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Lesen – Seit Jahr und Tag macht sich der Guggolz-Verlag durch die Veröffentlichung großartiger nordischer Literatur verdient. Ob Tom Kristensens unerreichter Trinkerroman oder Tarjej Vesaas‘ feinselige „Vögel“ oder das einzigartige und wundersame „Straumēni“ des Letten Edvarts Virza …: alles Meisterwerke, alle feinfühlig übersetzt, alles perfekte Weihnachtsbeschenkungen, die einen Unterschied machen.
Nun also William Heinesen, der färöische Nationalschriftsteller, der auf Dänisch schrieb. Sein zweiter Roman Noatun ist auch so ein Unikum, selbst innerhalb seines Werkes. Er führt einen heimlichen Dialog mit Hamsun – dessen Sujet er nutzt – und mit seinem Freund Hans Kirk, dessen Kollektivroman-Technik er variiert und manche Figurenidee gebraucht. Der Kollektivroman schaffte der Prosa ganz neue Möglichkeiten.
Hier wird das Schicksal einer Menschengruppe beschrieben, die sich in unwegsamer Gegend ein neues Leben aufbauen will. Fels, Eis, Regen, Sturm, Fluten … die Natur ist unbarmherzig. Die Menschen passen sich dem an, Heinesens Figuren leben ganz nah an ihren Trieben, Instinkten und Affekten. Hunger, Not, Tod und Geburt, Kämpfe mit- und gegeneinander und immer wieder gegen die widrigen Umstände, aber auch die Zeit. Wo Kirk mit seinen Tagelöhnern unübertroffen den Erzählstrom fließen und pralle und typische Figuren erscheinen läßt, da setzt Heinesen auf expressionistische und naturalistische Mittel und schafft ein schroffes, rauhes, abgründiges Werk. Wie durch eine starke Brandung muß man sich zu Beginn hindurchkämpfen, aber wenn man die Wirbel und Strömungen dieses Erzählens einmal begriffen hat, sich getragen fühlt, dann schwimmt man in einem wild wogenden Meer und spürt die unheimliche Tiefe unter sich …
Ist es zu stark, bist du zu schwach!
William Heinesen: Noatun. Guggolz-Verlag. Berlin 2025, 380 Seiten, 26 € – hier bestellen
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Lernen – Die Kritik des Feuilletons war absehbar: unterkomplex, emotional manipulativ, politisch ambivalent, zu wenig Distanzierung, „rechte Narrative“ werden bedient usw. Klingt in unseren Ohren nach Werbung. Strauß versucht und sucht das Große im Kleinen, die deutsche Maladie in der ostdeutschen Provinz. Weil er mit einer gespaltenen Ost-West-Identität das uckermärkische Prenzlau kennt, so muß also diese Stadt herhalten, als Symbol.

Die „Wunde“ ist eine der Metaphern, die Strauß immer wieder anführt. Die Wende war auch so eine, das Verscherbeln der ansässigen Industrie, die Zerstörung von Lebenswerken und vieles mehr. Strauß macht das persönlich, spricht mit den Leuten, macht es greifbar. Er redet mit allen, auch mit dem örtlichen AfD-Mann und mit dem besonders ausführlich.
Die ungewöhnliche Vielfalt der Sichtweisen, die Multiperspektivität sind die größte Stärke des Buches, sie macht manche Phrase oder gelegentliches Pathos wett. Es ist kein Zustimmungsbuch, sondern eines, das Reibungen erzeugt, Gemüter erhitzt. Das Plädoyer für Nähe, für das Lokale oder auch das Könnens-Bewußtsein bis hin zum Ost-Stolz sorgen dafür, daß es in keiner Familie zwei gleiche Meinungen dazu geben wird. Aber nicht primär der Streit, sondern das Zusammenkommen, das Miteinander-Reden wird sich bei dieser sehr intensiven Lektüre einstellen oder das individuelle Nachdenken, Verstehen, Einfühlen. Versöhnendes Geschenkebuch, wo es Wunden und Risse gibt!
Simon Strauß: In der Nähe. Vom politischen Wert einer ostdeutschen Sehnsucht. Klett-Cotta. Stuttgart 2025, 240 Seiten, 24 € – hier bestellen
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Schauen – Der Goethesche Blick, ganzheitlich, teilnehmend, geduldiges, bewegliches Verweilen bei der Erscheinung, bis diese selbst zu sprechen beginnt, das Einzelne als Offenbarung des Ganzen ansehen, „nicht erst die Transzendenz, sondern schon die Immanenz der Welt als geisterfüllt“ wahrnehmen … das ist eine Kunst, die nur wenige beherrschen.
Der Evolutionsbiologe, Pädagoge und Anthroposoph Wolfgang Schad († 2022) war einer der ganz wenigen, die das bis zur Vollkommenheit konnten. Seine Schriften sind weltbilderschütternd. Seine Gesammelten Schriften sind auf 12 Bände veranschlagt – soeben sind seine Arbeiten zur Zoologie erschienen. Darin ist ein gutes Dutzend Aufsätze versammelt, üppig bebildert, die das Wesen der Natur im Zusammenspiel ihrer Materialität und Geistigkeit zu ergründen versuchen. Was oberflächlich wie wilde Gedankensprünge vom Kleinsten zum Größten und zurück ausschaut, sind in der Tiefe organische Entwicklungen, Bezüge und Entsprechungen – für einen kurzen Evidenzmoment faßbar gemacht.

Wolfgang Schads Schriften sind ein Augenöffner und wer noch opulenter beschenkt werden will, der greift auch noch nach dem Doppelband Säugetiere und Mensch. Ihre Gestaltbiologie in Raum und Zeit. Zu sehen gibt es hier und dort die Fülle.
Aber das ist mehr als Bilder-Schauen, das ist genuine Schau.
Wolfgang Schad: Vom Menschlichen in der Natur. Gesammelte Schriften, Band 5. Zoologie. Verlag Freies Geistesleben. Stuttgart 2025, 431 Seiten, 39 € – hier bestellen.
Maiordomus
Interessante alternative Tips, wobei "Faröischer Nationalschriftsteller" unter europ. Nationen ungewohnt klingt. Hat SiN mal den Schweizer Nationalschriftsteller Meinrad Inglin vorgestellt? Dessen Hauptwerk, der "Schweizerspiegel", mit Zentrum Selbstbehauptung im 1. Weltkrieg, 1938 beim deutschnationalen Verlag Staackmann Leipzig erschienen, was der Autor hinterher apologetisch erklären musste durch nachträgliche Schilderung einer "unheimlichen" Deutschlandreise, und ausserdem blieben ihm während des Krieges die Honorare immer mehr aus. Das Bücherlager Staackmanns wurde ausgebombt.
Vom grösserem Interesse, gilt als von mir als bestellt, scheint das Porträt des Prenzlauer Berges beim 2. Titel, wohingegen das "Menschliche in der Natur" von Paracelsus und Goethe längst entdeckt war, darüber gibt es prima Literatur. Interessiere mich für Lichtspielführer v. Lichtmesz, möchte diesen als 2. Buch bestellen als Empfehlung. Ob das 50-Jahr-Jubiläum des absoluten Meisterwerks des Historienfilms, Barry Lyndon (wird morgen in Zürch mit Herrn Harlan begangen), dort drin mitgewürdigt ist? Gegen Vater Harlan wurde 1961 in Zürich demonstriert, erinnere mich noch gut.