russenkippen, Papirossi mit Machorka, die wir uns aus den Läden der sowjetischen Garnisonen besorgten. Das schien uns durchaus antibürgerlich: Papirossi qualmen, Moped fahren, viel Pils und Nacktbaden, in Ferienarbeit Geld für einen Stern-Rekorder verdienen und den Westen, abgesehen von seiner Rockmusik, für geriatrisch und eigentlich überlebt halten, insbesondere den deutschen Westen.
Jene, die dort auf links machten, waren entweder durchgeknallte RAF-Terroristen, deren Botschaft wir nicht begriffen, obwohl sie kraß war, oder Studenten mit miserablem Trainingszustand, die mit ihren ungeschminkten Freundinnen – den heutigen „Omas gegen Rechts“ – Pahl-Rugenstein-Taschenbücher kauften, in denen das Lesezeichen wegen zäher Lektüre dann doch auf den ersten Seiten steckenblieb. Die suchten verpeilt etwas in der Kritischen Theorie und waren überhaupt in allem so theoretisch, während uns das DDR-Leben frisch entgegenschlug, gerade weil es so oder so zur Positionierung zwang.
Wir hatten einfach andere Sorgen: Wie bekommen wir den extremen Armeedienst rum, wie lassen wir die Funktionäre ins Leere laufen, die uns in „die Partei“ holen wollen, wie improvisieren wir uns zwischen offizieller und inoffizieller Lesart so durch, um studieren zu können, ohne uns gänzlich ideologisch vereinnahmen zu lassen? Was viele taten, klar. Aber so waren die Regeln. Wir konnten nicht zu allem nein sagen und dennoch etwas werden wollen … Immer ging es um das Sichern von Spielräumen mitten im vormundschaftlichen Staat.
Was sollte das denn drüben für ein intellektueller Marxismus sein, wenn dort nicht wie bei uns die Menschen nach den Waren anstanden, sondern die Waren nach den Menschen? Wie konnte man dort an dem widerwärtigen Verbrecher Mao etwas finden und dessen Primitiv-Kommunismus feiern, wenn man selbst latent überfressen in einem Hochtechnologie-Industrieland lebte? Und was sollten diese kindischen Gelände- oder Räuber-und Gendarm-Spiele der langhaarigen Möchtegern-Linken mit der Polizei? War das etwa deren Klassenkampf?
Vor dem Hightech- und XXL-Konsum-Kapitalismus drüben hatten wir einen Heidenrespekt, selbst wenn wir uns vorstellten, daß der sich auf Ausbeutung und Verbrechen gründete. Das war immerhin doch ein echter Gegner. Und wenn es wirklich der – nach dem Urteil Lenins – stinkende, parasitäre und vor allem sterbende Kapitalismus war: Wow, was für ein schöner Tod doch, dem wir im Westfernsehen zusahen!
Nur konnten wir DDR-Jugendlichen der Achtziger uns das tatsächliche Absterben des West-Kapitalismus ebensowenig vorstellen wie einen wirklichen „Siegeszug des Sozialismus“, zumal längst durchroch, daß das „Land Lenins“ nicht nur an gruseligen Verfallserscheinungen litt, sondern Millionen Leichen im Keller hatte, die – ganz im Gegensatz zum Intershop-Duft des Gegenwartskapitalismus – wirklich stanken, aber nach denen nie und nimmer auch nur gefragt werden durfte …
Wir sahen unsere Innenstädte zerfallen, selbst wenn wir munter und gut gelüftet mit undichten Fenstern lebten, weil wir’s nicht anders kannten. Spätestens in den Achtzigern war absehbar, daß die Stagnation in den Niedergang überging. „The Doors“ und „Depeche Mode“ zu hören paßte irgendwie dazu … – Noch mehr paßte leider, daß immer mehr von uns ihre Ausreise beantragten und in den Westen verschwanden wie in ein neu gebuchtes Leben.
Nur machte das Erlebnis der finalen Krise des DDR-Sozialismus uns die West-Linken noch unverständlicher, zudem die ja wohl Solschenizyn im Buchhandel fanden, wir selbstverständlich nicht, obwohl wir schon ahnten, daß das, was er schilderte, eben doch kein „hysterischer Antisowjetismus“ war, sondern die reine Wahrheit, die wir, mittlerweile Studenten und junge Arbeiter, zu fürchten begannen.
Mit Gorbatschows Glasnost lag offen: Es ging nicht um Kollateralschäden einer Revolution, sondern um extremste Geschichtslügen und systemimmanente monströse Verbrechen. George Orwells „Farm der Tiere“ war bei uns auch nicht zu bekommen, aber ja wohl im Westen, wenngleich gerade nicht über Pahl-Rugenstein.
Wir in der DDR waren im Kalten Krieg links aufgestellt worden und wohl oder übel die Kinder des Kommunismus. Den es allerdings nicht gab und zum Glück nie geben würde. Wir hatten uns mindestens mit dem eigenen Kopf aus der „Freien Deutschen Jugend“, der „Kampfreserve der Partei der Arbeiterklasse“, herauszuwinden – und deswegen oft diese oder jene Schwierigkeiten mit dem Ministerium für Staatssicherheit, das uns entweder das Fürchten lehren oder uns gleich bei sich einspannen wollte. Beides auf verschiedene Weise schlimm.
Wie aber konnten unsere Altersgenossen drüben, zumal gebildete Studenten, das bewundern, worin wir feststeckten wie in ein eisernes Band geschnallt? Wir vermuteten, sie wollten es einfach deftig ihren Alten zeigen, also den gepflegten Herren mit dem Daimler, der gestickten Rose auf dem Wanst und den parfümierten Zigaretten. Ein politisches Generationenproblem, ein sublimierter Vatermord. Sie kassierten zwar cool ihr großzügiges Taschengeld, bezahlten davon aber ihre linkshippe WG-Kultur und fuhren im Bulli nach Italien.
War das denn links? War es links, Hannes-Wader-Lieder zu singen und auf Demos mitzulatschen, auf denen einem nichts passieren konnte? Was war revolutionär oder auch nur riskant an diesen Latsch-Demos, die von der Polizei nicht auseinandergeknüppelt, sondern, ganz umgekehrt, geschützt wurden? Sollte das Klassenkampf sein? Doch wohl so wenig, wie man mit einem Verdienst wie bei VW in Wolfsburg noch klassisch als Proletarier gelten konnte.
Nur: Nach der Wende lernten wir diese Westlinken dann ja endlich kennen, vor allem jene, die als Lehrer rüberkamen – knittrige Beamtentypen mit Birkenstock-Sandalen, durchweg abgesichert, aber in ihrer Selbstdarstellung gern „eher links“.
Eher links? Schon das Adverb „eher“ dämpfte das Bekenntnis auf eine milde Light-Version. Entweder, meinten wir, man hing links voll mit drin, dann aber so richtig und riskant, so wie in der harten Sowjetunion oder in der zwangsvereinnahmenden DDR, oder man war einfach bräsiger Kleinbürger, der übersatt von „Zivilgesellschaft“ und Utopien träumte. Die zu uns als „eher links“ rüberkamen, saßen bald in den Ämtern und Ministerien und gaben die Richtung vor, unter anderem mit dem Ergebnis des Niveauverlusts unserer Schulen.
Eben diese Gefühligkeit, völlig risikofrei „eher links“ sein zu wollen, hatte uns Ostlern schon nicht gepaßt, als es noch den goldenen Westen gab: tagsüber Nutzen aus dem System ziehen, gegen das man dann in irgendwelchen Diskussionsgrüppchen aber prinzipiell etwas hatte, weil man ihm „eher links“ gegenüberstand.
Diese Linken waren doch mittlerweile seit Willy Brandt, also etwa seit den Siebzigern, immer mehr selbst der Staat! Wie und vor allem weshalb wollten sie ihn bekämpfen, wenn ihr „Marsch durch die Institutionen“ doch so eindrucksvoll erfolgreich war? Marsch? Hochgeschlichen hatten die sich, angepaßt oder von ihrer Parteilobby geschoben, bis der breite Schreibtisch dann erreicht und man Referatsleiter oder Staatssekretär war. „Zivilgesellschaft?“ Eigentlich ein Synonym für den Deep State.
Linksromantisches Maulheldentum. Dickes Konto, eher selten selbst verdient, sondern von der geschmähten, noch leistungsorientierten Elterngeneration ererbt, unkündbar angestellt, materiell sorgenfrei, aber dennoch – oder genau deswegen? – „eher links“.
Folgerichtig ging es längst nicht mehr um Kampf, sondern um „Bedarfe“, um „Teilhabe“ und „mehr Mittel“, die man selbst nicht erwirtschaftete, um „Antidiskriminierung“, „bunte Vielfalt“ und Forderung nach Diversity-Equity-Inclusion, diesem DEI-Gerechtigkeitswahn, den absurderweise gleichfalls ja die Rich Kids an vermeintlich elitären amerikanischen Bezahluniversitäten aufgebracht hatten.
Wir lernten spät: Die hielten sich echt für die besseren Menschen, sich selbst gegenüber völlig kritiklos, schon weil ihre Kritik sich an den anderen verbrauchte, die in den Augen dieser „eher Linken“ die völlig falsche Einstellung hatten. Immerhin: Ihr persönlicher Karriereerfolg gab ihnen recht, so als gute Empfindungslinke im bösen Kapitalismus.
Es ging also um so eine Art Moral-Sozialismus, der auf gespenstische Weise seine eigene Ideologie und eine bald alles überwölbende Phrasen-Blase entwickelte. Plötzlich gab’s überall Sprachregelungen und Trigger-Warnungen, und die Gesellschaft neurotisierte am vorgehaltenen Anspruch, bloß niemanden zu „diskriminieren“.
Schon Leistung und Fleiß, gar noch Anstand und Haltung zu verlangen galt bald als diskriminierend, sollte doch jeder besser dort abgeholt werden, wo er stand. In der Schule begann die empfundene Kränkung nicht erst wie früher mit den Noten vier oder fünf, sondern schon mit der Drei, dann mit der Zwei. Am Ende galten Zensuren überhaupt als diskriminierend innerhalb der „demokratischen Schule“, und für jeden, der nichts brachte, wurden Dutzende neuer Diagnosen sowie „Förderbedarfe“ und „Nachteilsausgleiche“ erfunden.
Je intensiver sich diese Obsessionen steigerten, um so mehr wurde eigentliche Diversität zugunsten linker und woker Gleichschaltung aufgelöst, während man in den einzig Ausgeschlossenen, den Rechten, nurmehr infektiöse Krankheitsfälle sah, weil die trotz einer Überdosis politischer Bildung und Bekenntniseinübung alternativ blieben. Wer sich nicht zustimmend in die neue Einheitsfront einordnete, galt als „Hater“. Alternativ ist die Linke schon lange nicht mehr, sondern in ihrer Meinungsführerschaft zum Neu-Establishment avanciert, zum Ancien Régime von heute.
Die penetrante Forderung „Respekt!“ von deren Seite meint nicht etwa die Akzeptanz gegenüber anderen Positionen, sondern – im Gegenteil – das vorausgesetzte Respektieren linkswoker Maßgaben, so wie „Toleranz!“ eben nicht kritische Duldung von Opponenten fordert, sondern nur die ohnehin politisch übereinstimmende Gemeinschaft der Gleichen beschwört.
Die West-Linken fühlen sich zwar für die ganze Welt verantwortlich, leben aber selbst höchst komfortabel von derer globaler Ausbeutung. Papier- statt Plastiktüten zu benutzen ändert daran nichts, ebensowenig wie Kunststoff-Flaschen mit unverlierbarem Deckel, Strohhalm-Verbot, Fair-Trade-Kaffee und Ukraine-Fahnen. Man will die Welt retten, aber den eigenen Hedonismus nicht revidieren müssen. Man will einen Kapitalismus bekämpfen, dessen Teil man mit seinen immensen materiellen Bedürfnissen doch selber ist.
Überall erkennt die Linke Ungerechtigkeiten, Mißstände und Mängel, nur unmittelbar an sich selbst gar nicht. Ein Unternehmer mag mit ethischen Problemen ringen, derentwegen er vielleicht zum Mäzen wird oder eine wohltätige Stiftung gründet. Linke aber kommen sich selbst gegenüber nie zu Zweifeln und Skrupeln. Wie ist solcher Mangel an Skepsis und Demut, wie sind derart narzißtische Überzeugtheiten vom eigenen Selbst, freudianisch angesehen, überhaupt möglich und entstanden?
Linke Funktionäre und deren Gefolgschaft sind von Gewissensnöten nicht angekränkelt, sie sehen sich als per se gut – und als nur gut an. „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“, klingt es in uns nach. Man höre sich dieses Lied bewußt noch einmal an: „Wer die Menschheit verteidigt, hat immer recht“, dichtete Louis Fürnberg. Das gilt für die Linke heute wieder absolut! Problematisch sind: Immer die anderen! Heute vor allem die „gesichert rechtsextremistische“ AfD.
Wie kann man nur mit solchen Überzeugungen leben? Wie erlebt man bloß seine eigene Nachtseite? Wie forciert man jene seelischen Abgründe, die wir anderen alle kennen? Sieht man sie nicht? Kann man die Grundüberzeugung von der eigenen Mustergültigkeit einfach so zum Maßstab für alle Welt erklären?
Franz Bettinger
Köstlich, die Beschreibung der Polo-fahrenden westlichen 'Proletarier' in ihren Parkas und Anden-Pullovern. So war’s. Auch die Selbst-Ironie, (etwas neidvoll) dem Kapitalismus beim zu langesamen Sterben zuschauen zu dürfen. Eine schöne Abrechnung mit der Mode-Linken, damals und heute.