Der aus einer deutschen Sicht gestellten Frage »Wie weiter mit Rußland?« nähere ich mich mit dem notwendigen Maß an Skepsis, mit Zweifeln, mit entromantisierender Kritik, die auch für mich unangenehm ist. Mit einem Wort – mit Verantwortung und Vernunft, woran es bei vielen derjenigen mangelt, die in den Hauptstädten Europas – und Moskau gehört dazu – die Entscheidungen treffen.
Verantwortung und Vernunft zwingen jedoch nicht zu kühler Neutralität. Was in den letzten Jahren geschehen ist und was gerade geschieht – sowohl in Rußland als auch in den Ländern des sogenannten Westens –, hat den Charakter tektonischer, wenn nicht gar schicksalhafter Ereignisse. Weltweit wird die Außenpolitik immer spürbarer auf das Recht des Stärkeren reduziert, während die Innenpolitik zunehmend autoritäre Züge annimmt. Kein Wunder, weil die Situation einen Krisenpunkt erreicht. Wir leben also in den Jahren der Entscheidungen.
Für Europa insgesamt und für Deutschland im besonderen sind zwei Probleme von zentraler Bedeutung. Es handelt sich erstens um die Gefahr eines großen Krieges in Europa und zweitens um eine Austauschmigration, gepaart mit einer negativen demographischen Entwicklung im Inland. Diese Probleme betreffen alle Länder des »Großen Europas«, eines Europas also, zu dem selbstverständlich auch Rußland gehört. Eine Antwort auf die Frage »Wie weiter mit Rußland?« wird das zu berücksichtigen haben. Gehen wir also auf beide Punkte ein.
Die Beziehungen zwischen unseren Ländern sind so angespannt wie nie zuvor seit dem Kalten, vielleicht sogar seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Lage wird von Monat zu Monat alarmierender. Wenn Kanzler Merz beschlossen hat, interne Probleme dadurch zu lösen, daß er die Wirtschaftskrise durch Rüstungsinvestitionen und die politische Instabilität durch die Androhung eines Krieges zu überwinden versucht und auf diese Weise Deutschland in die Eskalation des Krieges in der Ukraine stellt, dann spielt er ein äußerst gefährliches Spiel.
Denn alles wird zweitrangig angesichts der Perspektive eines großen Krieges, an dem die Armeen der EU-Länder direkt beteiligt sein werden.
Die Bedingungen, Politik im Interesse der deutschen, russischen, polnischen, ungarischen, ukrainischen – welcher Nation auch immer zu treiben, werden beseitigt durch einen Krieg, in dem es keinen Sieger geben kann. Deshalb sollte die Hauptaufgabe unserer Zeit – auch wenn es banal klingt – der Frieden sein, der Frieden in Groß-Europa, die Verhinderung eines Krieges zwischen den EU-Ländern und Rußland. Es wäre ein Krieg, für dessen »Unvermeidbarkeit« kein einziges Argument gefunden werden kann. Ein weiterer Europa-Krieg wäre eine echte, fatale Katastrophe – ein Aderlaß, den unsere Völker und Kulturen nicht überleben würden.
Von allen politischen Kräften in Europa verstehen dies am klarsten diejenigen, die man als rechts, konservativ, souveränistisch bezeichnet. Es sind politische Kräfte, deren Handeln nicht auf ideologischer Gesinnungsethik beruht, sondern auf Verantwortungsethik, mithin auf der oft unangenehmen Realität. Frieden und Sicherheit im europäischen Raum sind unmöglich, wenn dieser Raum von Frontlinien durchzogen ist.
Auch der neue Eiserne Vorhang ist eine solche Frontlinie. Ein dauerhafter Frieden für Europa und Rußland kann aber niemals gegeneinander, sondern nur miteinander erreicht werden. Nur eine tiefgründige Zusammenarbeit zwischen den führenden EU-Ländern (allen voran Deutschland) und Rußland kann ihn sichern. Dies ist unter der Bedingung gegenseitiger Öffnung, gegenseitiger Zugeständnisse, der Rücksichtnahme auf die jeweiligen Interessen und im Rahmen eines ruhigen und respektvollen Dialogs möglich. Die Grundlagen dafür zu schaffen erfordert in der gegenwärtigen Lage Anstrengungsbereitschaft und Mut – einen größeren wohl als den, mit zweifelhaften Motiven für einen Krieg zu rüsten.
Natürlich ist die Frage berechtigt: Auf welcher Grundlage ist ein »Weiter mit Rußland« möglich? Dreieinhalb Jahre Ukrainekrieg sind ein riesiger Graben, und die an Rußland angrenzenden NATO-Länder sichern ihre Seite mit Minen und Stacheldraht. Fast alle Beziehungen zwischen Moskau und Berlin sind von Politikern zerstört worden, die sich jederzeit aus der Verantwortung stehlen können, indem sie einfach aus dem Amt gehen oder aus Altersgründen verschwinden und der nächsten Generation die brennende Zündschnur zu einem riesigen Pulverfaß in die Hand drücken.
Deutschland, durchideologisiert, hat geflüchtete russische Oppositionelle beheimatet, denen die russische Realität fremd ist und die sich nun bestenfalls naiv-moralisch produzieren, vielleicht aber sogar einen Bombenhagel auf die Köpfe ihrer eigenen Landsleute fordern. Auf der anderen Seite unterstützt die plumpe und primitive russische Propaganda eine absurde DDR-Nostalgie im Osten Deutschlands. Sie wird von Leuten gemacht, die selbst nicht an das glauben, was sie sagen: die Huldigung Stalins und der sowjetischen Fahne am 9. Mai in Berlin, die Idee eines gottgesegneten Rußlands als »Arche des Heils« – was soll dieses Niveau einer kulturellen und politischen Kommunikation austragen?
Wir müssen neu und anders denken. Denn, und das wird der äußere Rahmen meiner Überlegungen sein, es ist sehr wahrscheinlich, daß Rußland und die EU-Länder nach dem Ende des Ukrainekrieges geopolitisch zweitrangig sein werden. Das ist eine ziemlich mutige Hypothese.
Was meine ich damit? Geopolitische Zweitrangigkeit in einer postunipolaren Welt (längst eine Tatsache!) bedeutet die Reduzierung der außenpolitischen Rolle auf die einer Regionalmacht in wirtschaftlicher, militärischer, demographischer und weltanschaulicher Hinsicht. Wie es in Kreisen führender russischer Politikwissenschaftler heißt, markiert Rußland in der Ukraine seine Grenzen und stoppt den Prozeß der Verringerung und Verkleinerung seines Einflußbereichs, der mit dem Zusammenbruch der UdSSR begann.
In gewissem Sinne ist das tatsächlich so, und dies sagt viel aus. Denn inwieweit ein Land in der Lage ist, in jeder Ecke der Welt Ordnung zu schaffen oder zu zerstören, oder nur bei seinen Nachbarn, oder nur innerhalb seiner eigenen Grenzen – darin liegt die Antwort auf die Frage, über welches tatsächliche Potential das Land verfügt.
Wo liegen also die Grenzen, die Rußland als seine Einflußzone markiert? Die wichtigste Folge des Ukrainekrieges, die sich bereits heute feststellen läßt, ist die Erosion der strategischen Tiefe Rußlands. Diese Tiefe beschränkt ihren direkten Einfluß auf den »Russisch-Belarussischen Unionsstaat« (also die tatsächlichen Grenzen der Russischen Föderation und Weißrußlands).
In dreieinhalb Jahren hat sich die Sicherheitsarchitektur in Eurasien radikal verändert. Mit dem Einmarsch in die Ukraine und dem Übergang des Verlaufs in einen Stellungskrieg begann das geopolitische Gewicht Rußlands zu schwinden. Der verlustreiche Graben- und Häuserkampf bringt selbst dieses riesige Land an den Rand seiner Kraft und bindet wichtige Ressourcen – von den menschlichen Tragödien, die der Führung vorgerechnet werden, gar nicht zu reden.
Die Länder, die Rußland umgeben, haben sich in einer zentripetalen Logik für andere Machtzentren entschieden – Kasachstan wie auch Georgien im großen und ganzen entwickeln ihre eigene Sicherheitsstrategie und nähern sich der NATO an. Noch im Januar 2022 sorgte Rußland durch die Einführung von OVKS-Truppen für politische Ordnung in Kasachstan, und was nun?
Aserbaidschan, das sich auf die Türkei stützt, hat endgültig die Berg-Karabach-Frage gelöst, verstärkt offen die Zusammenarbeit mit der Ukraine und sucht offensichtlich nach einer Konfrontation mit Moskau; Armenien hat den russischen Orbit faktisch verlassen – sein Schicksal liegt angesichts der schwächelnden Position Irans ganz in den Händen seiner türkischen Nachbarn.
Usbekistan, Tadschikistan und andere zentralasiatische Länder drängen ihre eigenen islamistischen Radikalen nach Rußland, versorgen Moskau mit Millionen von Gastarbeitern und geraten gleichzeitig immer stärker in den Einflußbereich Chinas. Die Frage nach der Abhängigkeit Rußlands von China – ob in Zukunft oder schon jetzt – ist offen. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund, daß Rußland von diesen Staaten nicht als Verbündeter, sondern als potentielle Bedrohung angesehen wird.
Rußlands Einfluß im Nahen Osten ist gleich Null, im Norden hat Rußland es statt mit einem neutralen Finnland nun mit einer mehr als tausend Kilometer langen NATO-Grenze zu tun, und ganz Europa verwandelt sich in eine antirussische Militärkoalition mit Deutschland als deren militärisch-industriellem Herz.
Zwischen den Einflußsphären Rußlands und der NATO gibt es de facto keinen Puffer mehr: Das hat das Risiko eines großen Konflikts erhöht – eines Konflikts, an dem Rußland aufgrund des gerade Gesagten kein Interesse haben kann. Aber eine eskalierende halbirrationale Reaktion ist natürlich nicht ausgeschlossen.
Die EU-Staats- und Regierungschefs, die von der Wertekonfrontation, der dämonisierten Vorstellung grenzenloser imperialer Ambitionen Rußlands und dem Wunsch getrieben werden, die innenpolitische und wirtschaftliche Krise zugunsten der eurobürokratischen Eliten zu lösen, könnten ein solches kriegerisches Bestreben haben. Die Rolle Großbritanniens (nicht mehr in der EU, aber in der NATO) bei der Zusammenführung der Länder an der NATO-Ostflanke sollte dabei hervorgehoben werden.
Angesichts der schwindenden Bedeutung Rußlands und der wachsenden militärischen und politischen Autonomie Europas aufgrund der Trump-Politik ist ein großer Krieg zur realen Perspektive geworden. Doch fast überall steht die Frage des Elitenwechsels auf der Tagesordnung.
In Deutschland, in fast allen EU-Ländern, sind vernünftige politische Kräfte kurz davor, die Macht zu übernehmen. In Rußland denken verschiedene Einflußgruppen, darunter auch europäisch orientierte konservative Intellektuelle, über ein Modell ideologischer und außenpolitischer Einstellungen nach: Austausch und Wettbewerb können mit der bevorstehenden Erneuerung des politischen Apparates auf allen Machtebenen beginnen.
Das ist ein Schlüsselmoment. Ob die Kriegs- oder die Friedenspartei in Berlin und Moskau gewinnt, hängt in hohem Maße davon ab, wem es gelingt, ein überzeugendes Bild von der Zukunft des Zusammenlebens von Rußland und Europa zu entwickeln. Auf welcher Grundlage ist also ein »Weiter mit Rußland« möglich?
Jede Perspektive von einer geschlossenen Ideologie im gegenwärtigen System der Russischen Föderation ist utopisch. Der kontrollierte, formale Loyalismus ermöglicht nicht nur die Schaffung einer plastischen und eklektizistischen Erzählung, sondern auch ihre beliebige Änderung – über Nacht werden Helden zu Verrätern und Feinde zu Partnern.
In den 35 Jahren moderner russischer Staatlichkeit ist keine lebendige Sozialphilosophie, Ideologie oder politische Anschauung geboren worden. Das Land lebt in einer fast postmodernen Polyphonie von Fragmenten sich gegenseitig ausschließender Symbole und Bedeutungen. Daher sollte man einzelnen Signalen und Phrasen (ob sympathisch oder erschreckend), die in den öffentlichen Raum eindringen, nicht zu viel Bedeutung beimessen. Die derzeitige Rahmenideologie ist bequem, ihre Anwendung, vor allem in den letzten Jahren, ist verständlich und gut nachvollziehbar. Sie bietet jedoch keine Lösungen für viele grundlegende Probleme, sie vermittelt kein klares Zukunftsbild, ohne welches das Land einfach stromabwärts treiben wird. Und das ist ein Strom, der zu nichts Gutem führt.
Die Frage nach einem ernsthaften Ideologie- oder Werteexport ist mehr als angebracht. Alles, was Rußland und vor allem einige seiner leider bekannten Vertreter heute verbreiten, hat keine Originalität, ist inhaltlich leer und richtet sich sogar gegen sich selbst. Rußland ist ein potentielles Opfer des »Globalen Südens«, nicht weniger als die EU-Länder. Von der rechtzeitigen Erkenntnis dieser Bedrohung und der Entwicklung geeigneter politischer Maßnahmen hängt die Existenz der traditionellen ethnisch-kulturellen Gemeinschaften des Großen Europas ab, zu dem sowohl Deutschland als auch Rußland gehören.
Deshalb liegt die Antwort auf die Frage »Wie weiter mit Rußland?« in einem gemeinsamen Ansatz für gemeinsame Probleme. Von Moskauer Seite aus kann dies nicht allen Kräften in der EU angeboten werden, sondern nur den rechtskonservativen Parteien – so wie das, was geboten ist, auch nicht zu jeder politischen Kraft in Rußland paßt. Es geht um die Herausforderungen des ethnokulturellen Drucks vom »Süden« und die damit verbundene Verschärfung der demographischen Krise.
- Zum Ghetto gewordene Bezirke deutscher Großstädte? Das gehört auch zur russischen Realität.
- Schulen, in denen kaum ein einheimisches Kind mehr zu finden ist? Das gehört auch zur Realität der russischen Schulen.
- Ethnomafia, die nicht den deutschen Gesetzen unterworfen ist? Das gehört auch zur Realität des russischen Rechtsraums.
- Das Schlachten von Schafen auf den Straßen der deutschen Städte? Das gehört auch zur Realität auf den russischen Straßen.
- Die sichtbare Islamisierung der Bundespolizei und anderer staatlicher Stellen? Das gehört auch zur Realität russischer Sicherheit.
- Das Vorantreiben der Multikulturalisierung des mehrheitlich homogenen deutschen Volkes? Das gehört auch zur Realität der russischen Identitätspolitik.
- Die Unzulässigkeit des Remigrations-Gedankens und der Schließung der deutschen Grenzen? Das gehört auch zur Realität der zentralasiatischen Grenzen Rußlands.
- Aktive Bewaffnung von Migranten, Netzwerke von Untergrundkampfclubs, sich radikalisierender religiöser Fundamentalismus – das ist Deutschland. Das wissen wir alle. Nicht überall, aber schon sehr deutlich zu sehen. Aber das ist auch Rußland – nicht überall, aber schon sehr deutlich zu sehen.
Diese Aufzählung läßt sich noch lange fortsetzen. Offiziellen Angaben zufolge kamen allein im Jahr 2024 6,3 Millionen Migranten nach Rußland, vor allem aus Zentralasien, die Hälfte von ihnen zum Arbeiten, wie es heißt. Mehr als eine halbe Million von ihnen hat sich bereits im Land niedergelassen. Und diese Masse der zentralasiatischen Migranten liegt nicht parasitär dem Sozialstaat auf der Tasche, sondern ist in das Wirtschaftssystem eingebunden – vor allem im Dienstleistungssektor (von Konsum und Unterhaltung bis hin zu Medizin und Bildung).
Das moderne Rußland ist im Vergleich zu Europa viel weniger ideologisiert. Daher wird die Migrations- und Demographiefrage unter rein technischen Aspekten betrachtet: Wer wird wann aufgrund welcher Wirtschafts- und Bevölkerungsplanung benötigt? Denn Rußland stirbt mit einer rekordverdächtigen Intensität aus:
Der natürliche Bevölkerungsrückgang betrug im Jahr 2024 fast sechshunderttausend Menschen. Was die Zahl der Neugeborenen betrifft, war das erste Quartal 2025 nach vorläufigen Schätzungen das schlechteste seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Ein unkluger und gegenüber ethnisch-kulturellen Fragen blinder Ansatz zur Lösung des demographischen Problems führt dazu, daß die Profiteure von Sozialleistungen hauptsächlich Migranten aus Zentralasien sind.
Letztlich führt dies zu einem ethnisch-kulturellen Kippunkt. In Moskau zum Beispiel hat der Anteil der Migranteneltern fast die 50-Prozent-Marke erreicht – ich erinnere daran, daß hier nur die Staatsangehörigkeit, nicht aber deren ethnische Herkunft berücksichtigt wird, das heißt, eine Person mit russischem Paß geht als »Russe« in die Statistik ein.
In St. Petersburg wurde die 50-Prozent-Marke bereits überschritten. Die Gesamtbevölkerung Rußlands wird sich, wenn sich die derzeitigen Tendenzen fortsetzen und die Migration nicht berücksichtigt wird, bis zum Jahr 2100 fast halbieren. Um dies rein quantitativ zu verhindern, ist eine Ersatzmigration in Höhe von 1,1 Millionen Menschen jährlich erforderlich.
Rußland ist dabei ebenfalls Wunschort für die Länder des »Globalen Südens«, und die Leute, die über diese Situation entscheiden, sind blind für die ethnisch-kulturelle Komponente des Volksverständnisses als Grundlage von Staat und Kultur.
Der Staat mag blind sein (und wir wissen sehr wohl, daß der Staat der Moderne als solcher genau so ist), die Wirklichkeit des Lebens ist es jedoch nicht. Die Demographie wird im 21. Jahrhundert zur wichtigsten, weil existentiellen Herausforderung für alle europäischen Nationen, und es gibt keinen Ausweg aus dieser Realität. Die europäische Zivilisation ist also heute durch die Konfrontation zwischen West und Ost gespalten, aber durch gemeinsame Probleme miteinander verbunden.
Gleichzeitig ist klar, daß es nicht wie bisher weitergehen kann, denn die Frage »Wie, mit wem und wohin weiter?« stellt sich anders. Die lauten Worte über »jahrhundertealte traditionelle Werte« und zivilisatorische Standards der russischen Staatlichkeit sind eine spanische Wand, hinter der das Land in eine bestimmte Richtung driften wird. Europa? China? Globaler Süden / Islam? Globaler Norden? Die Beantwortung der Frage »Wie weiter mit Rußland?« hängt davon ab, zu welchem Pol Moskau schließlich tendieren wird.
Mit vorsichtigem Optimismus kann man behaupten, daß die meisten Vertreter der neuen politischen Generation, die jetzt aufkommt, dieser Einschätzung zustimmen dürften: Es kann nur um eine echte konservative Wende gehen, die wiederum nur europäisch sein kann – vollzogen gemeinsam mit den führenden europäischen Ländern oder ohne sie, eine Wende jedenfalls, die mit einer umfassenden Modernisierung und Neugestaltung des Landes einhergeht, möglich nur auf der Grundlage von Veränderungen im politischen Leben und im Massenbewußtsein.
Die Notwendigkeit dafür wird durch eine konservativ-intellektuelle Agenda unterfüttert, die in den politischen Kreisen der zweiten Reihe, also bei den potentiellen Machthabern von morgen, auf großes Interesse und Sympathie stößt. Diese Agenda findet in der Öffentlichkeit kaum Gehör, sie wird vom verantwortungslosen Lärm verschiedener »Patrioten« übertönt. Das sollte jedoch nicht verwirren – viele von ihnen erlauben sich solche apokalyptischen Eskapaden, weil die einen glauben, daß ihre Worte wertlos sind, und andere niemals in die Nähe echter Entscheidungen kommen werden.
Ich sprach vor anderthalb Jahren in Schnellroda über fünf Typen des modernen russischen Konservatismus – über die links-konservative / links-patriotische Bewegung, über die Neo-Monarchisten, die eurasischen Traditionalisten und über die national-demokratische Richtung. Seitdem hat es keine grundlegenden Veränderungen gegeben, und es ist nicht nötig, jetzt im Detail darauf einzugehen.
Ernst zu nehmen ist eine fünfte Gruppe. Sie ist am wenigsten auffällig, wie es fast ausnahmslos in Staaten der Fall ist, in denen der Einfluß auf die Politik nicht durch Wahlen und Medien, sondern im Hinterzimmer und durch persönliche Beziehungen ausgeübt wird. Die Kunst ist, die richtige Idee auf die richtige Art und Weise zur richtigen Zeit an die richtige Person zu bringen.
Diese fünfte Gruppe wurde damals als »aufgeklärte Konservative« bezeichnet. Es handelt sich eher um eine bestimmte Denkweise, eine weitverbreitete oder sogar dominante Position in akademischen, akademienahen und politiknahen intellektuellen Kreisen, die nicht in irgendwelchen formellen öffentlichen Organisationen vertreten sind und keine direkte politische Vertretung haben (in Form einer Partei etwa). Wenn man so will, geht es um eine Variante dessen, was in Deutschland als Vorfeld bezeichnet wird, ausgerichtet an den Besonderheiten, nach denen das russische politische Modell funktioniert.
Es handelt sich um einen konservativen und national orientierten Reformismus. Als Ausweg aus der gegenwärtigen Krise werden eine Wiederherstellung und eine Normalisierung der Kontakte zu Europa und den USA angesehen. Trotz fehlender öffentlicher Organisationsstrukturen und geringer Aktivität im gesellschaftspolitischen Raum haben Vertreter dieser Denkrichtung den größten Zugang zu administrativen Ressourcen und breite Verbindungen im politischen Umfeld. Ihre Bereitschaft, kulturell, intellektuell und langfristig auch politisch mit konservativen Kräften in Europa und den USA zu kooperieren, kann die Entwicklungsrichtung Rußlands in naher Zukunft wesentlich mitbestimmen.
Bei diesen Überlegungen müssen Europa und die USA natürlich getrennt betrachtet werden. Mit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus und seiner exzentrischen Rhetorik sind viele Menschen in Rußland an Trumpophilie erkrankt. Die USA seien wieder zu unseren Freunden geworden, Putin und Trump hätten den Krieg in der Ukraine zu für Moskau günstigen Bedingungen beenden oder gar Europa neu aufteilen können.
Dieser schizophrene Ansatz ging manchmal in offene, beschämende Formen der Kriecherei über. Diejenigen aber, die Trumps USA eher zurückhaltend, aber positiv gegenüberstehen, sahen eine Chance für die amerikanisch-russische Kommunikation. Man hätte das ukrainische Problem, und viele andere, über den Kopf der EU hinweg lösen können.
Dieses Zeitfenster ist noch nicht ganz geschlossen, aber die Realität hat alle ernüchtert. Die russisch-amerikanische Situationsallianz, von der viele vor sechs Monaten ernsthaft sprachen, wurde nicht verwirklicht. Und vielleicht zum Glück: Denn für Rußland, das an China angrenzt, lohnt es sich eindeutig nicht, sich in der Konfrontation zwischen den USA und China in den Selbstmord zu stürzen und für China das zu werden, was die Ukraine für Rußland geworden ist.
Die russisch-europäische Zusammenarbeit erschien mir – nicht nur aus einer Reihe von persönlichen und allgemeinen Gründen – immer sympathischer, sondern auch objektiv vielversprechend. Überhaupt scheinen Europa und Rußland in einem Zustand geopolitischer Zweitrangigkeit miteinander allein gelassen zu werden, während Trump seine ganze Aufmerksamkeit auf den Iran und China richtet. Zum erstenmal seit dem Zweiten Weltkrieg kann es somit zu einer Situation kommen, in der Moskau und die europäischen Hauptstädte miteinander über die Sicherheit in Europa reden müssen – und nicht Moskau und Washington über die Köpfe der Europäer hinweg.
Es ist eine prinzipiell neue Lage, ein Risiko – und eine Chance. Es ist eine Chance für die rechten Kräfte in den EU-Ländern und für die ihnen freundlich gesinnten Kräfte in Rußland, aus diesem Fast-Krieg-Zustand von heute die Entspannung von morgen und die Zusammenarbeit von übermorgen zu machen. Durch den potentiellen Einfluß der erwähnten intellektuellen Kreise besteht diese Chance einer ernsthaften Wende des russischen Kurses, auch durch eine Öffnung hin zu den rechten Kräften in Europa.
Zu den wichtigsten dieser Kräfte gehört die AfD. Eine gewinnbringende und sorglos ressourcenbezogene Zusammenarbeit kann nicht mehr ausreichen, auch wenn sie unter den derzeitigen Umständen der erste Schritt sein kann. Die Grundlage für einen tiefen Austausch sollte die Zusammenarbeit auf der Vorfeld-Ebene sein, auch wenn sich Vorfeld-Strukturen in Rußland und Deutschland aus objektiven Gründen stark unterscheiden. Über diesen Raum ist es möglich, zu kommunizieren, gemeinsam nach Antworten und Lösungen zu suchen, Kontakte zu knüpfen, wichtige und sachliche Informationen an politische Akteure zu liefern.
Die Wende, von der ich als Russe spreche, ist auf der Grundlage der patriotischen Gesinnung jener neuen Generation von Vertretern des russischen Konservatismus möglich. Der Konservatismus des 21. Jahrhunderts muß sich nicht nur mit den offensichtlichen außenpolitischen Gefahren im Zusammenhang mit der NATO auseinandersetzen, sondern auch mit der Bedrohung durch den »Süden« und die Islamisierung, mit demographischen Fragen, mit den Aufgaben der wirtschaftlichen Modernisierung und mit neuen Ansätzen im Bereich der nationalen Identität und der Geschichtspolitik.
All dies wird nach dem Ende des Ukrainekrieges und der Erneuerung der Regierungseliten zu einer weitreichenden internen und externen Umstrukturierung führen. Und das weckt sowohl große Befürchtungen als auch bescheidene Hoffnungen.
Vorläufig und bis sich eine echte Gelegenheit zum politischen Handeln ergibt, müssen wir auf einer informellen, intellektuellen Ebene arbeiten. Wir brauchen eine qualitative Expertise und ein gemeinsames Nachdenken darüber, wie es mit Rußland und wie es mit Deutschland weitergehen kann. Dazu muß Rußland »weiter mit Europa« und »weiter mit Deutschland« wollen – und auch das ist keine einfache Frage.
Doch bei allem »Aber« ist die Hoffnung auf diese Zukunft ohne Alternative: Die Bewahrung der historischen und kulturellen Gestalt unserer Völker, die Bewahrung des Friedens in Europa – wer sollte daran arbeiten, wenn nicht wir? Und was sollten wir tun, wenn nicht das, was möglich ist?
Umlautkombinat
Ich sehe in der Analyse vieles wie der Autor, einen wesentlichen Punkt in der Loesung aber nicht. Er beschreibt - noch in der Analyse - einen Punkt, der dem Westen auch zu eigen ist:
Die konkreten Kategorien sind m.E. nicht die ganz Richtigen, aber die Quintessenz passt: Leere.
Zur Loesung - verkuerzt konservativ/rechte Umgestaltung - ein paar andere Zitate aus dem Artikel:
Offensichtlich soll der Westen hier der Exporteur sein. Das hat aber seine Limitierung, weil dasselbe Problem dort besteht. Das erhoffte Rechte/Konservative kann aber nach Eigendefinierung folgendes nicht bieten:
Ich verzichte problemlos auf 'klar', aber solange Progression und jede inhaltliche Neuentwicklung Progressivismus oder anders vom Teufel ist, wird das alles nicht klappen. Aus meiner Sicht ist das auch genau die fehlende Luecke um letztlich politisch und anderweitig in Macht zu kommen.