, der am 11. September hundert Jahre alt geworden wäre, findet sich auch ein Roman über das Leben seiner Eltern und seine eigene Kindheit. Wer diesen Roman liest und von dem letztlich unerträglichen Schicksal der Mutter Fernaus (»Martha Vanseloh«) erfährt, fragt sich, warum das Buch den Titel Ein wunderbares Leben trägt: Martha verliert Vater und Bruder. Dann wartet sie in einer Art Winterstarre auf denjenigen, der ihr die Ehe versprach und dennoch eine andere heiratete. Als diese Frau stirbt, heiraten sie doch noch, ein Sohn wird geboren – und dann stirbt der Mann (alles noch autobiographisch, Fernau verlor seinen Vater 1918). Die Witwe und das Kind klammern sich aneinander fest, es ist das Jahr 1920, Bromberg wird polonisiert, und Martha muß nach Schlesien umsiedeln. Zuvor aber (und hier verläßt der Roman die Spur der Biographie) ist auch noch ihr Sohn verstorben, an einer »Herzruptur«, an einem zerrissenen Herzen, einer schlummernden Krankheit, die schlagartig und meist tödlich aufbricht.
Was soll das also heißen: Ein wunderbares Leben? Ist dieser Titel zynisch gemeint, als Anklage gegen das Los, das Gott dieser Frau zuwies (der Pastor kommt nicht gut weg in diesem Buch)? Oder steckt in dem Schicksal Marthas der Keim der Poesie, in ihrem Leid die Rechtfertigung für ein zweites, ein glückliches Leben in der Phantasie und somit in der Dichtung? Nach dem Tod ihres Sohnes lebt Martha nämlich »gelöst « weiter, das heißt: Sie hat sich von der Wirklichkeit losgebunden und lebt nur noch in ihrer Vorstellung: schreibt Briefe an ihren Sohn, von dem sie vorgibt, er sei auf einem Internat; reist ihm nach und geht mit ihm durch Paris, wo er ein Studium aufzunehmen gedenkt; legt sich ins Bett und stirbt, als ihr ein Psychologe auf die Schliche kommt und ihren »Fall« in einem Fachmagazin bespricht; flieht also in bester romantischer Manier aus dem Bereich des Unerträglichen in eine andere Welt. Ist das nicht wunderbar?
Man sollte die Deutung an dieser Stelle nicht strapazieren: Ein Leben kann so verlaufen, daß man es eines Tages nicht mehr hinnehmen, nicht mehr ertragen möchte und ihm im Kopfe ganz einfach einen anderen Verlauf gibt. Viel interessanter ist hingegen der Moment im Roman, in dem Joachim Fernau sich selbst mit zehn, elf Jahren an dem bereits erwähnten Herz-Riß sterben läßt. Das heißt ja nichts anderes, als daß er schriftstellerisch die Möglichkeit durchspielt, wie es wäre, wenn er sein Leben nicht hätte leben müssen. In den Büchern und Briefen Fernaus finden sich etliche Stellen, in denen von einem falschen Zeitpunkt der Geburt die Rede ist (»hundert Jahre zu spät«), in denen seine Misanthropie, ja geradezu sein Ekel vor der Masse Mensch und vor der Unverbesserlichkeit dieser Krone der Schöpfung zum Ausdruck kommt. Ist das »Leben-Müssen« der Schlüssel zu Fernau? Ja, zweifelsohne.
Joachim Fernau wird am 11. September 1909 in Bromberg geboren. Der Vater Paul ist verbeamteter Baumeister in der Eisenbahndirektion, er und seine Frau Martha sind beide bereits 39 Jahre alt, als ihr einziges Kind geboren wird. Die Atmosphäre im Hause Fernau ist gutbürgerlich, die Familie ist wohlhabend, aber das änderte sich schlagartig, als der Vater 1918 an einer Infektion stirbt. Die Witwe verarmt, kann das Haus nicht halten und geht in Miete. 1920 wird die Provinz Posen polonisiert: Wer nicht für Polen optiert, muß die Heimat verlassen. Die Fernaus gehen nach Bad Warmbrunn/Schlesien, Joachim besucht das renommierte humanistische Gymnasium in Hirschberg.
Spätere Aufzeichnungen beschreiben die Mutter als verängstigte und einsame Frau, die ihre Lebenshoffnung ausschließlich auf die gesunde Entwicklung ihres Sohnes verlegt hat. Befreiend wirkt da die Freundschaft mit Joachim von Gilgenheimb, dessen Mutter den zweiten Joachim gleich miterzieht und dabei auf »Benehmen, Haltung, Auftreten, Disziplin, Wissen, Kunst« besonderen Wert legt. Sie besitzt ein Radio, gemeinsam hört man Opern- und Theaterübertragungen aus Berlin und Dresden. Die Gilgenheimbsche Bibliothek steht zur Verfügung, man liest nach, diskutiert, blättert in Bildbänden – und läßt sich inspirieren: Zeichnungen, Kompositionen und Texte entstehen, alles noch epigonal, aber sehr ernsthaft und dabei manchmal sehr selbstgefällig melancholisch.
In den Ferien vor dem letzten Schuljahr verbringt Fernau zum ersten Mal einige Tage in Berlin – und ist von der Großstadtatmosphäre begeistert. 1930 nimmt die Telegraphen-Union seine Bewerbung auf eine Volontärstelle als Journalist an, Fernau zieht zusammen mit seiner Mutter nach Berlin um. Nach Abschluß der Ausbildung erhält er eine Festanstellung, wird aber zwei Jahre später wieder entlassen, weil er nicht Mitglied in der NSDAP werden will. Er schreibt von da an – unterbrochen nur durch eine kurze Festanstellung beim Rundfunk – als freier Mitarbeiter für unterschiedliche Zeitungen, unter anderem 1936 als Sonderberichterstatter für das Reichssportblatt von der Olympiade in Berlin und Garmisch-Partenkirchen. An der Universität schnuppert Fernau nur (ein Semester Philosophie), vertieft hingegen seine Kenntnisse in der Kunst und nimmt professionellen Malunterricht.
Trotz seines schmalen Budgets beteiligt er sich nach Kräften am kulturellen Leben der Großstadt.
Auch über diese frühen Berliner Jahre gibt es einen stark autobiographischen Roman von Fernau: Die jungen Männer umfassen etwa den Zeitraum je eines Jahres vor und nach dem 30. Januar 1933. Dieser Tag ist heute als Moment der Machtergreifung Adolf Hitlers ein Schlüsseldatum der deutschen Geschichte. Für Fernau war es der Tag, an dem die Weimarer Republik wieder einmal eine neue Regierung bekam, und an dem ansonsten das Leben und Arbeiten einfach weiterging: Man diskutierte die Ereignisse, aber die Geschichte blieb offen, und nicht ohne Grund reisen die beiden Hauptfiguren Fernaus an besagtem Tag auf Berlin zu und spekulieren gemeinsam mit dem Zug-Kellner über die Bedeutung des Ereignisses:
»Wenn ich es Ihnen sagen darf, meine Herren: Wir fahren in ein Lichter- und Fackelmeer hinein; ich weiß nicht, warum ich einen Moment gezweifelt habe. Ich bin mir aber nicht im klaren, ob sie den Einzug des goldenen Kalbes oder die Einholung Moses’ und der Gesetzestafeln feiern. Ich neige zu dem zweiten, bin aber sowohl als gegenwärtiger Mitropa- Kellner wie als ehemaliger Jagdflieger des Weltkrieges im Zweifel. Mein Bruder, der im Kriege erblindet ist und die Hände verloren hat, hält den Mann, dem dort der Lichterglanz gilt, für einen Messias. Stellen Sie sich vor: Blind und ohne Hände wird er jetzt am Fenster unserer Wohnung stehen, die Armstümpfe zum Himmel erhoben und – wie ich annehmen muß – betend. Einer, der die mittelalterliche Grausamkeit erfahren hat, setzt dem die mittelalterliche Glaubenswut entgegen. Ich – nicht etwa, weil ich sein Bruder bin – ich bringe es nicht fertig, darüber zu höhnen oder zu lachen, wie immer es auch ausgehen mag.«
Eine Rezensentin schrieb, als der Roman 1960 erschien, daß die Art und Weise, wie die große Geschichte neben dem speziellen Leben der jungen Männer herlaufe und es oftmals gar nicht berühre, ein hervorragender Trick sei, die Zeit zu fassen. Diese Beobachtung trifft Fernaus Absicht genau, und in seinem »Trick« stecken drei Botschaften: Fernau will zum einen zeigen, wie der Mensch in seiner Zeit Ereignisse erlebt, die er nicht überblickt, und von denen er nicht weiß, ob sie irgendwann einmal als eine besondere Zeit wahrgenommen werden.
So kann Epochemachendes vorbeirauschen, ohne daß die Welt den Atem anhält. Fernau will zweitens den Menschen (also auch sich selbst) auf diese Weise begriffen sehen und vor der Moral und der Überheblichkeit der Spätergeborenen schützen. Und er will darüber zuletzt zu einer grundsätzlichen Ehrlichkeit zurückkehren: Von Verstrickung, Teilhabe und problematischem Lebensvollzug in der Diktatur kann nur schreiben, wer sie als notwendige Normalität und den kleinen und den großen Widerstand gegen die Tyrannis als die große und auch nicht nur unproblematische Ausnahme begreift.
Fernau selbst leistet keinen Widerstand. Er denkt für einen kurzen Moment über eine Emigration nach, da seine jüdische Verlobte Anfang 1939 nach England ausreisen konnte. Aber der 1. September und die Einberufung nehmen Fernau jede weitere Planung aus der Hand. Die Verlobung hält nicht, und 1943 wird Fernau Gabriele Kerschensteiner heiraten. Zunächst aber dient er vom ersten Kriegstag an, für einige Monate in einem Polizeibataillon in Posen und ab dem Frühjahr 1940 als Kriegsberichterstatter in der Waffen-SS.
Über diese Versetzung ist Fernau nicht glücklich, er hatte über eine Verwendung als Kriegsberichter in der Wehrmacht nachgesucht und war an die Rekrutierer der SS weitergereicht worden, die Versäumtes nachholen und eine eigene Frontberichterstatter- Kompanie aufbauen. Fernau macht den Frankreichfeldzug (1940) mit, berichtet aus dem Kessel von Demjansk (Juni 1942), von der Rückeroberung Charkows (1943) und im selben Jahr von den Kämpfen um Kursk. Danach ist er in Frankreich am Aufbau der Abteilung »Skorpion« beteiligt, die den Durchhaltewillen der eigenen Truppe mittels ungeschminkter Berichterstattung aufrecht erhalten soll. In den Flugblättern und Berichten, die Fernau im Rahmen dieser psychologischen Kriegsführung schreibt, kann man Anklänge an jenen Ton finden, in dem er später seine Bestseller verfaßt: direkte Ansprache des »einfachen Mannes«, Frageund Antwortspiel, unrebellisches Dampfablassen in der Art, daß man »hier unten« mit Fleiß und gesundem Menschenverstand das hinbiegt und umsetzt, was »dort oben« ausgeklügelt und befohlen wird. Fernau baut diese Grundelemente zur Meisterschaft des leichten Stils aus, mit dem er in seinem Buch Guten Abend, Herr Fernau sogar historische Größen zu Gesprächen in seinem Arbeitszimmer aufmarschieren läßt, um sich mit ihnen auf Du und Du zu unterhalten.
Im Juli 1944 wird auch Frankreich zur Front, und im August verfaßt Fernau jene Radioansprache über »Das Geheimnis der letzten Kriegsphase «, die Peter Wapnewski 1967 in der Zeit als »Durchhalteartikel« präsentiert, um Fernau anzugreifen. Fernau darf – ebenfalls in der Zeit – kontern, verweist auf die simple Tatsache, daß es sein Auftrag war, für den Sieg der deutschen Truppen zu schreiben, und geht letztlich unbeschädigt aus der Auseinandersetzung hervor. Er weiß sich neben Namen wie Henri Nannen (Stern) und Lothar-Günter Buchheim (Das Boot) als ehemaliger Kriegsberichterstatter in prominenter Gesellschaft.
Bei Kriegsende demobilisiert Fernau sich und seine Leute in der Nähe des Tegernsees, er selbst schlüpft gemeinsam mit seiner Frau, die sich aus Berlin zu ihm durchgeschlagen hat, in München unter falschem Namen bei Bekannten unter. Mit Gelegenheitsarbeiten, Sprachunterricht und dem Verkauf von Gemälden kommen die Fernaus durch die Nachkriegszeit, 1949 gelingt die Entnazifizierung. Nach kurzen journalistischen Zwischenspielen in München und Stuttgart legt Fernau 1952 sein erstes Buch vor: Von dieser Geschichte der Deutschen kann der Stalling-Verlag unter dem Titel Deutschland, Deutschland über alles im ersten Quartal nach Erscheinen 8000 Exemplare absetzen, das 50. Tausend erscheint bereits 1959.
Gleich mit diesem Werk hat Fernau den Ton gefunden, den er bis zuletzt durchhält: Er geht unbefangen an den Stoff heran, sichert sich nicht umständlich durch Fußnoten oder Referenzen ab, sondern stellt das Komplexe so dar, wie er es begreift. Diese Darstellung erfolgt in einer Sprache, die ein für allemal unverwechselbar bleibt: »Wer die Fernausche Art des Erzählens von Geschichte einfach als ein Berichten aus ironischer, spöttischer oder gar schnoddriger Distanz definiert, macht es sich zu leicht. Der Vorgang ist viel komplizierter. Fernau setzt sich die Narrenkappe bloß auf, um dafür an jenen Stellen, auf die es ihm ankommt, um so unmittelbarer und ernster zu sprechen.« (Armin Mohler)
Der Erfolg macht Fernau finanziell unabhängig und versetzt ihn in eine komfortable Verhandlungsposition. Als sein Verleger 1957 die Geschichte der Liebe unter dem Titel Und sie schämeten sich nicht ablehnt, wechselt Fernau zum Herbig-Verlag, bei dem er bis zu seinem Tod (1988) bleibt.
Man kann das Werk Fernaus in drei Teile gliedern. Am bekanntesten sind die Geschichtswerke, die mit dem Deutschland-Buch und den Genies der Deutschen (1953) einsetzen und bereits 1961 in der Geschichte der Griechen gipfeln, die unter dem Titel Rosen für Apoll erscheint und allein in der gebundenen Ausgabe 400 000 mal verkauft wird. Es folgen Disteln für Hagen (ein Interpretation des Nibelungenliedes, 1966), die Geschichte der Römer (Cäsar läßt grüßen, 1971) und eine bittere historische Abrechnung mit den USA (Halleluja, 1977). Mit Sprechen wir über Preußen legt Fernau 1981 seine letzte große Geschichtsbetrachtung vor, eine Nacherzählung des Alten Testaments bleibt unvollendet, und die Geschichte Rußlands nur ein Plan.
Nicht viel weniger umfangreich, jedoch im Verkauf deutlich weniger erfolgreich ist Fernaus Prosawerk, von dem heute kein einziger Titel mehr lieferbar ist. Neben den erwähnten autobiographischen Romanen stechen qualitativ die Novelle Hauptmann Pax (1954, über eine ungeheure Flucht aus russischer Kriegsgefangenschaft) und der Roman über Goethes letzte Liebe (War es schön in Marienbad, 1982) hervor, vielleicht auch noch der »Sommernachtstraum« Sappho, in den Fernau, diesmal ganz Schalk, den Gedichten der griechischen Sängerin zwei eigene unterjubelt, »zur Verwirrung der Zunft«. Die Gelegenheitsarbeiten und die Aufsätze über Kunst und Architektur füllen eine dritte Rubrik.
Aber diese Kategorisierung führt nicht weiter, sie teilt Fernaus Werk an der falschen Stelle. Seinen schönsten Werken, zu denen sicher Disteln für Hagen und Ein wunderbares Leben gehören, liegt ein gemeinsames Muster zugrunde. Armin Mohler schrieb, Fernau habe früh erkannt, »welche Blößen sich seine Landsleute mit ihrer einseitig wirtschaftlichen Ausrichtung gaben: sie mußte notwendig in Geschichtsvergessenheit und damit auch in Zukunftsblindheit münden. Beides zusammen macht eine Gesellschaft, ein Volk äußerst verwundbar. Joachim Fernaus schriftstellerische Genialität bestand darin, den Deutschen so ganz nebenher und lässig das Groteske ihrer Situation bewußt zu machen.« An der Zeit leiden und dennoch einen Ton finden, der nicht Orgien der Verachtung zelebriert, sondern das Wunderbare, das Unvorhersehbare, das Schicksalhafte zur Geltung bringt: Das ist Fernau. Das ist zeitlos wichtig.