Es war im Juni 2023, als mir endgültig klar wurde, daß ich nicht mehr in der Welt lebte, in der ich aufgewachsen war. Es war ein Moment wie in dem berühmten ersten Satz eines Romans von L. P. Hartley: »Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, man macht die Dinge anders dort« – nur weniger zauberisch, sondern eher alptraumhaft, wie in dem Film Invasion der Körperfresser: »Sie sind keine Menschen! Sie sind schon hier! Ihr seid die nächsten!«
Die meisten werden freilich lachen, wenn ich ihnen erzähle, was passiert ist. Ich wartete in Laibach in einem Gasthaus auf einen Bus nach Triest. Auf dem Tisch neben mir nahmen vier Bauarbeiter Platz. Sie packten simultan ihre Smartphones aus, schalteten sie an und starrten wortlos in sie hinein, ohne miteinander ein Wort zu wechseln. So verharrten sie mindestens zehn Minuten lang. Als wäre ich aus einem Traum erwacht, war ich nicht mehr imstande, ungesehen zu machen, was ich nun überall sah: daß es außer mir keinen einzigen Menschen mehr gab, der kein Smartphone in der Hand hielt, darauf starrte, es mit den Fingern bearbeitete oder es zumindest sichtbar in der Hosentasche stecken hatte.
Ich wollte nach Triest fahren, um eine Kindheitserinnerung wiederzubeleben. Aber man kann leider nicht in die Zeit eintreten wie in einen Raum. Andere Orte in Europa habe ich nicht wiedererkannt, weil sie gefüllt waren mit raum- und kulturfremden Menschenmassen. Davon ist Triest relativ verschont geblieben. Aber als ich in der Abenddämmerung auf einem Steg stand und ins Meer hinausblickte, sah ich überall um mich herum kleine, rechteckige Bildschirme leuchten.
Vereinzelte Paare und Gruppen hatten die Dinger neben sich liegen und ließen sich von ihnen mit kaum hörbarer Musik berieseln. Die Stadt sah immer noch so aus wie früher. Die Menschen nicht. Sie verhielten sich anders. Und mir dämmerte: Da es inzwischen auf diesem Planeten mehr Smartphones als Sapiens und kaum einen Ort mehr gibt, an dem sie nicht verteilt wurden, wird mich dieser Anblick – der Mensch und sein Smartphone – voraussichtlich für den Rest meines Lebens verfolgen, wenn er nicht eines Tages durch etwas Schlimmeres ersetzt wird.
Zu den ästhetischen, anthropologischen, kulturellen, politischen Folgen dieser Weltrevolution in Permanenz wäre vieles zu sagen, und ist auch schon vieles gesagt worden. Das Smartphone, das 2007 auf den Markt kam, erfüllt dabei nur die Rolle eines Werkzeugs und Vermittlers. Ihr eigentlicher Gegenstand ist das Internet, das kurz vor der Jahrtausendwende seinen Durchbruch hatte und die Weltgeschichte in ein Vorher und Nachher teilte. Natürlich ist auch dieses nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern nur eine weitere Zündstufe innerhalb größerer Entwicklungsbögen gewesen: der industriellen Revolution, der massenmedialen Beherrschung und Überwindung von Raum und Zeit durch Kino, Fernsehen und Radio, der Herrschaft der Quantität über die Qualität (René Guénon), der »Auflösung« und »Verflüssigung« (Zygmunt Bauman) aller Dinge, aber auch ihrer Einspeisung in elastische, ortlose Superstrukturen, deren Zugriff sich nichts und niemand mehr entziehen kann.
Auflehnung gegen eine etablierte »neue Normalität«, die alle Lebensbereiche durchdringt, ist in der Regel zwecklos und lädt diejenigen, die sich willfähriger und gründlicher angepaßt haben, zu wohlfeilem Spott über die Verlierer des darwinistischen Überlebenskampfes ein. Sind ihre Klagen nicht alle schon mal dagewesen, jedesmal, wenn sich eine neue technologische Innovation durchgesetzt hat?
Man muß dabei gar nicht besonders weit zurückgehen, man erinnere sich etwa an die seinerzeit vielgelesenen Schriften des Medienwissenschaftlers Neil Postman (1931 – 2003): Das Verschwinden der Kindheit (1983), Wir amüsieren uns zu Tode (1985) und Wir informieren uns zu Tode (1992). Bücher, die Warnungen enthielten vor der Nivellierung, wenn nicht gar Auslöschung der menschlichen Intelligenz und Urteilskraft durch elektronische Stimuli, durch das mediale Massenbombardement mit Unterhaltung und »Nachrichten«, die das menschliche Gehirn fluten und »vermüllen«. Alle Phänomene, die Postman damals kritisiert hat, sind inzwischen quantitativ und qualitativ um ein Vielfaches gesteigert worden. Er selber hatte nicht damit gerechnet und war 1996 der Meinung, das Internet werde für den »Durchschnittsmenschen« ohne Bedeutung bleiben.
Es wäre heute ein leichtes, sich über den »Apokalyptiker« Postman und seine Rede vom »kulturellen Aids« lustig zu machen. Man kann sagen: Seht her, was man heute über die angeblich schädlichen Auswirkungen des Internets sagt, hat man so ähnlich schon vor vierzig, fünfzig, sechzig Jahren über das Fernsehen gesagt. Ist denn das Abendland seither untergegangen? Sind wir tatsächlich so übel degeneriert, wie die Kulturpessimisten prophezeit haben? (Um zu wissen, daß man dumm ist, muß man intelligent sein.)
Heutige Kritiker des Smartphones werden, so sagen sie, eines Tages ähnlich lächerlich dastehen wie einst die TV- Hysteriker. Sie sind wie alte Männer, die über die Jugend schimpfen, Abgehängte, die nicht mithalten konnten oder wollten, bornierte Fortschrittsfeinde. Zuverlässig wird irgendwann der Vorwurf der »Larmoyanz« erhoben, der den Kritiker, Ankläger oder Klagenden als Schwächling oder Angsthasen hinzustellen versucht. Das funktioniert fast immer, denn niemand möchte als alt, schwach, weinerlich, ängstlich, rückwärtsgewandt erscheinen, sondern lieber mit den optimistischen, zukunftsorientierten, fortschrittlichen Siegern um die Wette strahlen.
Niemandem macht es auf die Dauer Spaß, die Kassandra zu spielen, und auch die Genugtuung, wenn Troja wie vorhergesagt zu brennen beginnt, hält sich bei den meisten Menschen in Grenzen. Dennoch fällt uns Konservativen regelmäßig diese Rolle zu, und nicht wenige von uns verlieben sich in sie. In Wahrheit muß man kaum eine Zeile ändern, die Postman geschrieben hat; was er über das Fernsehen und die Massenmedien im allgemeinen sagte, stimmte damals ebenso, wie es heute noch stimmt. Wenn uns seine Thesen rückblickend übertrieben erscheinen, dann hat das wohl mit dem »Shifting-Baseline-Syndrome« zu tun: Der Mensch gewöhnt sich rasch an neue Lebensumstände, und Generationen, die nie etwas anderes gekannt haben als eine Schwundstufe, haben keinen Begriff davon, was eigentlich geschwunden oder verschwunden ist.
Dieser Begriff wird vor allem im Bereich des Umweltschutzes verwendet, wo er die Gewöhnung an bestimmte ökologische Standards bezeichnet. Dieses Konzept läßt sich leicht auf andere Bereiche übertragen. Menschen, die sich noch an ein Leben ohne Fernseher erinnern können, sind heute mindestens zwischen siebzig und achtzig Jahren alt. So lange sind wir es schon gewohnt, mit Bildschirmen zu leben, und gleichzeitig handelt es sich hierbei historisch oder gar evolutionär gesehen um eine nur sehr kurze Zeitspanne.
In Form von Smartphones sind Bildschirme zu ständigen, allgegenwärtigen persönlichen Begleitern geworden, die sich allerdings nicht damit begnügen, als allzeit bereitstehende Dschinnen auf unsere Befehle zu warten. Im Gegenteil, sie ergreifen von uns Besitz wie Neuroparasiten, verbiegen unsere Körper, synchronisieren unser Denken, unsere Gesten, unsere Sprache, dopen unsere Gehirne, mischen sich in unsere sozialen Interaktionen ein, lenken uns ab durch ihre bloße Präsenz, steuern und manipulieren uns auf sanfte, unmerkliche Weise.
Man muß kein Wissenschaftler sein, man muß nur die Menschen in öffentlichen Räumen beobachten, um klar zu erkennen, daß der Gebrauch dieser Maschinen die Willenskraft schwächt, die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt und suchtartiges Verhalten erzeugt. Man muß auch kein Kinderpsychologe sein, um zu erkennen, wie Smartphones die noch unfertigen Gehirne von Minderjährigen beeinflussen und formen. Schon kleine Kinder kleben auf ihnen wie Rosenkäfer auf Fliederblüten. Manchmal sieht man auch Erwachsene, die bereits ihren Säuglingen ein Smartphone in die Hand drücken, um sie ruhigzustellen und zu beschäftigen. Andere wiederum gehen mit »gutem« Beispiel voran, indem sie sich durch ihre Social Media wischen, statt ihrem Nachwuchs Aufmerksamkeit zu schenken. Heute wachsen vor unseren Augen Generationen heran, für die es normal ist, daß man an jedem Ort und zu jeder Zeit mit dem Internet verbunden ist, daß man den Minicomputer immer mit sich trägt, als wäre er ein Körperteil, daß man kein Gespräch führen kann, ohne etwas zu »gugeln« oder dem anderen auf dem Display zu zeigen oder vorzuspielen.
Immerhin war wenigstens die Sorge um Kinder noch vor wenigen Jahren Gegenstand kritischer Mainstream- Berichterstattung. Der Spiegel 41/2018 thematisierte das Problem mit einem Leitartikel, betitelt »Mein Kind, sein Handy und ich«, illustriert mit einem Cartoon, der ein Kind zeigte, das mit krummem Rücken den Kopf magnetisch in ein Smartphone hinabsenkt, das auf der Handfläche eines rechtwinklig abgewinkelten Arms liegt:
Das Smartphone ist vielen Jugendlichen zu einer Art zweitem Gehirn geworden,
stellten die Autoren fest.
Ein Leben ohne können sie sich nicht einmal vorstellen. Was macht das mit ihnen? Und was mit ihren Eltern und Lehrern?
Das Problem war jedoch bereits damals, etwa ein Jahr vor dem »Great Reset«, ein Problem auch und sogar vor allem der Erwachsenen. Ein weiterer Cartoon, der den Text illustrierte, deutete in diese Richtung: Ein Mann und eine Frau sitzen an einem Steg am Meer, ähnlich meiner Triester Szenerie, voneinander abgewandt, den Blick mit gesenktem Kopf und abgewinkeltem Arm auf den Bildschirm fixiert, blind für die Sehenswürdigkeiten um sie herum: eine Seeschlange, ein Wal, ein Segelschiff, eine Flaschenpost.
Das wirkt nur sechs Jahre später fast so rührend altmodisch wie der Animationsfilm Are You Lost in the World Like Me? von Steve Cutts aus dem Jahr 2016 (zwölfeinhalb Millionen Aufrufe auf YouTube), der auf optisch außerordentlich einprägsame Weise die »Zombifizierung« durch Smartphones anprangert, bezeichnenderweise in Schwarzweiß im »nostalgischen« Stil eines Cartoons von Dave Fleischer oder Walt Disney aus den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. In diesem Kurzfilm sind es die Erwachsenen, die sich in empathielose Schlafwandler oder Roboter verwandeln, während ein einsamer kleiner Junge vergeblich um ihre Aufmerksamkeit bettelt. Die »Message« des Films war eher sentimental, während seine
surreal-dystopischen Effekte inzwischen einiges an Kraft eingebüßt haben: Er zeigt die Welt, in der wir heute leben, woran niemand mehr Anstoß zu nehmen scheint.
Ähnlich wirkungslos waren die zahlreichen medienkritischen Bücher des Psychiaters Manfred Spitzer (Jahrgang 1958), obwohl sie regelmäßig auf den Bestseller-Listen des Spiegels landeten, von Vorsicht Bildschirm! (2006) über Digitale Demenz (2012) bis zu Die Smartphone-Epidemie (2018). In letzterem versucht Spitzer, die »Gefahren« des ungezügelten Smartphone‑, Bildschirm- und Internetkonsums »für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft« wissenschaftlich zu belegen. Unter den Digitalisierungsschäden, die er aufzählt, sind Kurzsichtigkeit, Denkstörungen, Konzentrationsschwächen, Intelligenzschwund, Abnahme von geistiger Leistungs- und Entscheidungsfähigkeit sowie von Empathie und Willensbildung, Depressionen, Übergewicht, Schlafstörungen, Entfremdung von der Natur, soziale Vereinzelung, Vereinsamung, Narzißmus, ja sogar erhöhte Suizidraten. Das Material, das er vorbringt, ist durchweg überzeugend, zumal es sich mit Alltagsbeobachtungen deckt, die jeder Mensch machen kann, der seine Umwelt mit offenen Augen betrachtet.
Diese »Kulturkritik«, die keine sein will, hat Spitzer erwartungsgemäß etliche gehässige Artikel seitens der üblichen Verdächtigen eingetragen (etwa Die Zeit, Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung). Vielleicht zeigt er darum eine auffallende Beflissenheit, innerhalb der Grenzen der Mainstream-Narrative zu verbleiben. So warnt er zum Beispiel vor der Gefahr »für unsere demokratische Gesellschaft«, etwa durch »Fake News«, Wahlbeeinflussung durch soziale Medien und »Radikalisierung« durch YouTube-Videos – im Jahre zwei nach Trumps Wahl natürlich fast ausschließlich »von rechts« gedacht. Mainstreamkonform zeigte sich Spitzer auch in seinem Buch Pandemie: Was die Krise mit uns macht und was wir aus ihr machen (2020), das ihn als zu feige oder zu blind auswies, sich kritisch damit auseinanderzusetzen, wie diese »Krise« denn tatsächlich »gemacht« wurde.
Der massive Digitalisierungsschub durch die »Pandemie« hat jedenfalls Tatsachen geschaffen, denen gegenüber die von Spitzer und anderen geäußerte Kritik hilflos, obsolet, irrelevant wirkt. Es ist geradezu putzig, wenn er immer wieder an das ethische Verantwortungsgefühl der Gesellschaft, des Staates, der Institutionen und der Erzieher appelliert, als wäre dort noch irgend jemand, der ihn hören könnte oder wollte. Mit dem Paracelsus-Satz »Die Dosis macht das Gift« und dem etwas holprigen Schlagwort der »Technikfolgenabschätzung« fordert er, mit der Technik
maßvoll, kritisch und vernünftig umzugehen, die »erwünschten Wirkungen und die Risiken und Nebenwirkungen« gegeneinander abzuwiegen: »Erst digitalisieren und dann fragen, was das mit uns macht, ist wie ein Arzneimittel auf den Markt bringen, und dann fragen, ob es überhaupt gut ist für den Patienten.«
Nun, ist nicht genau das mit den Corona-»Impfstoffen« geschehen? Alle Hemmungen, alle Bedenken, alle Regulationen scheinen beseitigt zu sein. Warnungen nützen nichts, abschreckende dystopische Bilder nützen nichts, wissenschaftliche Studien nützen nichts, die Vernunft und der »gesunde Menschenverstand« nützen nichts. Spitzer will weder ein »Rechter« noch ein »Konservativer« sein, ist aber schon längst unfreiwilliges Mitglied in unserem trüben Klub der Kassandren und Modernisierungsverlierer.
Die Eigendynamik der Technik und der »Geschäftsmodelle« ihrer Verwerter und Profiteure scheint unaufhaltsam, denn sie kommt der menschlichen Schwäche entgegen, die stets den Weg des geringsten Widerstands geht. Die Technologie ist und bleibt der entscheidende Motor sozialer Veränderungen und damit auch politischer Umwälzungen. Dies ist wohl auch einer der Gründe, warum rechte, konservative, »reaktionäre« Bewegungen seit zweieinhalb Jahrhunderten scheitern oder nur vorübergehende Siege erzielen können: Die Grundlagen dessen, was sie vor dem Zugriff des »Progressiven« bewahren wollen, werden unweigerlich früher oder später von der nächsten Welle der industriellen oder technologischen Revolution aufgelöst und hinweggefegt.