Um Mißverständnissen gleich vorzubeugen: Eine erschöpfende Wahlanalyse liegt nicht in meinem Sinne. Auch die Frage, ob nun für die polnische Innenpolitik “Zersetzungseffekte”, Neuwahlen und chronisches Durcheinander folgen, wie Piotr Buras, der Chef des Warschauer Büros des Think Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR), argwöhnte, ist nicht Gegenstand dieses Textes.
Es geht mir vielmehr darum, allgemeine Rückschlüsse zu skizzieren, die die polnischen Besonderheiten mit der deutschen Lage verbinden.
Zunächst dennoch einige wenige harte Fakten für alle Leser, die die Stichwahl am vergangenen Sonntag nicht verfolgten: Der Kandidat der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Karol Nawrocki, gewann gegen den Kandidaten der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO), Rafał Trzaskowski, mit 50,89 zu 49,11 Prozent.
Eine solche Stichwahl wirkt naturgemäß wie eine Verewigung des in Polen so genannten POPiS, also des Duopols aus PO und PiS. Daß das heterogene Rechtsbündnis Konfederacja dieses eherne Konstrukt zunehmend aufbricht und über den extremen Zuspruch junger Menschen zum neuen smarten Faktor in der polnischen Politik geworden ist, machte einerseits jedoch der erste Wahlgang deutlich und wird andererseits in Bälde vom Autor dieser Zeilen (an selbiger Stelle) separat betrachtet.
Die Stichwahl nun wurde jedenfalls objektiv in Dörfern und Kleinstädten entschieden; in den polnischen Dörfern unterlag Trzaskowski mit beachtenswerten 35,8 zu 64,2 Prozent; nur in den wenigen Städten über 500.000 Einwohnern (Warschau, Krakau, Breslau, Lodz und Posen) gewann Trzaskowski mit 66,8 zu 33,2 Prozent. Zu wenig.
Bei der Jugend ist ein moderater Rechtstrend anhaltend: Dort hieß es in der Altersgruppe 18 bis 29 ca. 52 zu 48 Prozent für den rechten Kandidaten; bei den polnischen Wählern über 60 hingegen 49 zu 51 für den Liberalkonservativen. Ist dieses Verhältnis in Bezug auf Alterskohorten also recht ausgeglichen, fällt bei den Geschlechtern eine Kluft auf. Denn Frauen wählten mit 52,8 zu 47,2 den Liberalkonservativen – aber Männer wählten zu 55,5 Prozent versus 44,5 Prozent den Nationalkonservativen.
Das hat gewiß etwas mit dem europaweit zu konstatierenden Rechtsruck der Männerwelten zu tun, aber auch viel mit dem konkreten PiS-Kandidaten Nawrocki, der kein PiS-Mitglied ist, aber aus deren Kosmos gefördert und aufgebaut wurde. Es war demnach keineswegs, wie Alice Bota in der Zeit (v. 5. Juni 2025) titelt, ein “Triumph aus dem Nichts”.
Auch Karol Nawrocki kam nicht aus dem Nichts. Der einem Arbeiterviertel entstammende Nawrocki erfuhr Sozialisierungen in Danzigs potenter Mischszene aus Türsteherfirmen, Lechia-Hooligans und Rotlicht-Größen. Das wurde ihm im Wahlkampf, insbesondere von Medien aus dem in Polen stark präsenten Axel-Springer-Imperium, vorgehalten – tat aber seinen Sympathiewerten nicht nur keinen Abbruch, sondern sorgte gerade unter jüngeren Polen für die Inauguration eines Kultfaktors.
Nawrocki, so denunzierten ihn Journalisten, habe an Ackermatches teilgenommen, also an Hooligan-Kämpfen auf der grünen Wiese. Ja, na und?, so der Kandidat. Er entstamme einem Milieu, das als “rechtsradikal, antideutsch und antikommunistisch” gilt, habe zudem unter Pseudonym ein bemerkenswert insiderisches Buch über die polnische Unterwelt verfaßt? Ja, na und?, so der Kandidat. Selbst, als man Nawrocki vorwarf, einen wohl alkoholabhängigen Rentner aus seiner Wohnung vertrieben zu haben, unter Anwendung einiger moralisch fragwürdiger Tricks, prallte das ab.
Es dürfte so sein, wie Philipp Fritz in der Welt (v. 3. Juni 2025) formulierte, daß nämlich in Polen (wie in den USA) zwei “politische Lager” vorhanden seien,
die sich kaum noch etwas zu sagen haben und die in unterschiedlichen politischen Realitäten zu Hause sind.
Man glaubt den “anderen” dann schlichtweg gar nichts – oder affirmiert etwaige Anwürfe aus dem jeweils gegenüberliegenden Lager aus Trotz.
Diesbezüglich verhält es sich im überaus stark polarisierten Polen wie im stark polarisierten Deutschland: Wer sich rechtfertigt, wer sich erklärt, wer schwimmt, wer sich geniert – der verliert. Wer das nicht tut, siehe Nawrocki, symbolisiert Stärke und Selbstbewußtsein – ist also (wahl-)attraktiv.
Hinzu kommt, daß Nawrocki freilich nicht nur diese “trübe Vergangenheit” (Alice Bota) mit sich schleppte, sondern auch eine jüngere Vergangenheit sein eigen nennt, die ihn zum PiS-nahen Kandidaten kürte. Er gilt, so Philipp Fritz, als “Erfindung” des PiS-Übervaters Jaroslaw Kaczynski, der im Wahlkampf indes kaum in Erscheinung trat – zu viele Durchschnittswähler stoßen sich an dem alten Veteran der polnischen Uraltrechten.
Auf Nawrocki kam Kaczynski als Typ spätestens 2017. In dem Jahr wurde der mittlerweile promovierte Historiker durch PiS-Interventionen zum Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs gemacht – und entließ prompt circa 60 unbotmäßige Mitarbeiter, denen man vorwarf, der polnischen Sache auf diesem so schicksalsträchtigen geschichtspolitischen Terrain nicht genug zu dienen:
Was der PiS zu wenig polnisch erschien, flog raus,
heißt es lapidar in der Zeit.
Die neuen Mitarbeiter kamen, passend, aus Danziger Sport- und Intellektuellenkreisen; überspitzt gesagt könnte man diese Liaison aus Hooliganismus und Intellektualismus als Charakteristikum Nawrockis verbuchen, der als Nationalist fortan für eine nationalistische Geschichtsschreibung im Museumskomplex verantwortlich zeichnete.
Das führte ihn, sieben Jahre später, in die Pole Position als PiS-naher Präsidentschaftskandidat. Seine Gegner, die liberalkonservative Bürgerplattform samt liberaler Verbündeter jeder Prägung, zeichnete man in rechten Medien als antipolnisch und unpatriotisch, als EU-devot und deutschlandhörig – was gewiß überzeichnet war.
Eher scheint zutreffend, was Dirk Schümer in seinem Essay “Die EU, ein Papiertiger” in der Welt am Sonntag (v. 18. Mai 2025) konzedierte, nämlich, daß sich die Tusk-PO samt Bündnispartner
durch einen soliden Nationalismus aus(zeichne), ohne den in Polen keine Mehrheit zu haben ist.
Diese nationale Hegemonie kann wertfrei konstatiert werden, und gerade deshalb wirkte es mobilisierend in den großen Milieus rechts der Mitte, wie Nawrocki gegen die woke EU und volksferne Politiker austeilte, vor allem aber gegen “Deutschland, das er im Wahlkampf in der Tradition der polnischen Rechtsnationalen ausgiebig attackierte”, wie selbst die kaum deutschbewußte Welt (v. 3. Juni 2025) in Person von Klaus Geiger hervorhob.
Geiger macht überdies deutlich, daß auch Tusk und Trzaskowski – also jene PO-Köpfe, die die PiS-Medien als lasche Linksliberale abtaten – “für eine strenge Migrationspolitik und harten Grenzschutz” stehen und “konservative Werte wie Gemeinschaft, Tradition und Sicherheit” betonen: Polens Maßstäbe sind eben nicht die deutschen, und das ist, mindestens für Polen, auch gut so.
Und auch im Rahmen der EU-Politik kann man durchaus positiv verbuchen, daß die linksliberalen Hegemonialkräfte wütend ob des Nawrocki-Sieges sind. Zaklin Nastic, ehemalige Bundestagsabgeordnete des BSW, bringt es treffend auf den Punkt. Die Außenpolitikexpertin spricht von einer “Riesen-Schlappe” für die “EU-Elite”:
Die Liberalen haben den gleichen Fehler gemacht wie die ehemalige Ampel hierzulande.
Moralischer Hochmut statt Bürgernähe.
Ergebnis: Die Wähler sind weg – vor allem im Osten Polens.
Nawrocki will immerhin
🚫 keine polnischen Soldaten in die Ukraine entsenden
🚫 kein NATO-Beitritt für Kiew,
🚫 keine Machtverschiebung Richtung EU.Diese Wahl war mehr als ein Denkzettel. Sie war ein Stopp-Schild – für weitere Kriegsfortsetzung in der Ukraine, für Brüsseler Zentralismus und moralische Arroganz der Eliten.
Auch Tomasz Froelich, AfD-Europaabgeordneter und polnischstämmiger Multiplikator auf internationaler Bühne, formulierte Richtiges zur Wahl. Er zog eine Parallele zur EU-Hatz auf Orbáns Ungarn und kritisierte die Drohungen liberaler Politiker gegenüber Warschau:
Die EU erpresst freie Völker für ihre ideologischen Zwecke. Insbesondere in Gesellschaften, die lange Zeit unter sowjetischer Knute standen, weckt das böse Erinnerungen.
(…) Nicht in Polen werden Wahlergebnisse rückgängig gemacht, wenn das Ergebnis den Herrschenden nicht passt, wie etwa vor einigen Jahren bei der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen der Fall, oder zuletzt in Rumänien. Nicht in Polen gibt es eine gewaltbereite und in Teilen staatsnahe Antifa, die Oppositionelle einschüchtert, verprügelt oder deren Eigentum zerstört.
(…) Und im Gegensatz zu Deutschland wird der Präsident in Polen immer noch vom Volk gewählt. Wer hat hier also ein Problem mit seiner Demokratie? Polen? Oder vielleicht doch eher Deutschland?
Froelich, von dem auch eine recht ausgewogene Gratulation an Nawrocki stammt, trifft den richtigen Ton. Von dieser Warte aus ist alles richtig.
Verkürzter gedacht sieht das dann so aus, etwa bei Beatrix von Storch:
Wenn ich sehe, wer jetzt wie rumjammert wegen der Wahl in Polen, wer die „Demokratie“ gefährdet sieht und „Europa“, dann weiß ich: Das war ein guter Tag für die Demokratie und für Europa.
Doch war das ein guter Tag auch für Deutschland im Allgemeinen und für die Deutschen in Polen im Besonderen? Es ist frappierend bis verstörend, daß diese Frage im AfD-Kontext nirgends auftaucht und nirgends gestellt wird, nicht einmal verklausuliert oder auch nur beiläufig, gewissermaßen als kleines Addendum (“Gratulation, aber …”).
Es drängt sich so der Verdacht auf, daß fremde Staaten – Israel und USA, Rußland und die Ukraine – allesamt mehr Lobbyisten für ihre Ziele und Interessen in der AfD vorfinden, als die deutschen Minderheiten im Ausland. Einer patriotischen Sammlungspartei steht das nicht gut zu Gesicht. Erste rechte Berichterstatter, etwa Bruno Wolters vom Freilich-Magazin, fürchten in diesem Kontext gar, daß Teile der AfD-Bundestagsfraktion durch ihre Nachahmung des harten Netanjahu-Kurses “in ein fremdnationalistisches Extrem” kippen. Anlaß dazu boten tatsächlich zuletzt bizarre Stellungnahmen von einzelnen Bundestagsabgeordneten wie Alexander Wolf aus Hamburg.
Doch zurück zur polnischen Wahl: Die Deutschen in Polen, die slawischen Schlesier in Oberschlesien: Was denken sie über die Wahl in Polen? Sie haben das auszubaden, was der stark antideutsch beeinflußte Nawrocki nun tun wird. Man verstehe mich nicht falsch: Auch ich wünsche dem polnischen Staat und Volk keine “Auflösung aller Dinge” (H.-D. Sander), die aller Empirie zufolge bei fortschreitendem Liberalismus und bei fortschreitender Westbindung jedem europäischen Staat und Volk droht.
Doch insbesondere beim schwierigen Verhältnis Nationalismus und Minderheiten (dazu mehr in der August-Sezession) wäre es die Pflicht der einzig verbliebenen volksverbundenen deutschen parlamentarischen Kraft, also der AfD, als Anwalt der circa 300.000 insbesondere in Oberschlesien zwischen Oppeln und Ratibor verbliebenen autochthonen Deutschen aufzutreten. Gerade dort agiert die PiS – just in diesen Tagen, in der sie von AfD-Größen umschwärmt wird – aggressiv gegen Deutsche, Deutschstämmige und slawische Schlesier (“Schlonzaken”). Allein, dazu schweigt man bei den zuständigen Fachpolitikern aus mittlerweile vertrauter Routine (oder, beinahe noch schlimmer, Unkenntnis?) heraus.
Die diesbezügliche Aufgabe der Zukunft wird es sein, die Interessen der Deutschen in Polen nicht zu ignorieren und zu verleugnen, sondern zu seiner natürlichen eigenen Sache zu machen – und gleichzeitig mit allen polnischen Rechten, die gesprächsbereit und nicht rein reparationszahlungsorientiert agieren (und solche gibt es, erfreulicherweise), ein unverkrampftes neues Verhältnis zu finden, das Trennendes sukzessive überwindet, weil es um das gemeinsame deutsch-polnische Morgen geht.
Eine solche zu forcierende Kooperation und Annäherung darf aber nicht auf Kosten unserer Landsleute vollzogen werden. Wer diese ignoriert, weil er etwas Glamour vom Wahlsieger Nawrocki abbekommen will und gefällige EU-Elitenkritik über die akuten PiS-Nöte der deutschen Minderheit stellt, scheint vergessen zu haben, daß die AfD bei aller inneren Vielfalt am Ende des Tages doch eine deutsche patriotische Partei sein sollte. Als solche wird sie jedenfalls gewählt.
Maiordomus
Mit anderen Worten: in vieler Hinsicht mag die PiS das kleinere Übel sein, aber Euphorie ist fehl am Platz. Dies aus Verbundenheit mit dem deutschen Kulturraum Schlesien.