dem Schmöker Von der Kunst, kein Egoist zu sein des (verdächtig gut aussehenden) Modephilosophen Richard David Precht und dem Traktat Müdigkeitsgesellschaft des deutsch schreibenden koreanischen Professors Byung-Chul Han.
Alle drei böten “dem Bürger”, “hervorragend zum Nebel der Jahreszeit” eine tüchtige Dosis “Antikapitalismus”, “Antimodernismus” und “Technologiefeindlichkeit” und “schöne, warme Wut” zum “schweren Rotwein”, abends am Kamin. Was sie eint, sei vor allem die Klage über die “westliche Leistungsgesellschaft” und die Totalherrschaft des “Marktes” über die Seelen. Bei Precht liest sich das etwa so:
Der psychische Ausverkauf der Seelenreservate an die Unerbittlichkeit des Marktes ist weiter fortgeschritten, als wir wahrhaben wollen.
Vorgetragen wird der Bericht über die fashionablen “Wutbücher” und “Traktate der schlechten Laune” mit dem Spiegel-üblichen Sound der wohlfeilen Herablassung, die sich so prima aus der Luft heraus absondern läßt, ohne daß man selbst Farbe für einen konkreten Standort bekennen müßte. Überall reinfingern, aber nirgends zugreifen, in alle Richtungen mit Wasser spritzen, aber nicht naß werden.
Der Begriff vom “Bürger” wird da in allen Ableitungen als Signalklischee eingesetzt, das wohl vage auf die Überlegenheit des sich vom “Bürger” oder auch vom “Bildungsbürger” absetzenden (natürlich linkslastigen) Durchblicksintellektuellen verweisen soll. Also der übliche Wettbewerb der radikalen Posen, ein letztlich unverbindliches “Schere, Stein, Papier”-Spielchen: das Vernichtendste, was man über diese Traktate sagen kann, ist dann, daß sie in Wirklichkeit “Kontemplation, nicht Kommunikation” fördern, “Innerlichkeit, Ledersessel, Ruhe. Das gute Leben, wie es sich der Bürger vorstellt, wenn er in seinen Kamin starrt.”
(Ich kann diese Rede, diesen ganzen veralteten Begriffsballast vom “Bürger”, jedenfalls auf diese ausgeleierte Krampfmelodie gesungen, nicht mehr hören. Denn wer ist denn heute nicht “Bürger” und wer ist keiner, und wer will es nicht sein, und warum nicht? Alle Spiegel-Leser und ‑autoren sind “Bürger”, alle Sezessions-Leser und ‑autoren sind “Bürger”, ich, Lichtmesz und Sie, und alle anderen. Und nebenbei, welcher “Bürger” hat denn heute noch einen “Kamin”?)
Ich habe weder Precht noch Han gelesen, und kann darüber kein Urteil abgeben. Das Argument, daß der Konsum solcher Bücher zum Inventar derselben Misere gehört, die sie kritisieren, hat gewiß etwas für sich. Aber daraus folgt nun was? Es führt nirgendwo hin, und sagt auch rein gar nichts über den analytischen Wert dieser Bücher aus. Da kann auch Diez nur mit der Spiegel-Schulter zucken:
Die alternde Gesellschaft, die Angst vor dem Abstieg der Mittelschicht, das Schwinden des Westens, das Outsourcing unserer Intelligenz an eine Maschine mit ein paar Tasten, all das findet ja statt. Und es ist ein ganz menschlicher Reflex, dass man das Unangenehme (sic! M. L.) nicht mag.
Dem gleichen Autor, der die “Wutbücher” als bloße Schlafmittel und Simulacren lächerlich zu machen versucht, fällt zu den “unangenehmen” Dingen, die “ja stattfinden”, also nichts besseres ein, als zu bagatellisieren und rhetorisch zu zerfuzzeln, bis nur mehr ein müdes “Jetzt entkrampft euch doch mal bißchen, ihr Miesepeter” übrigbleibt:
Problematisch wird es nur, wenn das individuelle Unbehagen zu einer allgemeinen Denkfigur wird. Wenn schlechte Laune die Fundamente der Demokratie untergräbt. Wenn die Angst des Einzelnen zur Maxime für alle wird.
Gemessen an ihren Intentionen ist es für die Autoren des “unsichtbaren Komitees” natürlich vernichtend, mit einem Precht in Verbindung gebracht zu werden, oder ohne viel Federlesens selbst als “bürgerlich” klassifiziert zu werden. Und das ist gar nicht mal so verkehrt, auch wenn sich das die Militanten aller Zeiten seit jeher um die Ohren gehauen haben, um sich gegenseitig zu beleidigen und diskreditieren. Dabei scheint der apokalyptische, zu Gewalt und Chaos aufrufende Tenor des Pamphlets für den Spiegel-Autor seltsamerweise völlig unerheblich, eine quantité negligable zu sein. Ist das die übliche Wurschtigkeit gegenüber linker Militanz, oder hat es damit zu tun, daß man die Aufrufe zu Anarchie, Straßenkampf und Banlieue-Revolte in der Tat schwerlich ernstnehmen kann?
Beim Lesen habe ich mich nämlich oft gefragt, ob das Ganze nicht in erster Linie eine literarische Fiktion ist. Nachdem man als Inspiratoren nun schon Deleuze, Agamben, Debord, Heidegger, Schmitt, Mao, Palahniuk, Godard, Jünger zu identifizieren glaubte, möchte ich noch ein paar weitere hinzufügen: die Pose des nihilistischen Zerstörers zielt im Grunde genau darauf ab, Reaktionen wie die von Glenn Beck (“Das Böseste, was ich je gelesen habe”) zu provozieren. Es ist die “satanische” Tradition eines Baudelaire, Lautréamont und Jean Genet, an die hier wohl ziemlich bewußt angeknüpft wird. Man will eben bewußt “böse” und verletzend sein, der Gesellschaft genau den Satan geben, den sie haben will. An Genet erinnern besonders Passagen, die das “Apachentum”, Straßenbanden, Arbeitsscheue, kriminelles Gelichter und ähnliches glorifizieren. Jeder davon ist Sand im Getriebe des Systems, jeder eine nützliche Made mehr, die den hinfälligen Kadaver der Zivilisation zersetzt. Was fällt soll man stossen, hurrah! Und diese Abwracker sind, so stellt sich der Autor das vor, glücklich in ihrer gerechtfertigten Bösartigkeit:
Diese Banden, die der Arbeit entfliehen, sich nach
ihrem Stadtteil benennen und gegen die Polizei kämpfen, sind der Albtraum des guten Bürgers, individualisiert à la française: Sie verkörpern all das, worauf er verzichtet hat, all die mögliche Freude, die zu erreichen ihm nie möglich sein wird.
Na schön, ich war nie in den Banlieues. Ich habe nur darüber gelesen und Filme gesehen , die als authentisch gefeiert werden wie La Haine oder das Video “Stress” von Justice. Ich habe darin nun wirklich alles andere als freudige, glückliche Barbaren gesehen, auf deren Leben irgendjemand insgeheim neidisch sein müßte, schon gar nicht Diezens mythischer “Bürger am Kamin beim schweren Rotwein”. Im Gegenteil ist es so, daß eher die aus allen Ecken der Welt in die Vorstädte gestrandeten, entwurzelten Lumpenproletarier die bürgerliche Welt um ihren Wohlstand beneiden, bis hin zum offenen Sozialhaß; sie sind wie Tyler Durden in erster Linie deswegen so wütend auf diese Welt, weil sie von ihr ausgeschlossen sind; sie wollen kaputtschlagen, was sie nicht bekommen können.
Schon Pier Paolo Pasolini mußte sich in den Sechziger Jahren von der romantischen Idee verabschieden, seine geliebten, wilden, kriminellen “ragazzi di vita”, seine arbeitsscheuen Accattones und Nutten aus den Borgate wären in der Lage, eine vitale Gegenkultur zur “bürgerlichen” Welt und zur Konsumgesellschaft zu stellen. Diese Jungen, von ihm Nacht für Nacht sexuell ausgebeutet, träumten in Wirklichkeit inbrünstig davon, rasch zu “verbürgerlichen” und in den Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft zu schwelgen. Es war auch diese, und nicht der historische Faschismus, den Pasolini in seinem letzten kontroversen Film Salò oder Die 120 Tage von Sodom (1975) anprangerte; darin sind nun die “ragazzi” zu Kollaborateuren und Milizen der faschistischen Herren geworden.
Man kann nun getrost Gift drauf nehmen, daß die frustrierte, unintegrierte, aggressive, weitgehend kriminelle und chancenlose Jugend, die aus den afrikanischen und muslimischen Einwanderermassen in Frankreich hervorwächst, und deren ethnische Bruchlinien und Solidaritäten von dem Pamphlet irrwitzigerweise verleugnet werden, ihre (Zitat) “Freudenfeuer” der Verwüstung garantiert nicht entfacht, um die kapitalistische Gesellschaft abzuschaffen und an ihre Stelle fröhliche Kommunen zu setzen. Sie brauchen auch bestimmt keine langen, klugen Abhandlungen über den “psychischen Ausverkauf der Seelenreservate an die Unerbittlichkeit des Marktes” oder die “Atomisierung” und Reduzierung des Ichs in einen Reebok-Slogan für Nomaden und Monaden, um Autos und Schulen anzuzünden. Das ist alles viel elementarer, viel einfacher, viel primitiver. Da können noch soviele strohdumme Rapperinnen mit schlechtgelaunten, wichtigtuerischen Fressen Szenarios von Massenaufständen, Wut- und Gewaltmobs als humanistischen Befreiungsschlag verkaufen.
Am Ende läuft es ja doch auf immer auf dasselbe hinaus: wir wollen alles haben, die Arbeit sollen aber die anderen tun. Denn irgendjemand muß ja die Güter im Supermarkt auch erzeugen, die dann von den ultrakühnen, widerständigen Anarchisten und vom “unsichtbaren Komitee” geplündert und verfuttert werden. Wenn dann am Ende die Staatsgewalt zurückgewichen und entmachtet ist, wird die Rechnung präsentiert: in Form einer viel grausameren, unbarmherzigeren und “sozialdarwinistischeren” Herrschaft, nämlich der Mafia und des organisierten Verbrechens. Wer es nicht glaubt, kann ja gern die Lage in den Favelas von Rio und in den von der Camorra regierten Vorstädten von Neapel studieren. Das ist nun wirklich eine Welt voller auswegloser, deprimierender Scheiße, regiert von einem “Wolfskapitalismus” in Reinform, in der auch noch der letzte frustrierte und wutentbrannte “Anarchist” seiner “bürgerlichen Konsumgesellschaft” nachheulen wird.
Wie bereits in diesem Blog referiert, hielt man den Kommenden Aufstand in der taz und Jungle World unter anderem deswegen für “rechts”, weil er einige zutreffende Beobachtungen über die Entwurzelung und Entortung des Individuums enthält. Das ist aber keine Einsicht, die per se “links” oder “rechts” wäre, das ist ist eine Zustandsbeschreibung, deren Kenntnisnahme nur noch von jenen verweigert wird, die ein schlechtes Gewissen haben, und denen keine Ausrede mehr einfällt.
In Wirklichkeit ist das Pamphlet nicht die Bohne “rechts”. Wenn ich nun, als nehme ich mal an genuin Rechter, die Probe aufs Exempel mache, dann möchte ich bei der Lektüre des Pamphlets keine Bomben legen, Kaufhäuser plündern und TGVs entgleisen lassen, sondern ich finde mich schlagartig, wie bei den 1. Mai-Demos in Kreuzberg, auf der Seite der Polizei wieder, wie weiland Pasolini in seinem berüchtigten Gedicht wider die Studenten von 1968 (“furchtsam, unsicher, verzweifelt, aber ihr wißt auch, wie man arrogant, erpresserisch und sicher ist”), wenn auch aus anderen Gründen. (Genauso wie ich dann natürlich auf der Seite “des guten Bürgers” bin.)
Die Linke wird niemals aus der Geschichte lernen; ihre Irrtümer und Illusionen werden in endloser Folge wieder und wiedergeboren. Ihre Apokalypsen, Umstürze, Revolutionen haben niemals zur Freiheit geführt, sondern immer nur, um es mit Armin Mohler zu sagen, entweder der Mafia oder dem Gulagstaat oder beiden zusammen den Weg geebnet. Beide stehen in einem oft übersehenen Wechselverhältnis: die Anarchisierung der Gesellschaft bedeutet nichts anderes als ihre Aufspaltung in einander bekämpfende Wolfsrudel; der Staat, der das in den Griff kriegen will, müßte heute zum brutalen totalitären Repressionsapparat verkommen, zum nach Nietzsche “kältesten aller Ungeheuer”.
Mehr noch als an der “kapitalistischen” Verwertbarkeit ihres Widerstandes und dessen “bürgerlicher” Kompatibiliät (gemeint ist wohl ihre seltsame Kongruenz mit linksliberalen Werten), ist es an diesem Punkt, wo die Linke viel tiefer in dem “System” (noch so ein Unwort), das sie angeblich bekämpfen will, drinnensteckt und mit ihm kollaboriert, als sie es wahrhaben will. Vielleicht wirkt darin auch der eigenartige Sinn von Humor, den die Geschichte mitunter hat.
Wer kann aber nun ein wahrer “Sezessionist” und “Widerständler” sein, und wie? Kann es denn überhaupt soetwas wie eine radikale “Entstrickung” geben? Diese Frage werde ich in der nächsten Folge dieser Serie anhand von Ernst Jüngers “Waldgang” diskutieren.
À suivre.