Verlieren können

pdf der Druckfassung aus Sezession 31 / August 2009

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

pdf der Druck­fas­sung aus Sezes­si­on 31 / August 2009

Der Krieg ist Vater aller Din­ge, und als Deut­sche sind wir heu­te aus­nahms­los sei­ne Kin­der, oder viel­mehr: die Kin­der gleich zwei­er gro­ßer Nie­der­la­gen. Von der letz­ten die­ser bei­den sag­te Ernst Jün­ger, daß man sich von einer sol­chen nicht mehr erho­le. Alles, was wir heu­te in Deutsch­land an poli­ti­schen Müdig­kei­ten und Pas­sio­nen, an irr­wit­zi­gen Natio­nal­ma­so­chis­men und Neu­ro­sen, an Exzen­tri­zi­tä­ten und Extre­mis­men, an Bil­der­stür­me­rei­en und Den­noch-die-Schwer­ter-Hal­ten wahr­neh­men kön­nen, hat unterm Strich sei­nen psy­cho­lo­gi­schen Ursprung in dem Trau­ma von 1945. Obwohl wir uns tag­täg­lich ein­re­den, daß gera­de die­se Nie­der­la­ge uns erlöst hät­te, sind wir immer noch geis­tig-see­lisch Hei­mat­lo­se. Was nach Hit­ler, dem Dra­chen­ei des Trau­mas von 1918ff, noch von der deut­schen See­le übrig­ge­blie­ben war, raub­ten die rus­si­schen Ver­ge­wal­ti­ger und kauf­ten die ame­ri­ka­ni­schen Zuhäl­ter. Die Bewäl­ti­gung des Trau­mas wür­de nichts ande­res bedeu­ten, als aus den Scher­ben eine neue Iden­ti­tät zu errich­ten, die der eige­nen Geschich­te und dem eige­nen Wesen, das man irgend­wo noch dumpf ahnt, beja­hend gerecht wür­de. In die­sem Laby­rinth, in dem kein Schlüs­sel mehr zu pas­sen scheint, irren wir nun seit Jahr­zehn­ten her­um. In die­ser Lage nimmt man mit bren­nen­der Neu­gier ein Bänd­chen zur Hand, das die Stirn hat, sich Der Vor­sprung der Besieg­ten zu beti­teln. Baal Mül­ler folgt dar­in dem His­to­ri­ker Wolf­gang Schi­vel­busch, der in sei­nem Werk Die Kul­tur der Nie­der­la­ge ver­sucht auf­zu­zei­gen, wie »gera­de aus der Ver­lie­rer­po­si­ti­on erstaun­li­che kul­tu­rel­le, poli­tisch-admi­nis­tra­ti­ve, tech­ni­sche und öko­no­mi­sche Inno­va­tio­nen erwach­sen kön­nen, da der Besieg­te – anders als der lor­beer­um­kränz­te Sie­ger – zu einer schmerz­haf­ten, dafür um so grund­le­gen­de­ren, Refle­xi­on sei­ner Posi­tio­nen und Identität(en) genö­tigt ist« (Mül­ler). Der Rezen­sent ver­schlang Mül­lers glän­zend geschrie­be­nen, mit luzi­den, ver­blüf­fen­den Pas­sa­gen gespick­ten Essay mit her­aus­hän­gen­der Zun­ge, der Ant­wort auf die ban­ge Fra­ge ent­ge­gen­he­chelnd, wor­in denn nun fak­tisch der »Vor­sprung« und vita­le Erkennt­nis­ge­winn der »Besieg­ten von 1945« bestehe. Das Büch­lein endet mit der vagen Skiz­ze eines »ästhe­ti­schen Son­der­wegs« im Sin­ne des »Gehei­men Deutsch­lands«, was so ent­täu­schend ist, als hät­te Aga­tha Chris­tie uns im letz­ten Kapi­tel den Mör­der vor­ent­hal­ten. Am Ende bleibt wohl doch nur ein »Vor­sprung« in der Deka­denz zu ver­zeich­nen, den inzwi­schen die gar nicht mehr so sieg­reich wir­ken­den Sie­ger von 1945 mit rasen­der Geschwin­dig­keit aufholen.

(Baal Mül­ler: Der Vor­sprung der Besieg­ten. Schnell­ro­da: Edi­ti­on Antai­os 2009, 96 S., 8.50 €)

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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