Weihnachten? – Jörg Seidel empfiehlt

Nach den Empfehlungen Ellen Kositzas empfiehlt nun Jörg Seidel lesend, lernend und schauend drei Bücher für unter den Weihnachtsbaum. Hier sind sie:

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Lesen – Seit Jahr und Tag macht sich der Gug­golz-Ver­lag durch die Ver­öf­fent­li­chung groß­ar­ti­ger nor­di­scher Lite­ra­tur ver­dient. Ob Tom Kris­ten­sens uner­reich­ter Trin­ker­ro­man oder Tar­jej Vesaas‘ fein­se­li­ge „Vögel“ oder das ein­zig­ar­ti­ge und wun­der­sa­me „Straumē­ni“ des Let­ten Edv­arts Vir­za …: alles Meis­ter­wer­ke, alle fein­füh­lig über­setzt, alles per­fek­te Weih­nachts­be­schen­kun­gen, die einen Unter­schied machen.

Nun also Wil­liam Hei­ne­sen, der färöi­sche Natio­nal­schrift­stel­ler, der auf Dänisch schrieb. Sein zwei­ter Roman Noa­tun ist auch so ein Uni­kum, selbst inner­halb sei­nes Wer­kes. Er führt einen heim­li­chen Dia­log mit Ham­sun – des­sen Sujet er nutzt – und mit sei­nem Freund Hans Kirk, des­sen Kol­lek­tiv­ro­man-Tech­nik er vari­iert und man­che Figu­ren­idee gebraucht. Der Kol­lek­tiv­ro­man schaff­te der Pro­sa ganz neue Möglichkeiten.

Hier wird das Schick­sal einer Men­schen­grup­pe beschrie­ben, die sich in unweg­sa­mer Gegend ein neu­es Leben auf­bau­en will. Fels, Eis, Regen, Sturm, Flu­ten … die Natur ist unbarm­her­zig. Die Men­schen pas­sen sich dem an, Hei­ne­sens Figu­ren leben ganz nah an ihren Trie­ben, Instink­ten und Affek­ten. Hun­ger, Not, Tod und Geburt, Kämp­fe mit- und gegen­ein­an­der und immer wie­der gegen die wid­ri­gen Umstän­de, aber auch die Zeit. Wo Kirk mit sei­nen Tage­löh­nern unüber­trof­fen den Erzähl­strom flie­ßen und pral­le und typi­sche Figu­ren erschei­nen läßt, da setzt Hei­ne­sen auf expres­sio­nis­ti­sche und natu­ra­lis­ti­sche Mit­tel und schafft ein schrof­fes, rau­hes, abgrün­di­ges Werk. Wie durch eine star­ke Bran­dung muß man sich zu Beginn hin­durch­kämp­fen, aber wenn man die Wir­bel und Strö­mun­gen die­ses Erzäh­lens ein­mal begrif­fen hat, sich getra­gen fühlt, dann schwimmt man in einem wild wogen­den Meer und spürt die unheim­li­che Tie­fe unter sich …

Ist es zu stark, bist du zu schwach!

Wil­liam Hei­ne­sen: Noa­tun. Gug­golz-Ver­lag. Ber­lin 2025, 380 Sei­ten, 26 € – hier bestel­len

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Ler­nen – Die Kri­tik des Feuil­le­tons war abseh­bar: unter­kom­plex, emo­tio­nal mani­pu­la­tiv, poli­tisch ambi­va­lent, zu wenig Distan­zie­rung, „rech­te Nar­ra­ti­ve“ wer­den bedient usw. Klingt in unse­ren Ohren nach Wer­bung. Strauß ver­sucht und sucht das Gro­ße im Klei­nen, die deut­sche Mala­die in der ost­deut­schen Pro­vinz. Weil er mit einer gespal­te­nen Ost-West-Iden­ti­tät das ucker­mär­ki­sche Prenz­lau kennt, so muß also die­se Stadt her­hal­ten, als Symbol.

Das ist mehr­fach eine gute Wahl, denn neben dem typi­schen, dem typisch Deut­schen, dem typisch Ost­deut­schen gibt es auch Allein­stel­lungs­merk­ma­le, die ein grel­les Licht auf unse­re Geschich­te wer­fen. Etwa daß Prenz­lau von den Rus­sen nahe­zu kom­plett zer­stört wur­de und dort eine fürch­ter­li­che Gewalt- und Ver­ge­wal­ti­gungs­or­gie statt­ge­fun­den hat­te, die auch nach 80 Jah­ren kaum zu ertra­gen ist. Iro­nie der Geschich­te: die Sowjets wur­den wenig spä­ter zu Befrei­ern ernannt, ihren „Hel­den“ Ehren­mä­ler gewid­met, die die Prenz­lau­er Nach­fah­ren mit Blu­men zu bestü­cken hat­ten. Das ist viel­leicht die größ­te Wun­de, die den Men­schen zuge­fügt wur­de, über die man aber nicht spre­chen konnte.

Die „Wun­de“ ist eine der Meta­phern, die Strauß immer wie­der anführt. Die Wen­de war auch so eine, das Ver­scher­beln der ansäs­si­gen Indus­trie, die Zer­stö­rung von Lebens­wer­ken und vie­les mehr. Strauß macht das per­sön­lich, spricht mit den Leu­ten, macht es greif­bar. Er redet mit allen, auch mit dem ört­li­chen AfD-Mann und mit dem beson­ders ausführlich.

Die unge­wöhn­li­che Viel­falt der Sicht­wei­sen, die Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät sind die größ­te Stär­ke des Buches, sie macht man­che Phra­se oder gele­gent­li­ches Pathos wett. Es ist kein Zustim­mungs­buch, son­dern eines, das Rei­bun­gen erzeugt, Gemü­ter erhitzt. Das Plä­doy­er für Nähe, für das Loka­le oder auch das Kön­nens-Bewußt­sein bis hin zum Ost-Stolz sor­gen dafür, daß es in kei­ner Fami­lie zwei glei­che Mei­nun­gen dazu geben wird. Aber nicht pri­mär der Streit, son­dern das Zusam­men­kom­men, das Mit­ein­an­der-Reden wird sich bei die­ser sehr inten­si­ven Lek­tü­re ein­stel­len oder das indi­vi­du­el­le Nach­den­ken, Ver­ste­hen, Ein­füh­len. Ver­söh­nen­des Geschen­ke­buch, wo es Wun­den und Ris­se gibt!

Simon Strauß: In der Nähe. Vom poli­ti­schen Wert einer ost­deut­schen Sehn­sucht. Klett-Cot­ta. Stutt­gart 2025, 240 Sei­ten, 24 € – hier bestel­len

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Schau­en – Der Goe­the­sche Blick, ganz­heit­lich, teil­neh­mend, gedul­di­ges, beweg­li­ches Ver­wei­len bei der Erschei­nung, bis die­se selbst zu spre­chen beginnt, das Ein­zel­ne als Offen­ba­rung des Gan­zen anse­hen, „nicht erst die Tran­szen­denz, son­dern schon die Imma­nenz der Welt als geis­ter­füllt“ wahr­neh­men … das ist eine Kunst, die nur weni­ge beherrschen.

Der Evo­lu­ti­ons­bio­lo­ge, Päd­ago­ge und Anthro­po­soph Wolf­gang Schad († 2022) war einer der ganz weni­gen, die das bis zur Voll­kom­men­heit konn­ten. Sei­ne Schrif­ten sind welt­bil­der­schüt­ternd. Sei­ne Gesam­mel­ten Schrif­ten sind auf 12 Bän­de ver­an­schlagt – soeben sind sei­ne Arbei­ten zur Zoo­lo­gie erschie­nen. Dar­in ist ein gutes Dut­zend  Auf­sät­ze ver­sam­melt, üppig bebil­dert, die das Wesen der Natur im Zusam­men­spiel ihrer Mate­ria­li­tät und Geis­tig­keit zu ergrün­den ver­su­chen. Was ober­fläch­lich wie wil­de Gedan­ken­sprün­ge vom Kleins­ten zum Größ­ten und zurück aus­schaut, sind in der Tie­fe orga­ni­sche Ent­wick­lun­gen, Bezü­ge und Ent­spre­chun­gen – für einen kur­zen Evi­denz­mo­ment faß­bar gemacht.

Schad schlägt man auf wie ein Mär­chen­buch; aber alles ist real! Man kann das nicht lesen, ohne über die „Wun­der der Natur“ ent­zückt und über Schads ori­gi­nel­les Den­ken und Schau­en erschüt­tert zu sein. Ob orni­tho­lo­gi­sches, ento­mo­lo­gi­sches, myko­lo­gi­sches, kris­tal­lo­gra­phi­sches, kos­mo­lo­gi­sches oder ganz bana­les anthro­po­lo­gi­sches Inter­es­se, nie­mand geht unbe­lehrt, aber man­cher erleuch­tet aus die­ser Lek­tü­re her­aus. Kon­kre­te empi­ri­sche Wis­sen­schaft, Evo­lu­ti­on, Spi­ri­tua­li­tät bis hin zur Eso­te­rik wer­den nach der Drei­glie­de­rung von Kör­per, See­le, Geist natur­ge­mäß zusam­men­ge­webt und im Einen wird stets das Gan­ze sichtbar.

Wolf­gang Schads Schrif­ten sind ein Augen­öff­ner und wer noch opu­len­ter beschenkt wer­den will, der greift auch noch nach dem Dop­pel­band Säu­ge­tie­re und Mensch. Ihre Gestalt­bio­lo­gie in Raum und Zeit. Zu sehen gibt es hier und dort die Fülle.

Aber das ist mehr als Bil­der-Schau­en, das ist genui­ne Schau.

Wolf­gang Schad: Vom Mensch­li­chen in der Natur. Gesam­mel­te Schrif­ten, Band 5. Zoo­lo­gie. Ver­lag Frei­es Geis­tes­le­ben. Stutt­gart 2025, 431 Sei­ten, 39 € – hier bestel­len.

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Kommentare (28)

Maiordomus

2. Dezember 2025 12:23

Interessante alternative Tips, wobei "Faröischer Nationalschriftsteller" unter europ. Nationen ungewohnt klingt. Hat SiN mal den Schweizer Nationalschriftsteller Meinrad Inglin vorgestellt? Dessen Hauptwerk, der "Schweizerspiegel", mit Zentrum Selbstbehauptung im 1. Weltkrieg, 1938 beim deutschnationalen Verlag Staackmann Leipzig erschienen, was der Autor hinterher apologetisch erklären musste durch nachträgliche Schilderung einer "unheimlichen" Deutschlandreise, und ausserdem blieben ihm während des Krieges die Honorare immer mehr aus. Das Bücherlager Staackmanns wurde ausgebombt. 
Vom grösserem Interesse, gilt als von mir als bestellt, scheint das Porträt des Prenzlauer Berges beim 2. Titel, wohingegen das "Menschliche in der Natur" von Paracelsus und Goethe längst entdeckt war, darüber gibt es prima Literatur. Interessiere mich für Lichtspielführer v. Lichtmesz, möchte diesen als 2. Buch bestellen als Empfehlung. Ob das 50-Jahr-Jubiläum des absoluten Meisterwerks des Historienfilms, Barry Lyndon (wird morgen in Zürch mit Herrn Harlan begangen), dort drin mitgewürdigt ist? Gegen Vater Harlan wurde 1961 in Zürich demonstriert, erinnere mich noch gut. 

Gracchus

2. Dezember 2025 12:28

Der Guggolz-Verlag ist in der Tat eine feine Adresse. Tarjej Vessas würde ich unbedingt empfehlen, allen voran Die Vögel, aber auch Das Eis-Schloss, und im feinen Münsteraner Verlag Jungheinrich ist, ausgewählt von Jon Fosse, eine dreibändige überaus schön gestaltete Ausgabe mit Erzählungen und Gedichten erschienen; besonders die Gedichte haben mich beeindruckt. 
Wolfgang Schad - mir bislang völlig unbekannt - klingt auch sehr verlockend. 

Old Linkerhand

2. Dezember 2025 12:43

Bis auf Hamsun kenne ich eigentlich wenig nordische Literatur. Die Portraits machen Lust auf mehr, besonders auf Straumeni. Vielen lieben Dank für diese Einführung.
@Gracchus: Was Sie so alles kennen! Bin sehr beeindruckt und schäme mich ein wenig.

Der Gehenkte

2. Dezember 2025 12:56

@ Maiordomus
Wo finde ich bei Goethe und Paracelsus "das Gemeinsame, das am Tier als menschlich erfahrbar ist?", dargelegt an der sinnesbetonten Konstitution des Buckelwals oder der Neotenie des Flamingos oder der Spiral-Asymetrie der Weinbergschnecke oder im Lebenskreis des Mondhornkäfers, wo schreibt und schaut Goethe die Entwicklung vom Naturlaut zum Sprachlaut anhand der ostafrikanischen Flötenakazie oder den Zusammenhang zwischen Hirn- und Darmmasse oder den zwischen Bauchfarbe und Feingliedrigkeit oder die landschaftsbetonte Gliedmaßenbetonung der Dibitag oder den Fuß als das spezifischste menschliche Organ oder die geistnächste Gestaltung und kosmische Offenheit der niedersten Vielzeller ...? 
Kennen Sie Wolfgang Schad? Haben Sie ihn gelesen? 

Maiordomus

2. Dezember 2025 14:01

@Ehrlich kenne ich W. Schad noch nicht, gehe aber davon aus, dass er als Anthroposoph aus den selben Quellen schöpft, die das Denken von R. Steiner befruchteten, für meine Arbeit war dies lange wichtig. Möchte aber in aller Form bestätigen, dass ich es gut finde, wenn bei SiN anthroposophisch orientierte Bücher empfohlen werden. Zu der Zeit, also ich noch regelmässiger in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, etwa betr. ältere Literatur ab Mystik, Renaissance bis über die Zeit Goethes hinaus, wurden mir Zitate von Anthroposophen, auch R. Steiner, stillschweigend entfernt. Marxisten waren vergleichsweise problemloser zu zitieren, weil Distanz der Zeitung offiziell vorausgesetzt werden konnte und es intellektuell chic wurde, W. Benjamin zu zitieren, letzterer heute an Hochschulen fast meistzitiert, etwa wie Hannah Arendt. Möchte indes Schad durchaus empfehlen, würde ihn aber wohl erst lesen, wenn ich bei einem Aufsatz dieses Thema wieder aufgreifen würde. Frühestens Herbst 2027 fällig, einem einschlägigen Jubiläum. Bei der NZZ würde Schad wohl kaum besprochen. Als ich dort mal Carl Schmitt zitierte, "korrigierten" sie den Namen in Carlo Schmid, SPD-Grundgesetz-Denker.   

Maiordomus

2. Dezember 2025 14:17

@Der Gehenkte. Mondhornkäfer, überhaupt diese Art der Betrachtung, worauf Sie in Ihrem Beitrag zu schreiben kommen, faszinieren mich vor allem in den einschlägigen Studien von Ernst Jünger, der in seinen Tagebüchern des 2. Weltkrieges mehrfach brummende Käfer mit Bombern in Analogie setzt, überhaupt diese "menschenähnliche" Betrachtung des Tierreichs spätestens ab der 1. Fassung von  "Das abenteuerliche Herz" oft ins Zentrum seines Schreibens stellt. Dabei steht er dem Vulgärdarwinismus mit dem Kampf ums Dasein zur Beförderung der Evolution fast so fern wie Nietzsche, der schrieb: "Darwin neben Goethe setzen/Heisst die Majestät verletzen/ Majestatem genii". Hingegen steht Jünger vergleichsweise Schopenhauer näher. Dessen Betrachtungsweise hinwiederum scheint mir anregender als die von R. Steiner. Generell handelt es sich aber, was ich  bei Schad ebenfalls vermute. um betrachtende Naturwissenschaft. Also genau das, was heute nicht Mode ist! Am meisten interessieren würde mich im Moment "Die Pflanzenseele" von Hedwig Conrad-Martius, ein Buch, das leider derzeit antiquarisch nicht aufzutreiben ist. Das Buch von Schad bleibt indes ein "reelles Angebot".    

Maiordomus

2. Dezember 2025 16:57

@Der Gehenkte: Wo finde ich was? Bei Goethe in Schriften zu Anatomie u.Physiologie, vgl. Debatte um den Zwischenkieferknochen, der damals als differentia specifica, artbildenden Unterschied zwischen Mensch und Tier gesehen wurde. Beachten Sie bei Goethe Analogiedenken, die proportionale Ähnlichkeit, zu lesen aus der "Signatur" der Schöpfung (Paracelsus). Bei Goethe der Satz: "Tiere werden durch ihre Organe belehrt". Der Mensch wiederum vielfach durch die Tiere, was ihn zwar trotz dem Spott von Mephistopheles nicht veranlassen sollte, "nur tierischer als jedes Tier zu sein." Dabei von Tieren lernen, was in der ind. Mythologie wichtig wird, seien es Ameisen oder Bienen. Interessant ferner, dass die Fünfzahl der Finger und Zehen, was Goethe noch nicht wusste, schon bei Arten von Dinosauriern auftaucht, was R. Schneider 1957 im Naturhistorischen Museum Wien auffiel, frappierender, als wenn man das nur beim Affen sehen würde. Für Paracelsus sind im Menschen alle Tiere mitenthalten; eine Belehrung über uns, die den substanziellen Unterschied zum Tier nicht gerade betont, eher Verbundenheit und unabdingbare Nähe zur Natur. Bei Spinoza "natura naturans", schöpferische Natur im Verhältnis zur "natura naturata", dem jeweiligen Produkt im schöpferischen Prozess.

Gracchus

2. Dezember 2025 21:51

Nachdem ich im Netz gestöbert habe, kommt mir der Hinweis auf Schad erst recht wertvoll vor. In einem Interview sagt er - mit Bezug auf ein Werk des von Ihnen @Maiordomus geschätzten Wilhelm Röpke - eine Gesellschaft sei nur dann eine Kulturgesellschaft, wenn sie die Früchte der Vergangenheit nicht verliere, sondern tradiere. Das ist ansich banal, aber im schönsten Deutschland ever eine Prvokatiok.
@Der Gehenkte: Empfiehlt sich das empfohlene Werk auch als Einstieg?
@Old Linkerhand: "Straumeni" verlockt mich nunmehr auch. Ansonsten scheint mir, dass ich gegen @Maiordomus und @Jörg Seidel arm aussehe. 

anatol broder

3. Dezember 2025 02:49

danke für die empfehlungen, auch @ gracchus. erst neulich sehnte ich mich nach einer piratengeschichte. noatun sagt mir auf jeden fall zu. um guggolz kennenzulernen, bestelle ich auch die vögel von vessas.
bei schad ist seidel ganz aus dem häuschen, was für mich der grund ist, den antroposophen nicht zu beachten. ich ertrage keine beseelten steine («et in arcadia ego»). offensichtlich pflegt seidel einen anderen umgang mit ihnen.

Der Gehenkte

3. Dezember 2025 09:58

@Gracchus
Ich kenne drei von ihm. Das Beste ist "Säugetiere und Mensch", macht auch von der Optik mehr her. Dort eine eher systematische Darlegung der Gestaltbiologie. Sie werden staunen, welche bislang ungesehenen Zusammenhänge in der Natur da zutage treten. 
"Das Menschliche in der Natur" geht in die gleiche Richtung, ergänzt den Gedanken durch weitere Beispiele aus anderen Bereichen. Aber die Grundaussagen sind dort auch enthalten, verstreut. 
Es gab vier Bücher, die mir Goethes Sehweise wirklich näher gebracht haben: Lehrs, Leisegang, Botroft und Schads: "Goethes Weltkultur". Dort kann man auch einsteigen. 
@ anatol broder
"Beseelte Steine" ist Holzweg - mag sein, daß die Vorstellung zu beseelt war ... aber Schad bleibt auf dem Boden. Klar, manchmal lugt Steiner auch mit gewagteren Ideen durch (z.B. Hornmist), die werden aber eher verständlich als daß sie abschrecken. 

H. M. Richter

3. Dezember 2025 10:19

@Maiordomus
"Am meisten interessieren würde mich im Moment "Die Pflanzenseele" von Hedwig Conrad-Martius, ein Buch, das leider derzeit antiquarisch nicht aufzutreiben ist."
 
Nehmen Sie stattdessen vorerst vielleicht mal wieder Gustav Theodor Fechners "Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen" zur Hand.
 
Es ist nicht nur gerade ins Spanische übersetzt worden, sondern auch im Gegensatz zu "Die Seele der Pflanze" von Hedwig Conrad-Martius online verfügbar.
 
@Jörg Seidel
Danke für den Hinweis auf Wolfgang Schad.

Old Linkerhand

3. Dezember 2025 10:24

@anatol broder Von Guggolz empfehle ich Ihnen Der irdische Kelch und die Tagebücher von Prischwin, wobei ich von den Tagebüchern nur den ersten Band kenne, also alles ohne Gewähr. @Gracchus Bei Literatur sind meine Kriterien Interesse und Leidenschaft, welche beim Leser dann auch immer zu sehen sind. Diese Bildungshuberei ist mir zutiefst zu wider. Mit @Jörg Seidel werde ich mich im Neuen Jahr beschäftigen...

Maiordomus

3. Dezember 2025 13:17

@Old L. Der Hinweis oben etwa auf "Gestaltbiologie" ist nicht mit leerer "Bildungshuberei", wie Sie sich ausdrücken, zu verwechseln, letztere spiegelt sich allenfalls in der vielfach auch verdummenden "Künstlichen Intelligenz". Der Gesichtspunkt der Gestalt, für den Naturbeobachter Jünger zentral, da ist von ihm zu lernen als einem phänomenologischen Gesichtspunkt, "wie Meister Husserl uns sehen lehrte": so drückte es Conrad-Martius aus. Heute wird diese Philosophin leider fast nur noch in einem kleinen Kreis in Amerika rezipiert. @Richter. Ihr Hinweis auf Fechner "Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen" scheint wertvoll, wiewohl der Buchtitel etwas an "Sophies Welt" gemahnt. Natürlich kann man auch direkt bei Meistern wie dem Aristoteles-Schüler Theophrastus ansetzen oder bei Albert von Lauingen, genannt Albertus Magnus, dessen Tier- und Pflanzenbücher als Begegnung mit der Originalquelle das Gegenteil von blossem Herumsurfen im Netz sind.
Die "Seele", oder wie es Paracelsus ausdrückte, die "Signatur" der Pflanze wird allenfalls durch Betrachtung der "Gestalt" erahnt. "Gestalt" passt auch besser zu Gesteinen als "Seele", vgl. @anatol broder.     

Laurenz

3. Dezember 2025 13:18

@Anatol Broder ... ohne, daß ich mich in eine Litaratur-Debatte hier einmischen oder missionieren will, so glaube ich an die Beseeltheit unserer Unwelt (wie die Shintoisten), aufgrund einiger phänomenaler Erlebnisse ohne jeglichen Drogeneinfluß, auch wenn es mir, ohne, daß ich von Physik Ahnung habe, im Kopfe in Fragen der Seele so ähnlich geht, wie Schrödinger & Seiner lebenden oder toten Katze. In der hiesigen Realität wissen wir nichts. Um es mit Tolle zu sagen, der doch etwas dürftige menschliche Verstand wehrt sich gegen jeglichen nicht rationalen Einfluß auf die verständliche Herrschaft über das Ego. Wenn man nicht auf phänomenale Erlebnisse im Leben warten will, bietet sich immer wieder eine Familienaufstellung (mit echten Teilnehmern) an, um an sich selbst (ohne meine Mission) eine andere Wahrnehmung zu erfahren. Vielleicht kommt ja der eine oder andere dem Großen Geist, oder wem auch immer, dadurch etwas näher, als nur mit dem schönen Lesen an Sich.

Monika

3. Dezember 2025 13:37

@Jörg Seidel
Ich bin ein Augenmensch und das Buch über Gestaltbiologie klingt interessant. Ich kann es allerdings nicht recht "einordnen" . Beschreibt es Phänomene oder geht es wissenschaftlich vor, dass z. Bsp der Goldene Schnitt Naturphänomene mathematisch erfaßt, oder ist es poetisch oder ästhetisch. Was macht es interessant für einen dezidierten Nichtanthroposophen ? Das erschließt sich mir aus der Besprechung nicht . 
 

Monika

3. Dezember 2025 14:40

Was Pflanzenseelen und Mondmotten betrifft, werden die Herren vielleicht auch bei Anita Albus fündig. 😃https://www.perlentaucher.de/autor/anita-albus.html

Gracchus

3. Dezember 2025 23:06

@Der Gehenkte: Vielen Dank für Ihre Antwort. Nun fällt mir ein, dass ich ja 2025 Goethes naturwissenschaftliche Schriften lesen wollte; leider nicht geschafft. 
Ich hatte aufgrund Ihrer Besprechung den Eindruck, dass es bei Schad anschaulich--empirisch-konkret zugeht, mehr goetheanisch als anthroposophisch sozusagen. Empirisch-konkret geht es zwar auch bei Steiner zu, aber das fasst wohl nur, wer einen Dauerzugang zur Akasha-Chronik hat.
@Old Linkerhand: Verstehe. Da meine Lesezeit knapp ist, muss ich streng auswählen.
 
 

Gracchus

3. Dezember 2025 23:14

@Monika: An Anita Albus musste ich auch denken, da ich derzeit wieder Proust lese und  daher ihren schönen Essay "Im Licht der Finsternis" über Proust zur Hand genommen habe. Es gibt auch einen interessanten Film über sie und ihrem Schloss im Burgund (auf Youtube zu finden); Robert Spaemann und die Witwe von Levi-Strauss treten darin auch auf. 

FraAimerich

4. Dezember 2025 00:32

Polyglotte Leser seien beiläufig auf eine preiswerte, vor zwei Jahren in Mailand erschienen Ausgabe der Pflanzen-'Seele' verwiesen:
L'«anima» della pianta. Considerazioni biologiche-ontologiche   

Maiordomus

4. Dezember 2025 08:53

@Fra Aimerich. Kompliment für Hinweis, das it. Buchwesen wird  unterschätzt. Ganz grandios war vor wenigen Generationen das Mailänder Verlagshaus Höpli, von einem Schweizer gegründet, mit u.a. der einst besten Dante-Forschung, die es je gab, Scartazzini, dessen Werke auch ins Deutsche übersetzt wurdenm.  Aus heutiger Sicht ist die ganz grosse Zeit des italienischen Verlagswesens, welches zur Zeit der Renaissance in Mailand und Venedig stattfand, aber offenbar vorbei. Ehrlich gesagt wurde das Drucken zwar in Deutschlands Guttenberg erfunden, perfektioniert aber zumal in Sachen Schriften (auch Griechisch, Hebräisch, Kyrillisch, zumal aber mit der Erfindung der antqua) in Venedig neu geschaffen, wobei ich Manucchi, weltberühmt als Aldus Manutius, als grössten und zumal künstlerisch (incl. Illustrationen, auch Pflanzenmotive)  bedeutendsten Drucker aller Zeiten einschätzen würde. Allein fürs Lesen der sog. "Aldinen" würde es sich lohnen, Lateinisch zu beherrschen. Für Druckkultur als Kulturerbe der Menschheit ist Italien, zuvorderst Venedig, bis heute wohl unerreicht, zumindest ästhetisch, nach wie vor aber mit unzähligen Geheimtipps. Als Student machte ich die grössten Entdeckungen in der Encyclopedia Italiana, erstmals beim dortigen Artikel über das Massaker von Amboina. @Fra Aimerich, eigentlich Amerigo. Daran erinnert mich Ihr toller Tip!    

Old Linkerhand

4. Dezember 2025 08:56

Zu: Vom Menschlichen in der Natur 
Im Sommer 2024 bin ich erst- und einmalig einer Holzwespen-Schlupfwespe (Rhyssa persuasoria), einem großen Weibchen mit riesigen Legebohrer, begegnet. Da fühlt man sich wie bei H.P. Lovecraft. Ridley Scott hat mit Alien dieser Kreatur ein schauriges Denkmal gesetzt. Die Natur kann auch anders. 

Maiordomus

4. Dezember 2025 09:37

Zum Abschluss Kompliment an @Seidel. Einer der wertvollen Mitarbeiter, auch im gedruckten Heft: "Wie durch eine starke Brandung muss man sich zu Beginn hindurchkämpfen, aber wenn man die Wirbel und Strömungen dieser Erzählung (des Faröischen "Nationalschriftstellers") einmal begriffen hat, sich getragen fühlt, schwimmt wie in einem wild wogenden Meer und spürt die unheimliche Tiefe unter sich."  Der kann in der Tat schreiben und versteht mutmasslich die Leserschaft zu motivieren! 

Maiordomus

4. Dezember 2025 09:45

PS. Noch vergessen, im Hinblick auf die gelungenen obigen alternativen Buchtipps eine Ergänzung: Auf des *Engelforschers" Uwe Wolffs Rilkebuch hinzuweisen, "Rilke und die Engel", der Verfasser profilierte sich im gedruckten Heft durch jeweils schöne und orientierungsstarke auch meist anschaulich illustrierte einleitende Essays weit jenseits der Tagespolitik.  

RMH

4. Dezember 2025 12:21

Wenn es um Goethe geht, sind für mich als "Sekundär-Literatur" nach wie vor Hst. Chamberlains "Goethe" sowie Gundolfs Werk prägend gewesen. Zeitlich noch etwas näher dran an Goethe und noch nicht mit einer spezifischen, anthroposophischen Einfärbung späterer Autoren. Ich möchte an dieser Stelle erneut eine Lanze für R. Safranski brechen, der für einen zeitgenössischen Autor zu den Themen Goethe, Schiller, Weimarer- Klassik aus meiner Sicht sehr Gutes geleistet hat.
Ich maße mir als Leser aller 3 genannten Autoren (und bei Goethe nat. auch die unvermeidliche Biografie von Friedenthal) an, dass ich keinen weiteren Aufguss in Bezug auf das Goethesche "Schauen" mehr brauche. Ich lese seit einiger Zeit nur noch Pirmärliteratur von Goethe selbst, habe dazu auch die kleinere "Hamburger Ausgabe" vor einigen Jahren einmal angeschafft.
Von den von Seidel empfohlenen Büchern spricht mich daher am meisten das Werk von Strauß an. Das könnte interessant sein.

t.gygax

4. Dezember 2025 14:38

Literaturempfehlung zu Weihnachten: der Lepanto-Almanach 6/7, mit sehr interessanten Betrachtungen der östlichen Welt anhand eines unbekannten russischen Philosophen des 19.Jahrhunderts und auch in den Skizzen Würdigungen evangelischer Schriftsteller des 20.Jahrhunderts ( Klepper, Schröder, Hausmann), was angesichts des wohl vorkonziliar ( so hätte es EK wohl genannt) katholischen Herausgeberkreises ein Zeichen von großer Offenheit ist.

H. M. Richter

4. Dezember 2025 16:39

@Maiordoumus
"@Richter. Ihr Hinweis auf Fechner "Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen" scheint wertvoll, wiewohl der Buchtitel etwas an "Sophies Welt" gemahnt."
 
Fechner dazu selbst im Vorwort seiner o.g. Schrift: "Vielleicht findet man das Titelwort dieser Schrift gesucht; es ist aber in der Tat bloß gefunden. Da ich derselben zu kürzester Bezeichnung einen Eigennamen vorzusetzen wünschte, wählte ich eine Zeitlang zwischen Flora und Hamadryas. Jener Name schien mir doch zu botanisch, dieser etwas zu steif antiquarisch, dazu bloß auf das Leben der Bäume gehend. Endlich stand doch Flora auf dem Titel, als mir in Uhlands Mythos von Thor folgende Stelle begegnete, die mir so viel Anmutiges zu enthalten scheint, daß ich mir nicht versage, sie ganz herzusetzen, zumal sie so manchen näheren Bezugspunkt zum Inhalt unserer Schrift enthält."
 
Was aber Uhland über Nanna, der Gattin Baldurs, Baldurs Braue, Tys Helm, Thors Hut, Sifs Haar, Friggs Gras, Friggs Schleier, Fullas Fingergold und den Zwerg Lit in einem knappen Absatz zu erzählen wußte, so daß "die wälsche Heidin Flora der jungen deutschen Göttin Nanna" bei Fechner hatte weichen müssen, möge der geneigte Leser, so er denn Lust verspürt, selbst nachlesen.

Deusvult

4. Dezember 2025 17:39

"dürftige menschliche Verstand wehrt sich gegen jeglichen nicht rationalen Einfluß auf die verständliche Herrschaft über das Ego"
Nein, denn Liebe wird ja auch nicht abgelehnt und ist irrational. wie Vox Day, den Sie nach wie vor nicht widerlegt haben -- "The Irrational Atheist" -- schon schrieb: nur, weil etwas nicht rational ist, heißt das nicht, daß es nicht richtig ist. Man kann auch in ein brennendes Haus laufen, um jemanden zu retten. 
Ich hatte mit 30 eine Bekehrungserfahrung zu CHristus, bin nicht getauft und konfirmiert, wuchs "säkular" auf, was zu einem Suizideversuch mit 23 führte. Moral ist ohne Gott ja auch nicht zu setzen, mich interessiert die Privatmoral eines Paschulke nicht. 
Wenn nach dem Tod nichts kommt oder man sofort erlöst ist -- was ich ja nach dieser Erfahrung ablehne --, dann kann ich mich umbringen und habe nichts zu bereuen. So einfach ist das: Selbstmord ist rational. Heißt nicht, daß er moralisch gut oder einfach "richtig" ist. C. S. Lewis' "Mere Christianity" geht darauf ja auch ein.
Kostprobe Vox Day:
voxday.net/2025/07/18/they-hate-their-people
voxday.net/2013/08/08/a-fallen-atheis/
voxday.net/2009/09/22/letter-to-common-sense-atheism-i/
Wegner wollte SJWs Always Lie übersetzen; daraus wurde dann aber  "Mit Linken leben".

anatol broder

4. Dezember 2025 21:55

@ old linkerhand 10:24
danke für den hinweis auf prischwin. seine werke würde ich allerdings in der ursprünglichen, russischen fassung lesen.
ich empfehle im gegenzug bulgakows erzählung das hundeherz, die, im jahr 1925 fertiggestellt, nicht vor dem jahr 1987 in russland gedruckt wurde. inhaltlich handelt es sich um eine widerlegung der tabula-rasa-theorie. zur hundertjährigen feierlichkeit (jetzt) wird das mittlerweile berühmte stück in vollen theatern europas aufgeführt. deshalb habe ich seit einem monat einen neuen russischen ohrwurm.

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