Jahrtausende der ästhetischen Debatte scheinen erledigt angesichts der Vorstellung, daß alles und eben auch das Schöne relativ ist, Konvention und Konstruktion. Es irritiert deshalb, wenn jemand überhaupt noch die Behauptung wagt, daß man Schönheit objektivieren kann, daß es sich jedenfalls nicht um einen Zufall handelt, sollte das Gesicht eines Models nach und nach weltweit auf allen Umschlägen von großen Illustrierten abgebildet werden, und daß es nicht einfach Tricks der Werbung sind, wenn allen bestimmte Körperproportionen attraktiv erscheinen, daß der Widerstand des gemeinen Mannes gegen die abstrakte Malerei ebenso begründet ist wie die überraschende Ähnlichkeit künstlerischer Konzepte aus weitentfernten Weltgegenden oder die Kontinuität bestimmter Motive oder Gestaltungsweisen über die Zeiten hinweg.
Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt und die Kunsthistorikerin Christa Sütterlin haben sich zur Irritation entschlossen. Sie legen in dem Band Weltsprache Kunst (Zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation, Wien: Brandstätter 2008. 542 S., 590 farbige und SW-Abbildungen, 39,90 €) nicht nur große Mengen Materials vor, um ihre These von der Allgemeingültigkeit ästhetischer Kategorien zu belegen, sie bieten außerdem ein theoretisches Konzept, mit dessen Hilfe sich verstehen läßt, warum es künstlerische Darstellungen gibt, die »wir alle und immer« verstehen und die wir alle schön finden. Die Ursache läßt sich ihrer Meinung nach mit Hilfe einer »Ethologie universeller künstlerischer Motive« aufweisen, die eine Grundfähigkeit zum künstlerischen Ausdruck annimmt und ein System ästhetischer Grundformen identifiziert, das von immer wiederkehrenden Regeln – etwa der Präferenz für Symmetrie oder Rhythmus – bestimmt wird.
Was den ersten Punkt betrifft, so verweist Eibl-Eibesfeldt nicht nur auf Vorformen der Kunst bei Menschenaffen, sondern auch auf deren Begrenztheit, insofern ein Schimpanse zwar Farbe und Pinsel gebraucht – die ihm der Mensch zur Verfügung stellt –, aber doch nur, um bunte Kleckse zu erzeugen, ohne die dem Primitiven wie dem Kind naheliegende Neigung zu abstrakten Konzepten (etwa »Strichmännchen «). Damit ist schon die Verbindung hergestellt zu dem zweiten Aspekt, den die beiden Autoren mit der Natur des Menschen erklären: eine bestimmte Zahl »artspezifischer Vorurteile «, die schon in der Wahrnehmung selbst wirksamen Präferenzen und eine früh ausgeprägte »universale Grammatik menschlichen Sozialverhaltens«, zu der auch der künstlerische Ausdruck gehört.
Der Ansatz von Eibl-Eibesfeldt und Sütterlin erklärt, warum in diesem Buch auf die übliche kunstgeschichtliche Systematik verzichtet wird und man eine antike Schale, das Ornament eines Hochseeboots aus Neuguinea und ein Gemälde von Hundertwasser nebeneinanderstellt, um die durchgängige Ähnlichkeit in den Strukturen der Bilder aufzuweisen. Dieser Fixierung liegt nach Meinung der Autoren eine »perzeptive Konstanzleistung« unseres Gehirns zugrunde: der Abgleich zwischen einer bestimmten Menge optischer Grundmuster mit dem, was uns vorgeführt wird, und die Befriedigung, wenn eine Übereinstimmung in bezug auf die »Gestalt« festgestellt werden kann. Eine Anschauung, die der »Evolutionären Erkenntnistheorie« von Konrad Lorenz folgt, die die Möglichkeit eines Wissens a priori postuliert, das uns nicht durch göttliche Eingabe, sondern »von Natur« zukommt. Damit wird nicht behauptet, daß alles Natürliche schön und alles Schöne natürlich ist, auch nicht, daß die Ästhetik an Vorgaben gebunden werden kann, die sich direkt aus der Natur ableiten lassen, denn die Kunst gehört selbstverständlich zur Kultur und unterliegt insofern eigenen Gesetzen, aber die Natur bleibt doch als Ausgangsvoraussetzung einflußreich: für den Künstler, für das künstlerische Schaffen und für die Wahrnehmung des Werks.
Das heißt für den vorliegenden Fall, daß die Bedeutung eines Bildes nicht nur auf Übereinkunft und Erziehung beruht, sondern auf einer vorkulturellen Basis, »Archetypen«, die in unser aller Gedächtnis gespeichert sind. Solche Urbilder bestimmen auch unsere Idee von schön oder unschön, bedeutsam oder bedeutungslos, und sie gehen zurück auf jene elementare Symbolfähigkeit, die es dem Menschen überhaupt gestattet, irgend etwas mit »Sinn« zu verknüpfen. Eibl-Eibesfeldt sieht darin kein humanes Spezifikum – Symbolgebrauch gibt es auf gewisse Weise auch im Tierreich –, aber beim Menschen können die phylogenetischen Ursprünge zurücktreten, entstehen zahllose »vom Körper abgelöste Kommunikationsträger« und bilden sich im Zuge von Ritualisierungen Verhaltensmuster aus, die zusammen mit der Vielzahl von Ausdrucksformen unseren sozialen Kosmos strukturieren. Eibl-Eibesfeldt glaubt allerdings gerade nicht an dessen Willkürlichkeit, an die Möglichkeit, vollkommen freier Setzung. Alles bleibt – so unnatürlich es wirken mag – Teil eines natürlichen Prozesses.
Insofern ist es für die Autoren auch nicht schwer, die Diversität der künstlerischen Ausdrucksformen zu deuten, da es nach ihrer Meinung zur »Ausstattung des homo sapiens« gehört, »daß er in die Vielfalt tendiert und kulturell versucht, sich zu unterscheiden vom Nachbarn. Darum Stil, Geschichte, Dialekte und so weiter«. Diese natürliche Tendenz zur Kultur erkläre weiter die regelmäßige Verknüpfung des Ästhetischen mit dem Außerästhetischen, etwa des Kunstwerks mit politischen und religiösen Zwecken, dem Aufweis von Über- und Unterordnung, der Klärung von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit.
Ein echtes Problem stellt für diese Theorie eigentlich nur die hochindividualisierte Kunst dar, die sich im europäisch-nordamerikanischen Raum seit etwa hundert Jahren durchgesetzt hat. Eibl-Eibesfeldt weist allerdings darauf hin, daß deren Hervorbringungen nie populär geworden sind und ausführlicher Interpretation bedürfen, um überhaupt als Kunst verstanden zu werden. Auch das könne man unter Hinweis auf die eigentliche Schlüsselanforderung der Evolution – die Anpassungsleistung – interpretieren, aber die »Ästhetik des Häßlichen«, die in der jüngeren Vergangenheit etabliert wurde, habe doch Aspekte, die man als sehr problematisch beurteilen müsse, da sie in keine Auffassung von der »Natur« des Schönen paßt: »Es ist inzwischen bekannt, daß die Stimmen der Abkehr von allem Schönen (und Verbindlichen) längst den Börsengang angetreten haben und von einem breiten Kunstmarkt gestützt werden. (Damit ist die erworbene Autonomie wieder abgegeben an neue Seilschaften sowie ökonomische Interessen.) Negation, die einmal einen aufklärerischen Anspruch der Verweigerung besaß, also eine Aufgabe und einen Gegner, ist zum Selbstläufer geworden ohne weitere Funktion als die, ein bloßes Label zu sein. Man wünscht der Schönheit – nicht nur den Magiern und den Ismen – wieder mehr Gemeinde in den Tempeln der Kunst.«
Bezeichnenderweise wird hier nicht von einer Degeneration im biologischen Sinn gesprochen, sondern von der Gefahr der Dehumanisierung. Denn das Schöne habe – bei aller Vielgestaltigkeit – doch eine einheitliche Wirkung: das, was Eibl-Eibesfeldt und Sütterlin mit dem altertümlichen Begriff der »Exuberanz« bezeichnen, ein Empfinden des Überschwangs im Anblick des Wohlgeratenen und Sinnvollen. Das Schöne hebt für den Moment die Defizite und Widrigkeiten der Welt auf: »Schönheit ›pazifiziert‹«. Wo sie fehlt, wird auch ein Mangel an allgemein erwünschten Einstellungen und Verhaltensweisen merkbar: Muße, Gemeinsinn, Gespräch verschwinden. Bezeichnenderweise werden schöne Plätze in den großen Städten seltener verschandelt als häßliche oder rein funktionale; sie sind auch seltener Ort von Zusammenrottungen oder Gewalttaten.
Es sei auf diese Überlegungen der Autoren am Schluß hingewiesen, weil gegen die Verhaltensforschung immer wieder der Vorwurf laut wird, sie reduziere den Menschen auf seine naturhaften, tierischen Züge. Eher wird man an einem Buch wie dem von Eibl-Eibesfeldt und Sütterlin ablesen können, wie weit heute eine integrative Anthropologie kommen kann, die – ohne alles in allen Fällen zu klären – Erkenntnisse der Natur- und der Geisteswissenschaften ernstnimmt und in ein Modell zu überführen weiß.