BJÖRN HÖCKE: Dieses Datum ist eine historische Zäsur für unser Land, vielleicht die bedeutendste. Die Bundesrepublik Deutschland ist in ihrem institutionellen Gepräge und auch in ihrer gegenwärtig gegen das eigene Volk, gegen den Rechtsstaat, gegen den Frieden und gegen die Demokratie gerichteten Politik ohne diese Zäsur nicht zu verstehen.
SEZESSION: Ihre über Social media verbreitete Stellungnahme ist mit einem Bild illustriert, das, so schreiben Sie, „nicht Hiroshima nach dem Atombombenabwurf“ zeigt, „sondern das kriegszerstörte Königsberg in den 1950er Jahren“. Wieso haben Sie diese zerstörte Stadt gewählt?
HÖCKE: Warum Königsberg? Das Bild ist schockierend, nicht wahr? Man sieht, von den Ruinen der alten Börse und dem Dom abgesehen, praktisch nur noch leere Flächen.
Die Altstadt ist planiert, ausradiert. Sie konnte auch nicht mehr wiedererstehen, denn man hatte mit den Deutschen die Träger dieser Kultur vollständig vertrieben oder umgebracht.
Man muß es so sagen: Ostdeutschland starb 1945. Die ethnischen Säuberungen führten zum Abbruch einer über 750-jährigen Kulturgeschichte. Die östlichen Dialekte werden mit dem Tod ihrer letzten Sprecher in diesen Jahren für immer verlorengehen. Wir dürfen und sollten trauern – um das menschliche Leid und den Untergang eines Teils unserer Kultur.
SEZESSION: Verbindet Sie außer einem historischen Bewußtsein für das ehemals weit nach Osten reichende Deutschland mehr mit diesen Provinzen? Immerhin wurden rund 14 Millionen Deutsche vertrieben – fast in jeder Familie gibt es Geschichten darüber und ausgerissene Wurzeln von dort.
HÖCKE: In der Tat. Königsberg in Ostpreußen, das ist für mich ein familiärer Erinnerungsort, und diese Erinnerung ist natürlich durch den Untergang geprägt. Ein Zweig meiner Familie stammt von dort, und ich kann mir die Schrecken des Krieges und den Verlust der Heimat besonders gut vergegenwärtigen, weil mir darüber als Kind viel erzählt wurde oder ich aus Gesprächen der Erwachsenen viel aufschnappte. Meine Urgroßeltern sind in Königsberg geblieben. Sie wollten die Heimat nicht verlassen und verhungerten dort 1946.
Mein Großvater hat den Krieg als Soldat verletzt überlebt, darüber hat er nicht viel berichtet, umso mehr aber vom Aufbau seines Betriebes bei Königsberg, oder seinem Heimatdorf, in dem er auch das allererste Motorrad besaß – eine 500er BMW, was damals die größte Maschine war. Meine Großmutter hingegen erzählte von Flucht und Vertreibung, von der Verzweiflung, die Wilhelm Gustloff in Gotenhafen um wenige Stunden verpaßt zu haben – was für ein Glück, denn dieses Schiff wurde ja versenkt, und tausende Flüchtlinge ertranken.
Ich hörte Erzählungen von einer Mutter, die tagelang ihren erfrorenen Säugling mit sich herumtrug und immer wieder wie wahnsinnig schrie, von Köpfen, die nach Treffern durch Bordkanonen von Tieffliegern auseinanderplatzten.
Wer starke Nerven hat, kann die Augenzeugenberichte in der Dokumentation Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, herausgegeben vom ehemaligen Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte lesen. Die zu Tode vergewaltigten Mädchen und Frauen, die an Scheunentore genagelten Alten, die kopfüber an Straßenlaternen Aufgehängten und von unter ihnen entfachten Feuern langsam Gerösteten – man kann das kaum lesen, nicht am Stück, vielleicht ab und an einige Seiten, denn es übersteigt die Vorstellungskraft.
SEZESSION: Haben diese Berichte, haben diese Familienerinnerungen Sie politisiert? Die Vertriebenenverbände waren ja ein Machtfaktor und als Vertreter derjenigen, die alles verloren hatten, politisch stark aufgeladen.
HÖCKE: Natürlich, ich „träumte“ mich oft nach Ostpreußen, versuchte aus den Erzählungen meiner Großeltern abgeleitete Bilder von diesem verlorenen Land vor mein geistiges Auge zu ziehen. Auch kann ich mich gut an eine Prunkkarte von Ostpreußen erinnern, die im Haus meiner Großeltern hing. Ich stand oft vor ihr. Einmal fragte ich meinen Großvater, ob wir dieses Land nicht einmal besuchen könnten. Er antwortete mir nur knapp: Nein, Björn, das können wir nicht, denn dieses Land gibt es nicht mehr. Den Schmerz über den Verlust der Heimat hat mir mein Großvater, der sonst ein „starker Mann“ war, nie deutlicher vermittelt.
Ich begleitete meine Großeltern auch einige Male auf die regelmäßig stattfindenden Vertriebenentreffen der Landsmannschaft Ostpreußen. Zehntausende Menschen kamen dort damals zusammen. Die Reste von Dorfgemeinschaften feierten ein Wiedersehen. Und ja, Vertreter von CDU und SPD versuchten, sich in Grußworten als Anwälte der Vertriebenen, die ein großes Wählerklientel darstellten, in Szene zu setzen.
SEZESSION: Angesichts dieser Geschichte kann nicht davon die Rede sein, Deutschland sei durch die Alliierten befreit worden. Wir sind vielmehr die Besiegten von 1945. In Ihrer Stellungnahme schreiben Sie der Debatte um die richtige Deutung der Zäsur jedoch keinen hohen Stellenwert mehr zu. Hat die Frage, ob wir befreit oder besiegt worden sind, keine zentrale Bedeutung mehr für Ihr Geschichtsbild?
HÖCKE: Es mag Sie überraschen: In Anbetracht der Gegenwartslage unseres Landes ist die Diskussion darüber, ob die Deutschen 1945 besiegt oder befreit worden sind, nicht mehr wichtig.
SEZESSION: Das überrascht mich in der Tat. Es hängt ja eine ganze geschichtspolitische Ausrichtung an der Antwort auf diese Frage. Wer befreit wurde, ist auch historisch widerlegt, nicht nur militärisch besiegt.
HÖCKE: Unsere jetzige, wirklich existentielle Notlage relativiert die Bedeutung geschichtspolitischer Auseinandersetzungen, und zwar sogar dann, wenn die Geschichte gegen uns Deutsche und innerhalb Deutschlands gegen einen rechten Politikansatz instrumentalisiert worden ist und wird.
Die Frage ist: Will man als einzelner Deutscher und als deutsches Volk noch um Identität und Zukunft kämpfen und beides selbst bestimmen – oder will man es nicht? Diese politische Gretchenfrage muß mit aller zur Verfügung stehenden Kraft für die Gegenwart gestellt werden – ohne Ablenkung durch Vergangenheitsfragen.
SEZESSION: Aber noch immer werden Debatten, harte politische Auseinandersetzungen, Konkurrenzkämpfe um Fördermittel und Einfluß über Verweise auf historische Schuld und moralische Zweitklassigkeit geführt und gewonnen. Muß man, um frei für Deutschland eintreten zu können, nicht doch den nationalbewußten Blick auf die Vergangenheit durchsetzen?
HÖCKE: Achtzig Jahre ist das her, achtzig Jahre sind ein Menschenleben. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß die Relevanz der Erinnerung an das, was war, abnimmt, denn das Geschehene ist nicht mehr an Zeitzeugen geknüpft. Fragen Sie bitte wahllos junge Leute, ob sie sich bei der Lösung gegenwärtiger, großer, politischer Probleme von dem leiten lassen werden, was vor achtzig Jahren war.
Ich bleibe dabei: Diese Debatte mag wissenschaftlich geführt werden – wir müssen sie nicht mehr führen, um darauf antworten zu können, wie es mit Thüringen und Deutschland in unserem Sinne weitergehen könnte.
SEZESSION: Sie sprechen nun erneut die Gegenwartslage Deutschlands an, um zu begründen, warum die geschichtspolitische Debatte um den 8. Mai 1945 nicht mehr wichtig sei. Können Sie diese Lage knapp umreißen?
HÖCKE: Zwei Punkte, die reichen schon hin, um zu verdeutlichen, was ich meine: Erstens läßt sich Deutschland durch die Politik seiner gegenwärtigen Staatsspitze vielleicht in einen dritten großen Krieg verwickeln, und zwar in einen, in dem es einer Atommacht gegenüberstehen würde. Wie mahnte Bertolt Brecht: „Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr auffindbar.“
Zweitens: Die Kinderlosigkeit und der Kindermangel unserer eigenen Leute und die millionenfache kulturfremde Zuwanderung stellen die Substanz unseres Volkes in Frage. Wie lange werden wir noch Herr in unserem eigenen Land sein?
Ich meine diese Frage ernst: Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Jeder historisch gebildete, patriotisch gestimmte und über Legislaturen hinausdenkende deutsche Politiker muß an der Korrektur, nein mehr: an der Richtungsänderung dieser Politik arbeiten.
SEZESSION: Was heißt das konkret und warum verknüpfen Sie diese Forderung mit Ihrer Stellungnahme zum 8. Mai?
HÖCKE: Für uns Politiker ist es mehr denn je notwendig, den Blick nach vorne zu richten. Wir müssen uns um die Heilung der kollektiven seelischen Zerstörung unseres Volkes bemühen, indem wir jenseits deutscher Hybris und deutscher Unterwürfigkeit Maß und Mitte suchen, finden, vorleben und einfordern. Weder DDR- oder BRD-Nostalgie noch die museale Folklore alt gewordener Sieger dürfen unsere Richtschnur sein. Was wir benötigen, ist ein neuer deutscher Standpunkt, der unserem Volk und unserer Kultur eine Zukunft ermöglicht.
Dr Stoermer
Es ändert nichts Wesentliches, in einem Entenhofe geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat.
Man muss nur irgendwann aufhören, Ente zu sein, sondern werden, wer man ist.
Meine Hochachtung für Herrn Höcke, dessen familiärbedingte Bewusstseinswerdung auch mir vertraut ist. Nur in einem Punkt sehe ich es anders, was jedoch nichts an meiner Verbundenheit ändert: Solange drinnen wie draußen die „Enten‑Folklore“ den geistigen Rahmen unserer Existenz bestimmt, bleibt sie Gegenwart, kein Museumsstück. Und was Gegenwart ist, behält Bedeutung.
Es muss doch einen Weg geben, denen, die in allen ihren Hauptstädten auf den Straßen den Siegerententanz aufführen, klar zu machen, dass wir alle Schwäne sind, und einer jeden Seite Not genutzt wurde und wird, um alle vormals gottgefälligen Völker zu verenten.