„Die Nächste“, vielleicht fünf Meter entfernt sitzend, stand dann gleich, noch bevor der Sekretär rief, parat und sagte fröhlich-jovial:
Hab schon gehört, daß die Nächste hereindarf!
Die sympathische Fachfrau sagte spröde „gleich“ und schloß die Tür vor der Nase der Nächsten:
Sehen Sie, Frau Kositza. Die Frechheit der Leute heute kennt keine Grenzen. Ich glaube, da verstehen Sie mich genau.
Was ich sofort verstand: Frau. Dünnhäutig. Populäres Phänomen, seit ich denken kann. Oft war dabei ich die Nächste. Die, die anstieß. „Die Nächste“ hier in diesem Fall hatte es doch erkennbar nicht bös gemeint!
Ich wurde dann mit einer kulturpessimistischen Rede überschüttet. Wie alles einfach den Bach runterginge! Man merke es doch an allen Ecken und Enden! Überall nur Unverschämtheit! Sie erzählte ein halbes Dutzend Beispiele („die da draußen kann ruhig warten!“). Die Hälfte davon war schlagend, die andere Hälfte nicht; die verwies nur auf ihre eigene Überempfindlichkeit. Erwartbar endete der Sermon damit, daß man heute „nur blau“ wählen könne.
Ich glaube, ich habe dort ein echtes „Outing“ erlebt. Zuhause habe ich 77 Google-Bewertungen dieser Fachfrau durchgestöbert, viereinhalb von 5 Punkten, kein Hinweis auf „rechts“.
Ich habe länger über diese Begegnung nachgedacht, es hat mich auch ein wenig zerrissen: Jemand steht also wortwörtlich mit beiden Beinen auf den Boden. Drei wohlgeratene Kinder, beruflich top aufgestellt, und dennoch brodelt es dermaßen. Es gibt da eine Unzufriedenheit, die man weder benennen noch beziffern kann.
Frau Kositza, für die da oben sind wir doch der letzte Arsch.
Da ging es um die Besteuerung der Gutverdienenden, die aber weit entfernt davon sind, über ein Millionärsguthaben zu verfügen.
Ich stehe jeden Morgen um sieben auf und bin bis siebzehn Uhr auf den Beinen. Mittagspause habe ich fast nie, weil mein Seniorchef so ein weites Herz hat. Er winkt dann Leute durch, die weder einen Termin haben noch zahlen können. Und knapp die Hälfte meines Verdienstes geht dann an… na, Sie wissen es doch genau.
Mainstream-Experten sagen häufig, der Rechtsruck resultiere aus einem diffusen Unwohlsein. Das schmeckt uns (Rechten) nicht, weil es ja durchaus ein konkretes, überaus begründetes Mißbehagen gibt.
Es ist wohl so, daß das „diffuse“ Unwohlsein Wasser zusätzlich auf unsere Mühlen treibt. „Let it flow“? Laßt alle Unzufriedenen, Zukurzgekommenen, Getriggertern zu uns kommen?
Von Ortsbüros der Partei weiß ich, daß dies ein erhebliches Problem ist. Die Leute kommen mit ihrem oft bürokratischen Kleinkram (im Verzug mit Hundesteuer, „dabei ist er mir zugelaufen“; Nachbarschaftsstreit; Beleidigungsklage wurde abgewiesen etc.pp) und sind voller Hoffnung, daß „einer von der Partei mal ordentlich auf den Tisch haut“ und sich für das jeweilige Anliegen in die Bresche schlägt.
Das ist Kleinkram und Hintergrundrauschen, das schafft es nicht in die große Presse. Das (und das dürfte für alle Parteien gelten) ist die Kärrnerarbeit, von der man wenig hört.
Meine Fachfrau nun, und das dürfte nicht unüblich sein, hat in ihrer offenherzigen Beschwerde Kleinkram und Großkram miteinander verwischt. Von unhöflichen Mitbürgern ging es zu dreisten Ukrainern, von präpotenten Klienten zum absonderlichen Zugriff der Steuerbehörde, von der Hundescheiße auf dem Gehweg zum Qualitätsverlust der Lokalpresse. Ausgerechnet ich fungierte dabei als Beichtmutter.
Aber wissen Sie was: Ich hab ein Herz für Kulturpessimistinnen. Ich kann das bloß nicht immer so ausdrücken. Mag sein, daß die Fachfrau hernach ihrem Seniorchef sagte:
Die Frau Kositza ist schon bißchen arrogant.