Sie lautet in aller Kürze: Die politische Führung der SBZ und späteren DDR, darunter Ulbricht und Pieck, wollte bis Anfang der 1950er Jahre die Ostgebiete zurück. Benedikt Kaiser hat die Äußerungen von Hein, die dem üblichen Bild der damaligen Außenpolitik völlig entgegenstehen, in der August-Ausgabe des Eckart zusammengestellt, so daß ich mich hier kurz fassen kann.
In einem Band mit Anekdoten aus seinem Leben, Gegenlauschangriff, hat Hein 2019 seine Verwunderung geschildert, mit der er Dokumente zur Kenntnis nahm, aus denen hervorgehe, daß sich der Dichter und kommunistische Kulturfunktionär Johannes R. Becher 1948 weigerte, an einen Intellektuellenkongreß in Breslau teilzunehmen, weil er die polnische Okkupation Schlesiens ablehnte.
Das sei aus einem Zeitschriftenartikel des Jahres hervorgegangen. Leider verrät uns Hein nicht, um welchen Artikel es sich handelt. Er unterstellte, daß Becher sich damit gegen die offizielle Linie der SBZ gestellt habe, konnte aber einige Jahre später seinen „Irrtum“ aufklären:
Keineswegs dissidierte Becher damals, seine Haltung entsprach vielmehr vollkommen der Politik der ostdeutschen Regierung und allmächtigen Staatspartei.
Die sei sogar noch über Becher hinausgegangen, die Rückkehr von Pommern und Schlesien wäre gefordert worden.
Starker Tobak, der damals, wie Kaiser anmerkt, völlig unbeachtet blieb, und der dem gewohnten Bild der Oder-Neiße-Friedensgrenze widerspricht. Hein hat diese These nun auch in seinem Narrenschiff eingebaut und diese Forderungen einige DDR-Funktionären in den Mund gelegt. Die Berliner Zeitung hat nach Erscheinen des Romans im März ein Interview mit ihm geführt und ihn auch zu seinen revisionistischen Ansichten befragt:
In Ihrem Buch erzählen Sie Ereignisse der DDR-Geschichte neu. Zum Beispiel soll sich Walter Ulbricht nach dem Krieg dafür eingesetzt haben, Pommern und Schlesien zurückzubekommen, die Gebiete sollten Teil der DDR werden. Ist das Fiktion oder wahr?
Diese Geschichte stimmt. Ulbricht hatte erkannt, dass dieses kleine ostdeutsche Land nicht überleben konnte. Die große Industrie war in Westdeutschland, in Hamburg und im Ruhrgebiet. Ostdeutschland war ein Agrarstaat, aber es fehlten die beiden großen Agrarflächen, Schlesien und Pommern. Die Hoffnung war, sie zum Gründungstag der DDR 1949 zurückzubekommen. Stalin weigerte sich. Ulbricht beharrte darauf. 1951 schlug Stalin auf den Tisch, Ulbricht musste einlenken. Und es passierte, was in solchen Situationen immer passiert: Man dreht sich um 180 Grad, und die Zeit davor wird totgeschwiegen. In der DDR-Geschichte tauchte Ulbrichts Forderung, Pommern und Schlesien wieder einzugliedern, nie mehr auf. […]
Woher wissen Sie das alles?
Mir fiel das vor etwa zehn Jahren auf. Da las ich, dass Johannes R. Becher, der DDR-Kulturminister, sich in den 1950er-Jahren weigerte, an der Weltkulturkonferenz in Wroclaw teilzunehmen. Er sagte, er würde in Breslau teilnehmen. Es erstaunte mich, dass es ein relativ kleiner Minister wagte, gegen die Staatsdoktrin vorzugehen und die polnische Stadt beim alten deutschen Namen zu nennen. Bis ich beim Nachforschen merkte: Das war damals die Staatsdoktrin, die Stadt sollte Breslau, also deutsch bleiben. In DDR-Zeitungen vom Anfang der 1950er konnte man das nachlesen. Für Ulbricht wäre das ein Riesenpunkt gewesen. Ostdeutschland wäre fast so groß wie Westdeutschland gewesen. Und es wären Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Deutsche zurückgekommen, um wieder ihre alten Höfe, Gehöfte und Felder zu übernehmen.
Folgt man diesen Aussagen, muß die Geschichte der frühen DDR in weiten Teilen neu geschrieben werden. Aber wie das so oft mit verblüffenden Behauptungen ist: Oft sind sie falsch, nur teilweise richtig oder gar nicht besonders neu. Aber der Reihe nach.

Selbst in der dicken Becher-Biographie von Jens-Fietje Dwars (Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998, S. 568) findet sich dazu keine andere Quelle. Für die Tragweite der Entscheidung von Becher, der ausweislich seiner Heimatdichtung durchaus ein national gesonnener Kommunist war, wäre es entscheidend, inwieweit die Weigerung, dort teilzunehmen, damals öffentlich wurde.
Daß sie in der SBZ öffentlich verbreitet wurde, ist nicht anzunehmen, da Heins Behauptung, die Rückgabe der Ostgebiete sei Staatsraison gewesen und man hätte das damals in den Zeitungen lesen können, nicht stimmt. Jedenfalls ist mir bei oberflächlicher Durchsicht des Neuen Deutschlands nichts derartiges aufgefallen. Falls jemand über derartige Quellen verfügt: her damit.
Wie steht es um den Wahrheitsgehalt der Behauptung, Ulbricht habe bis 1951 auf der Rückgabe der Ostgebiete bestanden? Auch das scheint Fiktion zu sein. Nicht nur, daß die DDR bereits im Juli 1950 die Oder-Neiße-Grenze anerkannte, Ulbricht gehörte zu denjenigen, die von Anfang an die Ostgebiete als verloren erklärten. Alles andere wäre bei einem derartig treuen Gefolgsmann Stalins tatsächlich ein Wunder.
Ich habe, um diese Frage zu beantworten, keine Archive aufgesucht, allerdings die mir bekannte wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema daraufhin durchgeschaut. Da mich Brandenburg ganz besonders interessiert, sind es Veröffentlichungen zur Geschichte Brandenburgs, die sich allerdings in dieser Frage nicht von der Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsens unterscheiden dürfte. Denn alle drei Länder waren von der neuen Grenzziehung 1945 unmittelbar betroffen.
In allen drei Ländern war die Ausgangslage durch die uneindeutigen Oder-Neiße-Festlegungen des Potsdamer Abkommens (Lausitzer oder Glatzer Neiße, welcher Oderarm?), die viel weitergehenden Forderungen der Polen (Stettin, Lausitz und 5–50-km-Sicherheitsstreifen westlich der Oder), das Fehlen des angekündigten Friedensvertrags und das Elend der Vertriebenen, die auf Rückkehr hofften und sich daher nicht in der SBZ einrichten wollten. Die SBZ-Parteien betrachteten daher die Grenzfrage als offen, ohne explizite Rückgabeforderungen zu erheben.
Der einzige Politiker, der von Anfang an die Dauerhaftigkeit der nach Kriegsende eingetretenen Oder-Neiße-Lösung akzeptiert hatte, war Ulbricht, obwohl weder er noch Pieck in die Vorbereitung von Grenzentscheidungen einbezogen worden waren.
Ulbricht hatte bereits auf der 1. Funktionärskonferenz der KPD Groß-Berlins am 25. Juni 1945 betont, die Gebiete östlich von Oder und Neiße seien für immer verspielt, und am 11. Juli 1945 erklärt: „Die früheren Bewohner aus den Gebieten östlich der Oder können sich nur in dem Gebiet, wo sie gegenwärtig leben, ansässig machen, da eine Rückkehr in das Gebiet östlich der Oder nicht möglich ist …“ Der Nazismus habe „die Gebiete östlich der Oder verspielt“.
Er bekräftigte diese Haltung im August desselben Jahres. Es hat den Anschein, daß beabsichtigt worden ist, diese Linie über bestimmte Kanäle zu propagieren und schließlich durchzusetzen. Darauf jedenfalls deutet ein Vermerk des Informationsdienstes der Kreisverwaltung Guben vom Mai 1946 hin. Danach war dieser angewiesen worden, der Bevölkerung keine Hoffnung auf eine Revision der Ostgrenze zu machen.
(Wolfgang Blöß: Grenzen und Reformen in einer Umbruchgesellschaft. Vom Land Brandenburg zu den Bezirken 1945 –1952, Berlin 2014, S. 62)
Andere Politiker, darunter Pieck und Grotewohl, haben durchaus Revisionen zugunsten Deutschlands gefordert, allerdings in sehr begrenztem Rahmen, bevor sie schließlich auf die Ulbricht-Linie einschwenkten. Bekannt geworden ist vor allem die Rede, die Wilhelm Pieck, damals SED-Vorsitzender und später erster und einziger Präsident der DDR, im Mai 1946 in seiner Heimatstadt Guben hielt, die durch die neue Grenze geteilt worden war.
Im Neuen Deutschland wurde wie folgt berichtet:
Im Verlauf der Kundgebung ergriff Genosse Wilhelm Pieck das Wort zu bedeutsamen Ausführungen […]: „Von der Ausrottung des Militarismus und der Reaktion, vom Aufbau der Demokratie, von der gesamten Entwicklung in Deutschland werde es abhängen, in welchem Umfang bei der Festlegung der Friedensbedingungen die Lebensinteressen des deutschen Volkes Berücksichtigung finden werden, auch hinsichtlich der Grenzfrage: So können auch die Werktätigen Gubens, wenn sie im Geiste striktester Demokratie mit aller Kraft am Aufbau arbeiten, die Hoffnung haben, daß eines Tages auch jenseits der Neiße liegende Teil der Stadt Guben wieder unter deutsche Verwaltung gestellt wird […].“
(Peter Bahl: Belastung und Bereicherung. Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berlin 2020, S. 349)
Diese und ähnliche Äußerungen fallen ausschließlich in die Zeit vor dem 20. Oktober 1946, denn an diesem Tag fanden in der SBZ die Wahlen zu den Landtagen statt. Die SED mußte um jede Stimme kämpfen, auch die der Vertriebenen. Nach dem Wahlsieg der SED waren solche Rücksichtnahmen immer weniger notwendig.
Hinzu kamen Veränderungen der Weltlage. Der Kalte Krieg verschärfte sich, die Amerikaner rückten von ihrer Unterstützung der Oder-Neiße-Linie ab und die Londoner Konferenz der Siegermächte beendete Ende 1947 alle Hoffnungen auf Grenzrevisionen.
Ein Jahr später sorgte Ulbricht dafür, daß sich auch in der SBZ die polnische Bezeichnung „Friedensgrenze“ für die Oder-Neiße-Linie durchsetzte. Daß das bei den Millionen Vertriebenen nicht auf Zustimmung stieß, ist klar, allerdings begann die SED zeitgleich damit, Vertriebenenvereine zu verbieten. Und die SED verschleierte erfolgreich die Unsicherheit, mit der man bis Herbst 1946 die Grenzfrage behandelt hatte. (vgl. Blöß: Grenzen und Reformen, S. 64f)
Um auf Heins Behauptungen zurückzukommen: Bechers Weigerung 1948 Breslau zu besuchen, ist vor diesem Hintergrund tatsächlich bemerkenswert. Offen bleibt die Frage, ob die Bewohner der SBZ etwas davon mitbekommen haben. Die SED klitterte tatsächlich ihre Geschichte, um den Eindruck zu erwecken, schon immer geschlossen hinter der Oder-Neiße-Grenze gestanden zu haben.
Allerdings betraf das Schwanken lediglich die Zeit bis zum Herbst 1946, um die Wählerstimmen der Vertriebenen zu bekommen. Und Ulbricht war in dieser Frage niemals schwankend gewesen, er mußte nichts vertuschen.
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Diogenes
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Die heutige Grundannahme um an einem Politgespräch teilzunehmen soll ja die ideologische Zwangsvorgabe der Gleichmacherei sein, wenn wir uns darauf einlassen: "Wir Menschen", was alle Menschenvölker/Menschenrassen verleugnet bzw. das kommunistische Konzept in Sprache/Denken/Geschichte verwurzeln will. Es gibt aber kein: "Wir Menschen". Das gab es nicht in der Geschichte und gibt es nicht in der Gegenwart - "Wir", meint immer das eigene Volk/Rasse/Sippe/Familie - Das, was Halt gibt und tief wurzelt, wenn der Sturm der Prüfung (ein Kataklysmus) das Oberflächliche abträgt und nur das Wesentliche über bleibt - das Sturmgeprüfte!
Das ist die Revision des "Menschenbildes", es gab und gibt phänotypische Großgruppen die als "Kreuzer" vorrücken, während andere noch in "Höhlen" leben und von dessen Errungenschaften schmarotzen (wollen). Das ist mal die Grundannahme im Diskurs: Menschen sind nicht einander gleich. Es sind nicht mal Menschen, wenn wir nach "Diogenes" bekannten Ausspruch gehen: "Menschen rief ich, keinen Abschaum! ...." Und daraus leitet sich auch die Ablehnung von gewissen Grundrechten ab, die der Gleichmacher einfach im Gespräch voraussetzt/erzwingen will.