Tief krankt sie an ideologischen Lebenslügen, die ihr Selbstverständnis zwar stabilisieren sollen, es aber mittlerweile spürbar sprengen. Vertrauen, Autorität und Legitimität stehen in Frage, um so deutlicher sogar, je penetranter die Vorzüge der Demokratie beschworen werden. Weitgehend zerstört scheint die „soziale Grammatik“, wie Norbert Elias ein wichtiges Kriterium für Identifikation bezeichnete.
So wie die End-DDR stereotyp von der „Steigerung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus“ oder der „unverbrüchlichen Freundschaft zum Lande Lenins“ sprach und davon, daß der Marxismus-Leninismus allmächtig sei, weil er wahr wäre, kündet der Propagandaapparat der gegenwärtigen Herrschaft selbstgefällig von „Vielfalt“ und „Weltoffenheit“, von „Toleranz“ und „Demokratie“.
Die Ahnung vom Abstieg unserer Form der Demokratie ist längst deutlich:
Demokratien sterben, aber sie werden nicht getötet, sondern begehen Selbstmord – so die dominante Deutung unserer gegenwärtigen Lage,
schrieb Philip Manow bereits vor zwei Jahren im „Merkur“.
Und so wie Kritikern in der DDR-Endzeit zur Argumentationsvermeidung ultimativ die rhetorische Frage entgegengehalten wurde „Seid ihr etwa nicht für den Frieden?“, wird der Opponent heute verzweifelt erpreßt mit „Wollt ihr denn den Rückfall in Nationalsozialismus und Auschwitz?“
Erwartet wird, daß der Wohlgesinnte betroffen den Kopf zum Nackenbiß beugt und beschwört:
Nein, nur das nicht! In der Hauptsache – Demokratie jetzt, Weltfrieden damals – ist dank kluger Politik und Führung ja alles bestens. Ich bekenne, ich stehe dazu!
Daher die verordneten Pflicht-Wallfahrten zum Besuch einstiger Konzentrationslager und des Gedenkstättenkomplexes, daher all die Betroffenheitsinszenierungen und die daran anschließende Forderung, in das Mantra einer von Menschenrecht und Menschenwürde bestimmten Idealwelt einzustimmen, vor der sich jeder zu verneigen hat wie vorm Himmlischen Jerusalem.
Nur: Ebenso, wie die DDR-Bürger die Agitationsverrenkungen ihrer Staatsführung als verzweifeltes Bemühen um die Kaschierung augenfälligen Scheiterns erkannten, wissen oder erspüren die meisten Bundesbürger, daß das immer penetrantere Beschwören der immer gleichen fragwürdigen Formeln und Phrasen nicht auf deren Relevanz, sondern, ganz im Gegenteil, auf deren Impotenz deutet, gerade wenn unterm Etikett der Demokratieförderung immer mehr Mittel für „politische Bildung“ – also Indoktrinierung – und „zivilgesellschaftliche“ AgitProp-Vereine eingesetzt werden und geradezu grotesk eine rechtsextremistische Gefährdung aufgeblasen wird.
Von wem geht das aus? Wer genau ist hier Agens und Hegemon der Abläufe? Wessen fragwürdiges Selbstverständnis verursacht die fortschreitende Neurotisierung der Gesellschaft? –
Nach wie vor ist dafür, marxistisch gesprochen, die Bourgeoisie verantwortlich, das Bürgertum also, nur eben im Sinne einer neuen Elite, gewissermaßen also eine Neobourgeoisie, die die Geschicke des Landes lenkt und sich den Parlamentarismus bislang noch dienstbar zu machen versteht.
Diese linksgrüne bzw. linksliberale Bourgeoisie 2.0 mag äußerlich nichts mehr gemein haben mit dem Besitz- und Bildungsbürgertum des Industriezeitalters, sie trägt nicht Smoking und raucht keine Zigarren, sondern kommt fit und cool im Habeck-Hoodie daher, gefällt sich woke, divers und „bunt“, aber sie ist doch ihrem sozialen und kulturellen Platz nach – die Bourgeoisie: neuerdings rosa oder grün anstatt auf ernste Weise schwarz gewandet, gern „zugewandt“, „achtsam“ und „empathisch“, sowieso vegan und vermeintlich nachhaltig lebend, dabei aber hedonistisch maßlos wie eh und je und im Politischen dann doch auf schmittianische Weise knallhart gemäß Freund-Feind-Zuschreibungen handelnd.
Ja, das Ökonomische ist wesentlich. Kriselt es, krankt die Gesellschaft an der Basis. Die FDP scheiterte gerade famos, weil sie das korrigieren wollte. Notwendigste Veränderungen werden weiterhin ausgesessen, weil darüber Wahlen verloren würden. Mit einer Billion Schulden aber kann ja jeder regieren. Vorerst jedenfalls.
Die „Freie Presse“ aus Chemnitz am 31. Juli trefflich zur finanziellen Situation:
Mit der realitätsverweigernden Ruhe des Dirigenten der Tanzkapelle auf der Titanic präsentiert Bundesfinanzminister Lars Klingbeil seinen Haushaltsentwurf für das Jahr 2026. Und während unter Deck das eindringende Wasser schon seine Verwüstungen anrichtet, preist der oberste Taktgeber der Finanzpolitik seinen Etat in unangebrachter Fröhlichkeit als ‚Meilenstein‘. Vielleicht ist er das in gewisser Weise sogar. Lars Klingbeil wird bis zum Ende der Wahlperiode so viele Schulden aufnehmen wie alle Bundesfinanzminister vor ihm. Und trotz der beträchtlichen Ausweitung der Schuldenlast klafft in dieser Vorplanung bis 2029 noch immer eine atemberaubende Finanzierungslücke von 172 Milliarden Euro.
Nur geraten selbst ökonomisch kriselnde Gesellschaften nicht zwingend in eine politische Turbulenz. Die stellt sich erst ein, wenn keine klare Rede mehr möglich ist, wenn sich zwischen entscheidenden Gruppen eine umfassende Kommunikationsstörung ergibt, wenn die eigentlich existentiellen Probleme von einer dreisten Propaganda-Rhetorik verdeckt werden und sich jene ausgeschlossen oder verfolgt sehen, die Fehlstellungen klar ansprechen, um sie zu korrigieren. Wenn also die Diskursgesellschaft selbst zur leeren Phrase geschrumpft ist, weil insbesondere doch der Diskurs sogar von Staats wegen verhindert und Korrektive verunglimpft oder kriminalisiert werden.
Der Soziologe Andreas Reckwitz sieht die heutige Gesellschaft in vier Klassen gegliedert, die sich nach sozialer Stellung, kulturellem Kapital und verändertem Lebensstil deutlich unterscheiden.
An der Spitze identifiziert er eine kleine Oberschicht, die mit ihrem ökonomischen und kulturellen Einfluß die gesellschaftlichen Entwicklungen prägt. Darunter gestaffelt zwei Fraktionen der Bourgeoisie, zum einen die neue Mittelschicht, als einflußreichste Gruppe im Wandel der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und über die Bildungsexpansion seit den siebziger Jahren entstanden.
Sie gibt seit den nuller Jahren den Ton an, folgt den in ihrer Schul- und Hochschulausbildung erworbenen Illusionen hinsichtlich Menschen- und Weltbild und schuf sich mit allerlei Abstrakta um Menschenrecht und Menschenwürde eine Utopie, der mittlerweile nicht nur in den USA eine starke Reaktion vital entgegentritt. Politisch. – Philosophisch möchte man mit Nicolai Hartmann anmerken:
Wer die Augen verschließt vor der Welt, wie sie ist, verschließt sie auch vor dem Wesen der eigenen Aktivität und des eigenen Könnens. Denn dem Geiste ist keine Allmacht gegeben, sondern begrenzte Macht; und ebenso begrenzt ist die Freiheit – überall gebunden an Bedingungen der Verwirklichung, die nicht er erschaffen hat …
Allein daß Wokeneß und irrste Umwertungen bewährter Werte von amerikanischen Elite-Universtäten, also von den Rich-Kids ausgingen, zeigt ja, inwiefern es die neue Bourgeoisie ist, deren in die Falle des Idealismus laufende Heils- und Erlösungserwartungen die Gesellschaft dominieren konnten und den pessimistischen Lebensernst realistischer Politik zugunsten verhängnisvoller Utopien auflösten.
Die Rich Kids wuchsen in einer Alltagswelt enormer kultureller und institutioneller Entlastung auf, die sie fatalerweise für selbstverständlich hielten – eine Gefahr, auf die maßgeblich Arnold Gehlen verwies.
Noch dramatischer in der Folge: Die in den neunziger und nuller Jahren wohlständig Aufgewachsenen, von ihren postachtundsechziger Lehrern zu Narzißten erzogen, sehen sich per se und leistungsfrei als jene guten Menschen an, an deren Wesen die Welt genesen würde, hielte die sich endlich an ein vermeintlich grundverordnetes Menschenbild. Überhaupt wäre der Mensch ur-gut, richtete man ihm dazu nur die besten Bedingungen ein – von frühkindlicher Förderung bis zu allumfassender Inklusion und Teilhabegarantie.
Die neue Mittelschicht besteht nach Reckwitz aus gut ausgebildeten Akademikern, die in wissensintensiven oder in sogenannten kreativen Berufen tätig sind – in Medien, Forschung, Medizin und in der Finanz- oder Rechtsbranche. Genau das sind die woken Multiplikatoren.
Die linksdrehende Neobourgeoisie jedenfalls lebt urban, versteht sich als weltoffen, scheint risikobereiter und ist am kosmopolitischen Liberalismus der Anywheres orientiert. Der mit Wertschöpfung verbundene Dreck liegt nicht mehr vor der eigenen Tür, sondern längst irgendwo im „globalen Süden“. Sie wollen und müssen ihn nicht sehen und trösten sich mit Fair-Trade-Aufklebern und Lieferkettengesetz über Zweifel hinweg.
Im lebenskulturellen Gegensatz zur neuen steht nach Reckwitz die alte, tendenziell absteigende Mittelschicht, einst hervorgegangen aus der traditionellen Industriearbeiterschaft. Sie hat ihre frühere Dominanz verloren, mit der sie die alte Bundesrepublik prägte, wird im Kleinstädtischen und Ländlichen verortet, hängt noch an traditionellen Werten wie Disziplin, Fleiß und lokaler Verwurzelung und zeigt sich von der Globalisierung verunsichert.
Obgleich nicht trendig, sondern spürbar auf der Verliererstrecke, bewahrt sie doch Tugenden, die lebenspraktisch über Jahrhunderte galten und sich in Rückbesinnung alsbald als so hilfreich wie notwendig erweisen dürften: Maß und Mitte, Skepsis und Selbstkritik, gesunder Menschenverstand, hier und da sogar Religiosität.
An der Basis der Gesellschaft befindet sich schließlich die Unterschicht der Geringqualifizierten. Während diese Gruppe bis in die späten Neunzigern noch von harter körperlicher Arbeit leben konnte („Kannste Karre schieben, kannste Arbeit kriegen.“), ist sie heute von prekären Verhältnissen betroffen und improvisiert instabile Erwerbs- oder Maßnahmebiographien. Bislang lebt sie von Transfers und Bürgergeldzahlungen und wird zahlenmäßig durch die Massenmigration verbreitert.
Reckwitz beschreibt ihre Lebenslage als ein „Sich-Durchwursteln“, da langfristige Planungen kaum möglich sind und schon das Bewältigen des Alltags schwerfällt.
Diese Gruppe sieht sich durch die neue Mittelschicht abgewertet – eine Kränkung, die sie nicht zuletzt zur stabilen Wählerschaft der AfD werden ließ, während sie früher eher der Linken und deren Umverteilungsverheißungen zuneigte. Nur stiegen maßgeblich einst Linke eben zur Neubourgeoisie bzw. zu jener neuen Mittelschicht auf, die Reckwitz identifiziert.
Sie wird von den Verlierern als Gegner angesehen, nicht zuletzt, weil von dieser modernen „Bionade-Bourgeoisie“ die von der Unterschicht empfundenen Herabsetzungen ja ausgehen. So betonen die Bessergestellten mit eindeutiger Diskriminierungsabsicht, die AfD würde vorzugsweise von Menschen mit geringeren Bildungsabschlüssen gewählt.
Die Botschaft: Wer rechts wählt, ist dumm; der Dumme wählt rechts. Nichts aber kränkt so sehr wie Überheblichkeit und Arroganz, um so mehr, wenn die noch moralisieren und erziehen will.
Daß sich die Unterprivilegierten in Sozialkonkurrenz zum bisher wachsenden Migrantenzustrom befinden, verstärkt nachvollziehbar deren Ressentiments gegenüber dem neulinken Establishment einerseits und die Affinität zur AfD andererseits, während sich die neue Mittelschicht mit verblüffender Vehemenz als gläubige Fürsprecherin der Zuwanderung profiliert – samt der zähen Legende, diese würde die Gesellschaft bereichern und deutschen Arbeitern und Angestellten später die Rente bezahlen.
Während doch gerade „unten“ erlebbar ist, daß „Zuwanderer“ entgegen aller Politromantik mit hohem Prozentsatz alimentiert werden müssen. Immerhin sind laut Bundesagentur für Arbeit knapp 48 Prozent der Ausländer und 35 Prozent der Deutschen mit Migrationshintergrund Bürgergeldbezieher, während lediglich 17 Prozent der Bio-Deutschen dazugehören. Focus-online notiert: 63,5 Prozent der Bürgergeldbezieher haben einen Migrationshintergrund.
Reckwitz weist zwar auf eine Dynamisierung von Auf- und Abstiegen sowie damit verbundene kulturelle Auf- und Abwertungen hin, ausgelöst von Veränderungen wie Postindustrialisierung, Bildungsexpansion und Wertewandel; allerdings scheint diese Dynamik insbesondere für die Unterschicht in Statik und Verfestigung eingemündet zu sein, während die neue Mittelschicht in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung an Einfluss in dem Maße gewinnt, wie die traditionelle an kultureller Dominanz verlor.
Die Wohlmeinenden schockt – wenngleich zunächst noch halbbewußt – die Ahnung, daß Kritik nurmehr noch von rechts möglich ist, vermutlich gar mit besonderem Esprit sogar von rechts der AfD oder aus dem vorpolitischen Raum.
Das hat systemische Gründe, insofern ein erfrischendes Denken und Sprechen outsite the box innerhalb der Gesellschaft des lauten, aber an sich verzagten „Wir sind mehr!“, also unter den selbsterklärt Anständigen nicht mehr möglich ist. Zudem wissen auch diese Angepaßten, daß Kranken‑, Pflege‑, Rentenkassen zu scheitern drohen und das Sozialsystem zerbricht.
Die intellektuelle Rechte erzeugt spürbar Resonanz, ablesbar aktuell an der Dynamik und dem beeindruckenden Spektrum des jüngsten Sommerfests in Schnellroda, mehr noch aber an der Abwehrhysterie, die ihr entgegenschlägt. Selbst Vielfalt, Toleranz und freimütigen Diskurs gibt es nur noch rechts – selbst für linke Gäste.
Rheinlaender
In den Wirtschaftswissenschaften gibt es Untersuchungen über das Wesen dysfunktionaler Organisationen. Ein Kennzeichen solcher Organisationen ist es demnach, daß sie die Lage, in der sie sich bewegen, nicht mehr verstehen und im Blindflug agieren. In der Spätphase solcher Organisationen würde die Ansprache von gravierenden Problemen aktiv tabuisiert, weil die jeweiligen Führungen Diskussionen über ihre Verantwortung sowie über die harten Maßnahmen, die eigentlich erforderlich wären, um die Organisation noch zu retten, vermeiden möchten. Für eine gewisse Zeit steht dann noch die Fassade der Organisation während die Probleme wachsen und ihre weitsichtigeren Mitglieder (die bislang ihre wichtigsten Stützen waren) frustriert von ihr abwenden, bis es dann zur Katastrophe kommt, die mit keinerlei Maßnahmen mehr bewältigt werden kann, weil die Probleme nun zu groß und die verbliebenen Bewältigungsfähigkeiten zu schwach geworden sind.