Liegt eine Lebensleistung darin liegen, diese Einsicht ohne Trauer ertragen zu können – sowohl mit Blick auf sich selbst wie auf die Menschheit?
Keine Frage, daß das Sein faszinierend ist – weil es überhaupt etwas gibt, weil es aus toter Materie heraus sogar das Leben gibt, und zudem diesem Leben eingeschrieben ein Bewußtsein, das die Mannigfaltigkeit rundum und sich selbst wie all die anderen Wesen zu spiegeln vermag.
Allein mit diesem Faszinosum wird man nicht fertig, wenn man es als solches bemerkt hat. Die meisten allerdings dürften es hinnehmen wie ihren selbsttätig ablaufenden Stoffwechsel, der ihnen als reduziert biologisches Dasein Zweck genug ist und über ihren Egoismus die Richtung angibt.
Der Mensch, tatsächlich das Ebenbild Gottes? Welche Vermessenheit, meint man skeptisch, gerade dies von sich anzunehmen. Läge es doch kraft Erfahrung weit näher, den homo sapiens als eine Art Sollbruchstelle der Schöpfung aufzufassen, wenn man schon von einer Schöpfung und also von einem Schöpfer ausgehen möchte.
Der Riß geht ja nicht nur – jedem spürbar – durch uns selbst, sondern mit uns mitten durch die Welt, ein Riß, von dem man wünschen möchte, daß er sich irgendwann wieder verwächst. Daß dies allerdings durch menschliches Wirken selbst geschähe, dürfte nach allem, was war, nicht zu hoffen sein.
Wer hoffen kann, hofft auf Jesus Christus, dessen Kreuz vor diesem Riß aufgerichtet ist, wie um ihn zu verschließen, gefertigt aus dem Baum des Paradieses, von dem die Erbsünde, der Riß, doch ausging.
An unserem Wesen jedenfalls genas die Welt bislang nicht, im Gegenteil:
Allzu viel von ihr starb bereits für uns weg und aus. So verheerend, daß es nie gutzumachen sein wird. Anders aber ist unser Dasein nicht zu haben als um den Preis des Verbrauchs der Ressourcen. Dies hinzunehmen, dazu bedarf es einer Einsicht, die jedem fühlenden Wesen wehtun muß.
Oder auch nicht. Denn der Mensch beklagt sich nach wie vor weit mehr über sein eigenes Leid als über jenes des Planeten. Daß es – im erweiterten Sinne – eines globalen und längst industriell arbeitenden Schlachthauses bedarf, um den Menschen weiter durchzubringen, ist für ihn eine notwendige, mithin legitime Zwangsläufigkeit.
Selbstverständlich sogar, notgedrungen, daß in diesem Schlachthaus nicht nur die Mitgeschöpfe, sondern die eigenen Brüder und Schwestern geopfert werden – mittlerweile höchst effektiv und berechenbar dank der digitalen Mathematisierung und Algorithmisierung von Welt und Gesellschaft. Mittels Rasterung und Skalierung kann endlich voll durchgegriffen werden.
Aus der ökologischen Katastrophe etwa wird es, nach allem, was wir dazu erkennen, keinen Ausweg geben. Glücklich allein jene tumben Ignoranten, die meinen, es gäbe gar kein ökologisches Problem.
Neben dem Leid immerhin beklagt der Mensch seine Schuld. Beides – gleichermaßen? – mag das religiöse Bedürfnis wecken, mindestens die metaphysische Sehnsucht und das innere Verlangen nach Transzendenz. Während das Leid naturgemäß nicht loszuwerden ist und nicht erst seit Hiob eines permanenten Sorgen- und Verzweiflungstrostes bedarf, wird Schuld über besondere Rituale vergeben.
Einerlei, ob für die erflehte Vergebung nun etwas zu leisten wäre oder nicht, gehen diese Rituale doch immer von der Einsicht aus: Du kannst nicht handeln, ohne schuldig zu werden, dein „Betriebssystem“ läßt es nicht zu.
Schöner und trostreicher Gedanke der Gnosis, es könnte in einer anderen Welt, also mit anderem Bios, auf anderem Motherboard, ein besseres Betriebssystem viel harmonischer laufen, ohne all die Bugs, die uns die Sache hienieden so schwierig gestalten.
Was die Religion uns dennoch oder deswegen verspricht und verheißt, das muß man – glauben.
Aber was für eine Leistung gerade das! Man gehe nur das Apostolische Glaubensbekenntnis gründlich Zeile für Zeile durch, insbesondere wenn man meinte, es bereits bejahend ablegen zu können. Es wird dort vieles bekannt, was, nun ja, so simpel doch kaum zu bekennen ist. Oder anders: Man ließ sich da auf mindestens Unwägbares ein. Glücklich derjenige, der es wie selbstverständlich nachsprach. Sancta simplicitas?
Was verständlich erscheint, insofern im Wägbaren, im Verfügbaren eben keine Erlösung denkbar ist. Aber allein die Auferstehung: Welche Erlösung ist, und zwar im Sinne eines guten Endes, nun genau davon zu erwarten?
Das Mysterium von Golgatha, als christliches Zentralereignis, ist, wohlwollend formuliert, selbst durch jene Erwählten, die es in irgendeiner Weise als Tatsache bekennen und also bewundern, schwerlich zu fassen. Nicht zuletzt in relativer Konkurrenz zu allerlei anderen Mysterien, die, blasphemisch ausgedrückt, seit Jahrtausenden und immer mal neu so im Angebot sind.
An der Stelle darf, ja muß man persönlich werden:
Ich selbst, dessen abenteuerliche Lebensreise in ihr letztes Drittel führt, so sie nicht infolge der alles durchziehenden Kontingenz morgen bereits vorbei ist, ich selbst also habe mich redlich bemüht, Mysterien und Verheißungen, von denen ich erfuhr, nachzuspüren und sie nachdenklich zu prüfen, soweit ich’s vermochte. Was im Verfügbaren nicht zu erlangen ist, dafür bleibt nur das Unverfügbare …
Pfarrer übrigens, mit denen ich zu den schweren Glaubenskernen ins Gespräch zu kommen versuchte, erschienen mir, ruhig angesprochen auf die essentiellste Religionsbestände, eher verdruckst bis geradezu peinlich berührt. Sie waren bereit, sehr beredt über alles mögliche zu reden, über die wichtigsten und letzten Dinge eher nicht. Seltsam.
Wo mir allein je eine Art unio mysica widerfuhr (Und ja, das geschah.), erlebte ich diese ohne religiöse Gloriole und gänzlich bar pastoraler Vermittlung. Mir schwer vorstellbar, daß die Kommunion in einem routiniert durchlaufenden Gottesdienst mir je zu einem inneren Ereignis geworden wäre.
Überhaupt verliefen meine bewußt gründlichen Sondierungen zum Religiösen und Theologischen mit geringerem Ertrag als das, was, weniger mysteriös und mirakelhaft, in Büchern der Physik, der Philosophie und Literatur so zu lesen ist.
Es geht darin durchaus um die zu Beginn dieses Beitrags aufgeworfenen Themen. Und es sind hier und da bestechende Angebote und sogar Antworten zu erlesen – allesamt aber um einen Preis, den nachvollziehbar das religiöse Bewußtsein mindestens so einfach nicht zu entrichten bereit ist, nämlich:
Es gibt darin trotz der Arbeit an Erkenntnis eben kein Versprechen von Trost. Mindestens keine einfach zu erlangende Tröstung, keine jedenfalls, die erlöst.
Und gerade das, ehrlich gesagt, paßt mir. Nein, es beschwert nicht, es befreit, wenn man erst mutig den Schritt geht, der eben nicht auf ein Erlösungsversprechen hofft, sondern den Mumm zur fatalen Einsicht aufbringt, unerlöst leben zu müssen. Was das Leben, Denken, Fühlen und Handeln gerade nicht verwirft, sondern ihm erst recht alles abverlangt.
Wie denn soll ich mir und möglichst den anderen, auch den Mitgeschöpfen gegenüber gut leben, wenn es jenseits des dramatischen Diesseits und mit meinen geringen Fähigkeiten keine echte Hoffnung, schon gar nicht solche auf Erlösung geben sollte? Oje. Wenn ich also unterm leeren Himmel selbst dafür verantwortlich bin und mir die Zeichen für den Weg durch den meist naßkalten Daseinsnebel selbst einschlagen muß?
Das läßt sich bei Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard und meinetwegen Emil Cioran lesen, um nur mal drei zu nennen, die ich nicht allein für Philosophen, sondern für verzweifelte Gottsucher halte, wobei der Erstgenannte noch die gelassensten und tiefsten Antworten zu geben verstand. – Leseprobe, auf daß es hier nicht zu trostlos werde?
„Um so weniger darf es uns in den Sinn kommen, das Aufhören des Lebens für die Vernichtung des belebenden Princips, mithin den Tod für den gänzlichen Untergang des Menschen zu halten. Weil der kräftige Arm, der, vor dreitausend Jahren, den Bogen des Odysseus spannte, nicht mehr ist, wird kein nachdenkender oder wohlgeregelter Verstand die Kraft, welche in demselben so energisch wirkte, für gänzlich vernichtet halten, aber daher, bei fernerem Nachdenken, auch nicht annehmen, daß die Kraft, welche heute den Bogen spannt, erst mit diesem Arm zu existiren angefangen habe. Viel näher liegt der Gedanke, daß die Kraft, welche früher ein nunmehr entwichenes Leben aktuirte, die selbe sei, welche in dem jetzt blühenden thätig ist: ja, dieser ist fast unabweisbar.“
Damit ist freilich nicht alles gesagt, schon gar nicht über die oben gestreiften Themen Schuld und Erlösung. –
Ich begleitete vor einem Jahr das Sterben meiner Mutter, so auch die unmittelbar letzten drei Tage ihres Lebens. Ich saß also an einem Bett des Kreiskrankenhauses Prignitz, sprach der Sterbenden zu, achtete darauf, daß die Kartusche in der Morphin-Pumpe bloß nicht leerliefe, habe noch nie so konzentriert auf den Atem eines anderen Menschen gehört, bis der am dritten Tag zu prasseln begann wie Regen auf einem Dach.
Was an meiner Mutter in diesen Tagen vorbeizog, weiß ich nicht. Wenn ihre Augen sich öffneten, fragte ich nur: „Hast du Schmerzen, Mutti?“ Sie sah mich klar an, offenbar froh darüber, daß ich da war und sagte verblüffend leicht: „Nein, hab‘ ich nicht.“ – Ich darauf: „Dann schlaf mal noch ein bißchen, Mutti. Schlaf dich einfach weiter gesund. Keine Sorge, ich bleibe bei dir.“
Wobei abzusehen war, daß es keinen anderen Weg mehr gab, als jenen, den sie gerade ging, schon gar keinen Rückweg ins Leben. Aber einen Heimweg vielleicht? Zum Schluß, bei den so seltsam leichten wie schwachen Atemzügen sagte ich dann erst: „Gute Reise, liebe Mutti!“ – Wohin aber?
Tiefe Weisheit, die bei Novalis durchzuklingen scheint: „Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“
Das immerhin ist so eine Art Trost für mich. Dafür brauche ich, vielleicht allzu keck, nicht mal ein Sakrament. Das Leben meiner Mutter zog, als sie starb, mindestens an meinem inneren Auge vorbei, denn ich kenne ihr Leben glücklicherweise recht genau, selbst dessen Kapitel vor meiner Geburt.
Und ich kenne meines. Um es mir bewußt zu machen und um wenigstens an einer Stelle, gegenüber quasi einem geduldigen Zuhörer durchweg ehrlich und wahrhaftig zu sein, mindestens es zu versuchen, schreibe ich Tagebuch.
Es ist mein Versuch nicht nur eines umfassenden Protokolls, sondern mehr noch einer inneren Revision und Rechenschaft oder gar Entgiftung. Ich las es jedoch nie auch nur eine einzige Seite zurück. Ich legte all die Seiten und Hefte nur ab, gewissermaßen als meine säkulare Beichte.
Bisheriges Resümee:
Die Hoffnungen meist zu vermessen, die Schuld durchaus immens, die Verheißungen und Erlösungsversprechen nach bisherigem Empfinden so nicht zu geben, obwohl die Menschen offenbar ihrer bedürfen.
In einem allerdings liegen Religion, Philosophie und Alltagsweisheit gleichermaßen richtig: Einzige Pflichttherapie ist tiefe Demut, die des kritisch geprüften Handelns eher bedarf als einer Lebensdepression im Gram.
Mauerbluemchen
Verehrter Herr Bosselmann,
Gott segne Sie (auch) für den geduldigen Beistand am Sterbebett Ihrer Mutter, der teuren Verstorbenen aber reqiuem aeternam dona ei Domine et lux perpetua luceat ei, requiescat in pace, Amen.
Vielleicht wird es Ihnen ein kleiner Trost sein, daß es in dieser Welt und bösen Zeit Menschen gibt, die für diejenigen beten, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht beten.