Der impulsive georgische Präsident Micheil Saakaschwili war in die Falle gegangen. Jahrelang hatte er versucht, den seit fast zwei Jahrzehnten schwelenden Konflikt mit Südossetien (und mit dem ebenfalls abgängigen Abchasien im Nordwesten der Republik Georgien) mit politischen Mitteln zu lösen, zuletzt mit weitreichenden Autonomieangeboten.
Rußland hingegen hatte die Separatisten zwar (wohlweislich) nie als unabhängige Staaten anerkannt, aber zur Schwächung und Destabilisierung des georgischen Staatswesens benutzt. Im Laufe des Sommers häuften sich die Scharmützel zwischen georgischen Soldaten und südossetischen Milizionären – trotz der russischen „Friedentruppen” in Südossetien. Gleichzeitig hielt Moskau im Nordkaukasus das Manöver „Kaukasus 2008” ab, das als Vorbereitung zur Invasion angesehen werden kann. Auch über die Offensichtlichkeit hinaus, daß Moskau gerne selbst bestimmen möchte, wer seine Nachbarländer regiert, wird man nicht fehlgehen, eine persönliche Aversion Putins gegen den prowestlichen Saakaschwili als wesentliches Motiv zur Herbeiführung der Eskalation anzunehmen.
Die russische Regierung (und ihre Marionetten) behaupteten, die georgischen Truppen hätten in Südossetien einen „Genozid” begangen oder begonnen. Auch in westlichen Medien kursierten abstrus übertriebene Opferzahlen, die von der allseits als mafios unterwandert bekannten südossetischen Regierung lanciert worden waren. Westliche Journalisten berichteten aus dem ganz offensichtlich weitgehend unzerstörten Zchinwali, sie berichteten im Sinne der russischen Propaganda „aus einer zerstörten Stadt”, obwohl auf den Bildern nicht viel davon zu sehen war. An die Tatsache, daß im Laufe der beiden Tschetschenienkriege etwa 10 Prozent des etwa eine Million Menschen zählenden tschetschenischen Volkes ums Leben gekommen ist, und daran, daß die Stadt Grosny von der russischen Artillerie und Luftwaffe so gründlich zerstört worden ist wie keine andere Stadt seit Hiroshima, mochte man sich im Westen nicht erinnern.
Einige aber erinnerten sich. Am 14. August ertönte in Frankreich eine publizistische Fanfare denkbar großer Lautstärke: Die beiden Philosophen André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy veröffentlichten in der altlinken Tageszeitung Libération einen wahrhaft schmetternden Aufruf in der großen stilistischen Tradition französischer Pamphletistik: „SOS Georgien? SOS Europa!” Die beiden erklärten darin die russische Invasion in Georgien zum wahrscheinlich wichtigsten historischen Wendepunkt seit dem Fall der Berliner Mauer, zu einer Angelegenheit, die nicht nur Georgien und auch nicht nur die Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder des ehemaligen Ostblocks betreffe – sondern ganz Europa. Warum denn Rußland noch im Europarat sei, warum noch in der G8? „Es ist Zeit, die Methoden zu ändern. Die Europäer haben – machtlos, weil uneinig – bei der Belagerung von Sarajewo geholfen. Sie haben zugeschaut – machtlos, weil blind -, wie Grosny in Stücke geschlagen wurde. Wird uns die Feigheit auch diesmal dazu bringen, passiv und kurzatmig zuzusehen, wie die Demokratie in Tiflis zerstört wird? Europa […] befindet sich am Rande des Komas.”
André Glucksmann ist, was offenen Protest gegen die neosowjetischen Anwandlungen der Rußländischen Föderation betrifft, keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. Während der heißen Phasen des Zweiten Tschetschenienkrieges in den ersten Jahren dieses Jahrzehnts war Glucksmann buchstäblich die einzige Geistesgröße Europas, die sich wieder und wieder mit dringenden Appellen zur Unterstützung der Republik Tschetschenien an die europäische Öffentlichkeit gewandt hat. Er protestierte gegen die russischen Kriegsverbrechen in Tschetschenien und war selbst auch mehrfach im Lande – illegal (aus russischer Perspektive), eingereist über Georgien in den von den Rebellen beherrschten gebirgigen Süden des kleinen Kaukasuslandes.
Am nächsten Morgen, dem des 15. Augusts, machte das feuilletonistische Internet-Portal perlentaucher. de mit einer stolze vier Zeilen langen Meldung auf den Aufruf von Glucksmann und Lévy in der Libération aufmerksam. Nun ist das Verhältnis zwischen der FAZ und dem Perlentaucher seit 2006 ein angespanntes, seit die FAZ und die SZ vergeblich versucht haben, dem Perlentaucher die systematische Veröffentlichung von Buchrezensions- Zusammenfassungen gerichtlich verbieten zu lassen. Üblicherweise stichelt der Perlentaucher gegen die FAZ, in diesem Fall war es umgekehrt.
Der politischen und stilistischen Generallinie der FAZ hätte es entsprochen, den flammenden Glucksmann/Lévy-Appell mit modesten Worten lobend zu erwähnen, wie man es mit anderen Stimmen, die zu westlicher Ent- und Geschlossenheit gegenüber Putins Rußland aufrufen, auch tut. Hier aber hatte man sich in Frankfurt anscheinend aus unerfindlichen Gründen provoziert gefühlt. Jedenfalls erschien am Nachmittag des 15. August auf Faz.net ein Kommentar von – Lorenz Jäger.
Der Rechtsausleger des FAZ-Feuilletons beklagte die „strategische Einkreisung Rußlands” durch „mehr oder weniger offenes Einsickern der Nato in die Anrainerstaaten”. Rußland habe bewiesen, daß es zur Selbstbehauptung in der Region fähig sei. „Die Stimmen von Glucksmann und Lévy werden in Europa gehört, sie haben, in Deutschland etwa, das Portal ‚Perlentaucher‘ auf ihrer Seite.” Der Perlentaucher seinerseits reagierte, indem er drei Tage später, „jetzt erst recht”, eine Komplettübersetzung des Glucksmann/Lévy- Appells veröffentlichte.
Es versteht sich, daß man in den Kämmerlein der Wissenden des Internets noch viel geopolitischere Erklärungsansätze als Lorenz Jäger vorzubringen wußte. Das Portal 0815-info.de etwa erklärte seinen Lesern unter Berufung auf einen Reporter namens Brian Harring, daß Israel dabeigewesen sei, von Georgien aus einen Luftschlag gegen den Iran vorzubereiten – nicht nur gegen die iranischen Nuklearanlagen, sondern auch gleich gegen die iranische Ölindustrie. Man zeigte sich erfreut, daß dies durch die russische Invasion verhindert worden sei: Rußland hat sie gewonnen, die erste Schlacht „eines neuen durch Stellvertreter geführten Krieges zwischen anglo-amerikanisch-israelischen Interessen und Rußland”. Fluchtartig hätten Amerikaner und Israelis das Land verlassen. „Außerdem erbeuteten die Russen große Mengen amerikanischer Waffen, nachrichtentechnische Ausrüstung, unbemannte Flugzeugdrohnen und Lastwagen voll mit Geheimdokumenten.” Man fragt sich, warum – sollte die Enthüllung mehr sein als eine Verschwörungstheorie – derlei Gerät ausgerechnet an der Grenze zu Südossetien deponiert wurde.
Lorenz Jäger spricht von der „Selbstbehauptung Rußlands in der Region”. Der russische Komponist Wladimir Tarnopolski hat kürzlich das traditionelle mentale Verhältnis Rußlands zu Georgien mit dem Deutschlands zu Italien und mit dem eines Liebhabers zu seiner Geliebten verglichen: „Ein gewisser Leichtsinn, das oft kreative Verhältnis zur Wahrheit erhöhten nur ihren Charme.
Wenn die Ukraine für Rußland wie ein Bruder war, so hing es an Georgien wie an einer Geliebten.” (FAZ, 9. August 2008) Ganz in diesem Sinne warnte der ewige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow, Georgien davor, sich mit den USA einzulassen: „Glaubt ja nicht, daß die Amerikaner euch so lieben werden, wie euch die Russen geliebt haben.” Georgien seinerseits empfindet offensichtlich die jüngsten Annäherungsversuche Rußlands als durchaus lästig.