In Brandenburgs Hauptstadt jedenfalls las Twardoch aus seinem neuen Kriegsroman, Die Nulllinie, und diskutierte mit seinem kongenialen Partner, dem Übersetzer Olaf Kühl, über Rußland, die Ukraine, Polen – und Schlesien. Es ist ein Roman über den Krieg (damals wie heute) mit möglichen Einflüssen von Malaparte, Jünger und Renn, über Dinge, die es wert sind, verteidigt zu werden, über Leben und Sterben, Blut und Dreck, nicht zuletzt: über die Etappe und die Front. Ein Roman, den man wirklich, wie es so unschön heißt, »in einem Rutsch durchliest«.
Im Podcast mit Philip Stein und Volker Zierke zeigte ich mich diesbezüglich zudem erleichtert, daß Twardochs leidenschaftliche wie ideologische Parteinahme für die Ukraine im Roman selbst weniger unkritisch und deutlich ambivalenter und wirklichkeitsnäher (also: »komplexer«) ausfällt als in seinen zahlreichen Zeitungsbeiträgen und Interviews.
Das Publikum in Potsdam nun – kam es wegen Twardochs integralem Werk oder wegen seines mittlerweile europaweit geachteten und gerühmten Ukraine-Engagements? Wir rätselten, tendierten aber zu letzterem. An einer Stelle des Literaturabends im malerischen Innenhof einer Potsdamer Schule – in der zeitgleich Abendschulabiturienten ihre Prüfungen ablegten – drohte Twardoch indes das bürgerlich-kulturlinke Publikum (so stelle ich mir die Klientel hochpreisiger ZEIT-Lesereisen nach Spitzbergen vor) zu verlieren: Als sein Übersetzer ihn fragte, was 1945 eigentlich in Schlesien los war.
Nun: Die Frage kam nicht aus dem Nichts. Twardoch hatte auf seine schlesische Identität verwiesen, auf nationale Traumata, die er nicht Traumata zu nennen gewillt ist; die aber jedenfalls die Familienpsychologie belasteten – immerhin hätte der Einmarsch der Sowjets 1945 in Schlesien und anderswo für Massenmorde und Massenvergewaltigungen gesorgt.
Twardoch erwähnte nicht den Streitbegriff der »Oberschlesischen Tragödie«, der ganz aktuell Anfang des Jahres selbst im Sejm, dem Parlament in Warschau, für kontroverse Diskussionen sorgte. Aber allein, daß er auf das Leid verwies, das über die Schlesier jeder Nationalität kam, hatte das Potential, linksliberale Bundesdeutsche zu vergrätzen.
Zu deren Erleichterung und unserer Enttäuschung bog Twardoch aber ab. Das geschichtspolitisch verminte Schlesien-Thema sparte er aus und sprach weniger über Gleiwitz und Schwientochlowitz und mehr über Butscha und Bachmut. Sein Credo: Das, was einst die Schlesier erlebten, im Schicksalsjahr 1945, erleben heute die Ukrainer.
Der Vergleich schien mir unpassend, immerhin waren im alten Ostdeutschland Abermillionen Deutsche und Schlonzaken betroffen und Hunderttausende allein von Januar bis Mai 1945 ermordet, wohingegen in der Ostukraine seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022 laut dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) circa 13.000 Zivilisten ermordet worden sind (auf beiden Seiten der Nulllinie).
Aber erstens ist ein Vergleich ja keine Gleichsetzung und zweitens erklärte mir Zierke, daß Twardoch eben den Punkt einer jeden betroffenen Familiengeschichte stark machen wollte: Wer derlei erlebte, ob in Beuthen oder Butscha, trägt das über Generation und Generation hinweg; es bleibt eingeschrieben in die Geschichte des Landes, des Landstrichs, aber eben auch: der Familie.
Selbst wenn die Waffen einst ruhen werden; im Kopf leben der Krieg und seine Verheerungen weiter. »Frieden« ist nicht gleich Frieden. Dem konnte ich folgen.
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Nicht folgen konnte ich dem, was ich einen Tag später bei »X« las.
Jacek Witold, polnischer Wirtschaftsjurist und Angehöriger der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, griff Erika Steinbach ätzend an. Das CDU-Relikt hatte vorher in einem Tweet den polnischen Präsidentschaftskandidaten Karol Nawrocki (PiS) dafür kritisiert, daß er im erhitzten polnischen Wahlkampf erneut die Reparationsforderungen an Berlin in den Fokus stellte.
Steinbach lapidar:
Es wird teuer für Polen, wenn der Ersatz für die völkerrechtswidrige Enteignung der deutschen Heimatvertriebenen eingefordert wird. Bis heute ist das nicht geregelt!
Witold erwiderte:
Eine politische Erbin hitlerscher Gedankenmuster meldet sich im hohen Alter erneut zu Wort. Mach endlich deine Klappe zu.
Ich persönlich bin Steinbach-Kritiker. Ihr Lebenswerk, d.h. ihre enge Anbindung von Millionen ostdeutschen Heimatvertriebenen und Patrioten an CDU und CSU, ist verheerend und bleibt bis heute ein Ärgernis mit eklatanten Folgen; die Leitung der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung wirkt ohnehin wie eine Farce. Und dennoch: Der Punkt hier geht doch wohl an sie. Reparationszahlungen müssten abgeglichen werden mit dem, was Deutschland verlor. Ich hielte es für besser, man rührte das Thema nicht mehr an. Da verbrennen sich alle beteiligten Seiten sonst die Finger dran.
Denn was Witold, der sich hier im Konsens mit der polnischen Rechten befindet, suggerierte, d.h. Steinbach als quasi-hitleristische Parteigängerin, ist nicht nur infam, es ist auch politisch-historisch abwegig.
Es ist kein Hitlerismus, darauf zu verweisen, daß 14 Millionen Ostdeutsche ihre Heimat verloren, 2 Millionen davon gar ihr Leben. Es ist auch kein Hitlerismus, das Leid ab Januar 1945 zur Kenntnis zu nehmen: den unheimlichen Verlust von allem, was diesen vielen Millionen in Schlesien oder Pommern verwurzelten Menschen lebens- und liebenswert erschien. Wohlgemerkt: Damit leugnet man nicht anderes Leid, andere Verbrechen, andere Verluste, die dem chronologisch vorangingen.
Doch so zu tun, als ob Deutschland immer noch Reparationen zu zahlen hätte, ohne auch nur mitzudenken, was unser Volk unwiederbringlich verloren hat, scheint ignorant und bisweilen latent nationalchauvinistisch. Der frühere Antislawismus in Deutschland und das bleibende Antideutschtum in Polen sind denn auch zwei Seiten einer Medaille, die uns nicht weiterbrachten, geschweige denn im Jahr 2025 weiterbringen.
Unverstanden und irritiert stehen sich nicht zuletzt deshalb polnische und deutsche Patrioten und Rechte gegenüber; die Kooperation mit einem kleineren Teil der Konfederacja durch die AfD im Europaparlament ist dabei – bisher – nur ein kleiner Ausbruch aus der großen Malaise.
In einem kürzlich veröffentlichten Interview in der kleinen, aber feinen polnischen Zeitschrift der dortigen »Neuen Rechten«, Templum Novum, hatte ich zu diesem Themenkomplex ausgeführt:
An die Leser richte ich den herzlichen Appell, mehr für die deutsch-polnische Begegnung zu tun. Wo sind eigentlich intellektuelle Plattformen „von rechts“, die die deutsch-polnische Situation bearbeiten und verbessern: auf Konferenzen, Vortragsveranstaltungen, Seminaren? Wo bleiben wechselseitige Übersetzungen von Denkern und Schriftstellern? Wieso überlassen wir das deutsch-polnische Verhältnis den Liberalen und Linken?
Dominique Venner sagte einst, der erste Schritt für ein europäisches Bewusstsein wären europäische Begegnungen und Vernetzungen. Ich konkretisiere: Für ein vernünftiges Verhältnis zwischen deutschen und polnischen Nonkonformisten wäre der erste Schritt, sich wenigstens kennenzulernen.
Würde das helfen?
Man müßte es versuchen, ohne die eigenen Standpunkte politisch-historischer Art auszublenden, ohne sie zu verabsolutieren. Vor allem aber: ohne die schwierige Lage der weiterhin existenten deutschen und slawisch-schlesischen autochthonen Minderheiten im zeitgenössischen Polen auszublenden. Zumal diese von einem kommenden Präsidenten Nawrocki wenig bis nichts Positives zu erwarten haben. (Doch dazu in Bälde mehr.)
Le Chasseur
"Das geschichtspolitisch verminte Schlesien-Thema sparte er aus und sprach weniger über Gleiwitz und Schwientochlowitz und mehr über Butscha und Bachmut. Sein Credo: Das, was einst die Schlesier erlebten, im Schicksalsjahr 1945, erleben heute die Ukrainer."
Was ist denn nach Ansicht von Twardoch in Butscha passiert?
https://overton-magazin.de/top-story/butscha-wir-waren-die-polizei-wir-waren-das-gericht-wir-waren-das-erschiessungskommando/
https://overton-magazin.de/top-story/tscheche-wegen-pluenderungen-in-butscha-und-irpin-zu-sieben-jahre-gefaengnis-verurteilt/