Die Gretchenfrage für die Rechte lautet aber: In welchem Verhältnis sieht sie diese Seinsformen? Selbst die coolen Kids bei der Boomer- und Beamtenpostille können nicht weghören.
Offensichtlich liegen zwischen Abstammung, Sprache und Kultur Trennlinien. Daß Sprache noch keine gemeinsame Kultur bedeutet, weiß außer Aydan Özoğuz jeder Fremdsprachenschüler, der sich im Deklinations-Dickicht verliert.
Die Geburt bestimmt einen Zugang, aber nur ein vages, vorreflektiertes Dasein. Kultur dagegen heißt geistig reges Machen, Bauen, Pflegen. Trotz ihrer essenziellen Trennung sind diese Seinsformen zweifelsohne voneinander abhängig: Religion und Kultur prägen Sprache, man denke bloß an Luthers Bibelübersetzung. Umgekehrt eröffnet Sprache ganze Intuitionsräume, wer wollte das verleugnen.
In der religiösen Kultur wird verhandelt, was für Völker als relevante Abstammung gilt: ob von Vater oder Mutter, durch Adoption oder gar Transaktion. Bei aller Abhängigkeit voneinander sind diese Seinsformen aber nicht aufeinander reduzierbar. “Volk” ist weder sprachlich-mächtiges Fiat, wie die Postmoderne suggerieren mag. Es ist nicht ausschließlich kulturelle, halb-fiktive Praxis, denn die steht jedem offen. Aber auch die Abfolge animalischer Generationen enthält für sich genommen so viel Kulturgut wie das Zwitschern eines Vogels neben dem Konzert-Orchester im Park.
Götz Kubitschek hat zuletzt die Abstammung zum Oberbegriff eines rechten Verständnisses vom Volk gemacht. Aus ihr erfolgten “Zugriffsweisen auf Welt, Umgebung, Tun, Denken, Empfinden”, sagte er im Interview mit Wallasch. Auch Maximilian Krah scheint d’accord. Abstammung gilt hier als Ausgangspunkt für eine Teilhabe an deutscher Kulturfülle: ein Bayer würde, bei allem Austausch über die Alpen hinweg, eben einen bayrischen Barock pflegen.
So erweitert die Rechte aber den Abstammungsbegriff auf die anderen Seinsformen und überdehnt ihn. Sie stürzt in dieselbe Reduktions-Falle wie ihre Gegner, für die „Volk“ nur Sprachgeste oder praktizierte Fiktion ist – allerdings mit ungleich schwerwiegenderen Konsequenzen. Aus dem überdehnten Begriff der Abstammung wird ein vollgestopftes Ungetüm. Daraus läßt sich ein formidabler Strick drehen, der sich je nach Polemik-Bedarf mal mehr oder weniger faschistoid biegen läßt. (“Jetzt wollen die auch noch einen Kulturarier-Nachweis!”)
Die Geburt als bloßer Daseins-Zugang bestimmt natürlich nicht, ob man italienischen oder bayrischen Barock goutiert. Offensichtlich geht es Kubitschek ausschließlich um ein kulturelles Verständnis von Volk, wobei er sich einer Natur-Metaphorik bedient. Das Wachsen von Völkern ruft Bilder alter Wälder auf: wehende geistige Saat, kulturelle Befruchtung, vererbte Traditionen. (Diakoniewissenschaftsstudent:innen kennen solche Bilder von dem noch nicht gesichert rechtsextremen Johann Hinrich Wichern, einem „Vater“ des christlichen Sozialstaats.)
Es sind die genealogischen Bilder von Denkschulen und apostolischer Geistlichkeit. Diese Metaphorik für Völker als Kulturgemeinschaften muß aber getrennt bleiben von der banalen biologischen Herkunft, will man letztere – im Erbrecht oder ius sanguinis – noch für bare Münze nehmen.
Als Analogon für diesen Volksbegriff mag Hegels Verständnis der Ehe dienen. Sie bewegt sich immer irgendwie zwischen Liebe, Vertrag und Geschlechtsverbindung. Für Hegel ist die Ehe aber keine vertragliche Verbindung „zum lebenswierigen, wechselseitigen Besitz [der] Geschlechtseigenschaften“ wie beim knorzigen Kant. Sie ist ausschließlich eine Form der Sittlichkeit, also Kultur, über deren gleichförmigen Trott er durchaus freimütig referiert. Nachkommen mögen ein Resultat sein, aber kein notwendiges. Und als Rechtssubjekte treten Partner sogar nur in Erscheinung, wenn die Ehe zerfällt.
Eine andere, auch erhellende Möglichkeit ist, das „Volk“ genau als die Dynamik aus Abstammung, Sprache und Kultur zu verstehen. Christen und alle, die ihren Unglauben kurz suspendieren, können dabei auf das Volk Israel zurückgreifen. Es ist der instruktive hermeneutische Schlüssel zur Politik im theologischen Denken. Dazu gehört, besonders im christlichen Weitergang, das strahlkräftige Versprechen einer universalen Polis.
Das biblische Volk Israel und in einer Fortsetzung das moderne Judentum, hat sich wahrscheinlich wie kein anderes Volk durch seine Religion mitsamt Kultur, Sprache und Abstammungskohärenz bewahrt. In der Gewißheit des göttlichen Erwähltseins wurden alle drei Seinsformen sorgfältig gepflegt, auch dank nie versiegender Quellen des Trostes unter Bedingungen radikaler Vernichtung. Von Israel darf sich nun jedes Volk eine Scheibe abschneiden und kann es vor dem Hintergrund seiner Universalität.
Auch, wenn eine der drei Seinsformen — nochmal: Abstammung, Sprache, Religion/Kultur — abhanden kommt, wächst erfahrungsgemäß das dritte mit der Zeit nach. Wie ostpreußisch ist heute noch ein Millenial in Hannover? So sind auch sprachlich meist wendige Christen aus ehemaligen afrikanischen Kolonien in Großbritannien de facto integriert. Dazu trug die Idee des Commonwealth, einer „imperialen Familie“ bei.
Weit hinaus über royales Kichern bei blumig-ozeanischen Tänzen wohnte dieser Idee auch eine integrierende Kraft inne. Im postkolonialen Zerbrechen, für das es ja gute Gründe gibt, liegen in diesem Äther die Möglichkeiten zukünftiger Versöhnung. Das heißt: Nagelt man Völker nicht auf Sprache, Kultur oder Abstammung fest, sieht man ihre beständige Kraft zur Absorption und Generation.
Wo hingegen nur noch eine Seinsform vorhanden ist, zerstiebt ein Volk. Abstammung ohne Kultur wird zur bloßen Genetik, extrahiert aus Blut- und Spucke-Röhrchen. Sprache verfliegt im bildlosen Phrasen-Englisch kosmopolitischer Provinzeier. Kulturgüter werden globales Überall oder Objekt ständiger Kämpfe.
Doch selbst in solchen Situationen gibt es Überraschungen, Existenzsprünge durch Einzelne. Die einsamen, psychotischen Visionen des Propheten Hesekiel vom Unheil und Wiedererstehen Israels sind dafür beispielhaft. Zugleich deuten sie, siehe oben, weit über jedes konkrete „Volk“ hinaus.
Dekliniert man andersherum die drei Seinsformen durch, könnte man ernsthaft diskutieren, ob z. B. Afro-Amerikaner oder die Ostdeutschen ein eigenes Volk sind. Es gibt offensichtlich auch Zwischen-Stadien, die über längere Zeit bestehen bleiben und in die eine oder andere Richtung kippen können (man denke an die einst separatistische, aber kleine Nation of Islam oder die Umrisse der ehemaligen DDR auf Karten nach der Wahl).
Es sticht hervor, wie sehr jenseits von Programmatiken, über die sich die Rechte momentan streitet, historische Ereignisse die Existenz von Völkern prägen, sie überhaupt erst hervorbringen.
Was heißt diese triadische Dynamik aber für die Persistenz eines, sogar dieses Volkes? Es wäre ein Irrsinn, wollte man es zu einem Social Engineering-Projekt deklarieren. Selbst für glühende EU-Europäer taucht die Frage nach einem „europäischen Volk“ nur in Kreuzworträtseln auf.
Allemal liegen unsere schätzenswerten Kulturgüter rechts und links für uns alle da. Sie werden stetig verwaltet und mühsam restauriert, sie quillen über vor Trost und Witz. Sprachpflege ist Sache eigener Disziplin; hier möge jeder sein Scherflein beitragen.
Ein kulturkriegerischer Natalismus, en vogue unter manchen Konservativen, richtet Kindern als Gabe und Geschenk (Ps. 127,3) ernsthaft Schaden an. Gerade an letzteren sieht man: Möglichkeitsräume eröffnen sich, sie werden gegeben. Aber Dynamik – die Kraft – impliziert auch Arbeit. Man darf in die Hände spucken.
Ein gebuertiger Hesse
"Die Geburt bestimmt einen Zugang, aber nur ein vages, vorreflektiertes Dasein. Kultur dagegen heißt geistig reges Machen, Bauen, Pflegen."
Großartig. Zum unters-Kopfkissen-Legen.