Als wenig hilfreich für das Verständnis Europas erweist sich auch die jüngere politische Entwicklung des Kontinents. Politik und Selbstverständnis der Europäischen Union orientieren sich keineswegs durchgängig an überkommenen europäischen Grundprinzipien. Das gilt insbesondere für die einseitig wirtschaftspolitische Ausrichtung, die unzulängliche demokratische Fundierung und das zentralistische Gebaren der inzwischen entstandenen europäischen Mammutbürokratie. Die Identität Europas wird auch nicht klarer, wenn man den Blick auf die derzeitigen und zukünftigen Mitglieder der Staatengemeinschaft richtet. Einerseits gehören ihr Kroatien, Norwegen und die Schweiz nicht an, andererseits werden auch innerhalb der EU Pläne zur Einbeziehung der Türkei und anderer nichteuropäischer Länder verfolgt.
Europa läßt sich weder geographisch noch wirtschaftlich noch von der gegenwärtigen Politik her definieren, sondern nur als historisch-kulturelles Phänomen erfassen. Dabei fällt als erstes eine europäische Eigentümlichkeit ins Auge: die ethnische Vielfalt. Die derzeit rund 720 Millionen Europäer gliedern sich ungeachtet des verhältnismäßig kleinen Siedlungsareals in zahlreiche Völker, von denen die kleinsten nur wenige Zehntausende, die größten aber viele Millionen umfassen. Entscheidender noch dürfte sein, daß – ebenfalls ein europäisches Spezifikum – der Wille zur regionalen Autonomie hier stark ausgeprägt ist. Vor diesem Hintergrund ist die Geschichte Europas stets die Geschichte seiner Völker. Monolithisch strukturierte Großreiche wie in Asien hat es hier nie gegeben; alle Versuche, eine Alleinherrschaft über den ganzen Kontinent zu errichten, sind gescheitert.
Gleichwohl haben sich oberhalb der nationalen Ebene europäische Gemeinsamkeiten entwickelt, die zusammengenommen die Identität Europas ausmachen, eine Identität, die sich, ebenso wie die ethnische Grundstruktur, von anderen Kulturen deutlich abhebt. Grundlegend ist dabei ein kultureller und politischer Amalgamierungsprozeß, der sich in der Spätantike und im frühen Mittelalter abspielt: die Verschmelzung von Antike, Christentum und germanischer Welt. Aus dieser Verbindung ergibt sich – deutlich faßbar seit dem 8. Jahrhundert – als völlig neues historisches Phänomen das europäische Abendland, das seine damals entwickelte Identität bis heute bewahrt hat.
Das Werden des Abendlandes verläuft wie jeder Geburtsprozeß schmerzhaft. Es sind düstere Jahrhunderte, die zwischen der Auflösung des Römischen Reiches und der Renovatio Imperii durch Karl den Großen liegen, ein „Wellental der Weltgeschichte”. Das Imperium gerät nach einer langen Glanzzeit mit uneingeschränkter Vorrangstellung während des 3. Jahrhunderts in eine gefährliche Krise, bei der innen‑, außen- und wirtschaftspolitische Gründe zusammenwirken. Nur mit den brutalen Mitteln des „spätantiken Zwangsstaats” gelingt es, den sich bereits abzeichnenden Untergang des Reiches hinauszuschieben. Dadurch ergibt sich für die in das Imperium drängenden Germanen die Möglichkeit, die antike Kultur kennen und schätzen zu lernen.
Während des 3. und 4. Jahrhunderts vollzieht sich die Christianisierung des Mittelmeerraums einerseits, die Übernahme des antiken Erbes durch die Christen andererseits. Zunächst befindet sich das Christentum in der Defensive. Die Kaiser gehen in ihrem Bestreben, alle politischen, wirtschaftlichen und geistigen Kräfte zur Rettung des Reiches zusammenzufassen, zur systematischen Verfolgung der Christen über, die, da sie sich dem offiziell verordneten Kaiserkult widersetzen, als Staatsfeinde gelten. Das Christentum geht jedoch aus dieser Prüfungszeit gestärkt hervor, da die Haltung, mit der Tausende gefaßt in den Tod gehen, einen starken Eindruck hinterläßt („Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Christenheit”). Überdies machen die Christen Ernst mit dem Gebot der „Caritas”, und immer mehr Menschen suchen und finden in diesen wirren Zeiten eine gewisse Geborgenheit innerhalb ihrer Gemeinden. Seit der Regierungszeit Kaiser Konstantins (306–337) entwickelt sich dann das Christentum selbst zur geistigen Klammer des Reiches; unter Kaiser Theodosius (379–395) wird es alleinige Staatsreligion.
In das nunmehr christliche Imperium brechen seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert im Zuge der Völkerwanderung die Germanen ein, ein Vorgang, den die romanischen Völker bis heute als „les grandes invasions des barbares” bezeichnen. Daß junge, unverbrauchte Völker das Erbe alter Kulturen antreten, kommt in der Geschichte immer wieder vor, aber selten sind die Voraussetzungen für eine fruchtbare Begegnung so günstig wie hier. Die Germanen stehen der antiken Kultur bewundernd und aufnahmebereit gegenüber; Sieger und Besiegte verbindet außerdem viel Gemeinsames, beispielsweise der beiderseits entwickelte Sinn für Politisches, für Staat, Recht und Militär.
Besonders intensiv vollzieht sich die Begegnung in den Grenzgebieten des Reiches, da hier beiderseits große Bevölkerungsgruppen betroffen sind. Hinzu kommt, daß in dieser Region die jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Eliten zusammentreffen, nämlich die besonders um die Reichshauptstädte Trier und Mailand konzentrierte spätrömische Führungsschicht und die aufstrebenden germanischen Stammeskönige mit ihren Gefolgschaften.
In den grenzferneren Reichsgebieten, in Spanien etwa oder in Süditalien, kommt es dagegen nicht zu vergleichbaren Beziehungen zwischen beiden Bevölkerungsgruppen, da die Zahl der einwandernden Germanen hier so gering ist, daß sie bald in der romanischen Mehrheitsbevölkerung aufgehen. In Südosteuropa findet überhaupt keine Begegnung statt, da es dem Oströmischen Reich, das seit der Reichsteilung des Jahres 395 eine eigenständige Entwicklung nimmt, gelingt, alle germanischen Angriffe abzuweisen. Das Oströmische Reich entgeht – anders als der westliche Reichsteil – auf diese Weise zwar dem Untergang, erfährt aber auch keine Neubelebung. Vielmehr bleiben der spätantike Absolutismus und die kaiserliche Kirchenhoheit („Cäsaropapismus”) bis zur Eroberung des Reiches durch die Türken erhalten; beides wird nach der Eroberung Konstantinopels (1453) vom Moskauer Zarentum fortgesetzt.
Auf dem europäischen Kontinent entwickeln sich also zwei Kulturen, die lateinisch-abendländische, die aus der Verschmelzung von weströmischer Antike, Germanentum und römisch-katholischem Christentum hervorgeht, und die auf dem Boden des Oströmischen Reiches entstehende griechisch-orthodoxe Kultur, die in religiöser Hinsicht durch die Ostkirche, ethnisch vor allem von Griechen und Slawen geprägt ist, an der aber das Germanentum keinerlei Anteil hat. Die Grenze zwischen beiden Regionen folgt bis zum heutigen Tag derjenigen der Reichsteilung des Jahres 395, außerhalb des Reichsgebietes dann einer Linie, die sich in den darauf folgenden Jahrhunderten zwischen den von Rom und den von Konstantinopel aus missionierten Ländern bildet (Save, Karpaten, heutige Ostgrenze Polens, baltische Länder und Finnland).
Europa im engeren Sinne, das Abendland, reicht also nur bis zu dieser Linie. Seinen Kernraum bildet von Anfang an das Gebiet zwischen Rhein, Loire und Po, jene Region also, in der sich die Begegnung zwischen Romanen und Germanen am intensivsten vollzieht. Von Kerneuropa sind die wesentlichen Impulse der abendländisch-europäischen Geschichte ausgegangen.
In Nordfrankreich siedeln die Franken, in der Poebene Ostgoten und Langobarden dicht, und nach der Landnahme stehen Herrscher wie Theoderich (473–526) und Chlodwig (482–511) der römischen Kultur besonders aufgeschlossen gegenüber. Auf unterschiedliche Weise bedienen sie sich der für sie nutzbaren Machtmittel des untergegangenen Römischen Reiches, der riesigen Staatsdomänen etwa oder der eingespielten Verwaltungsbürokratie. Während Theoderich wie die meisten anderen Germanenkönige eine Politik der getrennten Entwicklung beider Bevölkerungsgruppen betreibt und an der arianischen Konfession festhält, die ihn von der römisch-katholischen Mehrheit seiner Untertanen trennt, setzt Chlodwig von Anfang an auf volle Integration. Indem er sich zusammen mit den Großen seines Reichs römisch-katholisch taufen läßt, schafft er eine wesentliche Voraussetzung für die zukunftweisende Verbindung von Antike, Christentum und Germanentum und für die – auch biologische – Verschmelzung von Germanen und Romanen. Zahlreiche Angehörige der alten römischen Führungsschicht treten in den Dienst des Königs, den sie nunmehr als Nachfolger der Cäsaren sehen, und wachsen mit dessen Anhängern und Gefolgsleuten zu einem neuen Dienstadel zusammen, der dann im Rahmen des fränkischen Lehnsstaates, einer echten Neuschöpfung mit antiken, kirchlichen und germanischen Wurzeln, in politischer, gesellschaftlicher und militärischer Hinsicht größte Bedeutung erlangt. Vom Frankenreich aus breiten sich dann in der Folgezeit Lehnswesen und ritterliche Kultur über das europäische Abendland aus.
Auch die wesentlichen Phänomene der weiteren europäischen Geschichte, etwa Städtewesen und Bürgertum, Gotik und Renaissance, Stände- und Verfassungsstaat, die Französische Revolution und die parlamentarische Demokratie, Kapitalismus und Industrielle Revolution, Wissenschaft und Sozialstaat sind von Kerneuropa ausgegangen, zu dem außer dem Gebiet des fränkischen Reiches seit der normannischen Eroberung von 1066 auch England gehört. Auch die wichtigsten europäischen Staatsgebilde sind – Rußland ausgenommen – hier entstanden, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, die Königreiche Frankreich und England, später dann der französische, britische, italienische und deutsche Nationalstaat, schließlich auch die Montanunion als Vorgängerin der heutigen EU.
Drei konstitutive Prinzipien des Abendlandes bestimmen dessen Geschichte, die sich, wie die abendländische Kultur selbst, im einzelnen ebenfalls aus der Verschmelzung, antiker, germanischer und christlicher Elemente entwickelt haben und die besonders beim Vergleich mit anderen Weltregionen deutlich hervortreten: die Idee der persönlichen, politischen und geistigen Freiheit, der rationale Erkenntnis- und Gestaltungswille und der Grundsatz der Humanität. Die ältesten Wurzeln der Freiheitsidee Europas reichen bis zu den Griechen zurück, die erstmals die demokratische Staatsform entwickeln und in den Perserkriegen erfolgreich verteidigen, schon damals in dem Bewußtsein, daß hier ein freiheitliches Europa und ein despotisches Asien miteinander ringen. Entstehung und Entwicklung der Römischen Republik vollziehen sich ebenfalls im Zeichen der politischen Freiheitsidee; überdies haben die Römer mit ihrem Rechtsdenken, das seit dem 12. Jahrhundert in weiten Teilen Europas rezipiert wird, die Entwicklung des Kontinents stark beeinflußt. Auch der christliche Freiheitsgedanke Freiheit als Möglichkeit, zu Gott zu gelangen spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Entscheidend für die staatliche Entwicklung des Abendlandes ist jedoch der bereits von Tacitus so nachdrücklich hervorgehobene Freiheitswille der Germanen geworden.
Der Personenverbandsstaat des Mittelalters kennt tyrannische Herrschaftsstrukturen ebensowenig wie der spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Ständestaat, die konstitutionelle Monarchie und die parlamentarische Demokratie. Politische und geistige Despotie treten zwar im Zeitalter des Absolutismus und in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts auf, aber auch hier erhebt sich stets Widerspruch und Widerstand: Viele absolutistische Staaten, so etwa Preußen und Österreich, wandeln sich schon sehr bald zu aufgeklärten Monarchien, und die totalitären Diktaturen haben bezeichnenderweise alle nur zeitweilig bestanden, die meisten nur für wenige Jahre.
Auch der europäische Rationalismus hat seine ältesten Grundlagen in der Antike, im nüchternen Denken der Römer und vor allem in der griechischen Philosophie und Wissenschaft. Spätestens seit der Gründung der ersten Universitäten gewinnt dann das Prinzip der Ratio mehr und mehr an Bedeutung, das alle Lebensbereiche der kritischen Betrachtung durch die Vernunft unterzieht, dabei das eigene Vorgehen mit Skepsis und methodischem Zweifel begleitet und schließlich zur Entwicklung der modernen Wissenschaft und Technik führt, die sich von Europa aus über die ganze Erde verbreiten.
Der Gedanke der Humanität schließlich beruht auf der Achtung vor der personalen Würde des Menschen und ist zutiefst mit der christlichen Tradition verknüpft. Aber auch hier gibt es ältere Wurzeln. Die römische Philosophie, vor allem aber Kunst, Dichtung und Philosophie der griechischen Klassik thematisieren die Humanitas. Schon die Griechen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts sehen – anders als die Zeitgenossen – im Gegner nicht nur den zu bekämpfenden Feind, sondern auch den Menschen, wie es besonders deutlich in der Tragödie Antigone des Sophokles zum Ausdruck kommt („Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da”). Von hier aus ist es dann nur noch ein Schritt bis zum Gebot der christlichen Nächstenliebe.
Die Leitprinzipien der Freiheit, der Menschlichkeit und der Ratio sind vorzugsweise mit der Entwicklung im abendländischen Teil Europas verknüpft, besonders die beiden ersteren. Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und freiheitliche Demokratie haben sich im Osten und Südosten des Kontinents entweder sehr zögerlich oder nur ansatzweise durchgesetzt. Das gilt bis zum heutigen Tag für Balkanstaaten wie Serbien, Mazedonien, Bulgarien und Rumänien, erst recht für Osteuropa, wo sich die Strukturen des Zarenreichs und der Sowjetunion nicht grundlegend verändert haben. Umgekehrt haben die abendländisch geprägten Völker des sowjetischen Herrschaftsbereichs sofort und entschlossen die „Rückkehr nach Europa” angetreten, sobald sie den politischen Spielraum dafür hatten. Nicht zufällig sind dies diejenigen Völker, die westlich der alten, letztlich auf das Jahr 395 zurückgehenden Kulturgrenze ansässig sind. Dieser auffällige Unterschied, der offenkundige Zusammenhang zwischen der Grundlegung Europas und dem Zerfall der Sowjetunion beweist, daß der Kontinent immer noch in eine westliche und eine östliche Region geteilt ist. Ob sich diese Spaltung nach dem EU-Beitritt weiterer ost- und südosteuropäischer Staaten mildern oder vielleicht sogar eines Tages aufheben läßt, bleibt abzuwarten.